Österreich: Die Zeit der Gemütlichkeit ist vorbei
Drei Monate nach der Wahl hat die Alpenrepublik noch immer keine neue RegierungVon
ALFRED v. ARNETH
Am 3. Oktober hat mit der Parlamentswahl in Österreich ein neues Zeitalter begonnen.
Das mehr als 50 Jahre dominierende System der Zwei-Parteien-Herrschaft ist zumindest im
Parlament zu Ende gegangen. Die Sozialdemokraten (SPÖ) erreichten einen historischen
Tiefstand in der Wählergunst; die bürgerliche Volkspartei (ÖVP) fiel wenn auch
nur um wenige hundert Stimmen hinter die FPÖ Jörg Haiders auf Platz drei zurück.
Drei Monate nach der Wahl hat Österreich noch immer keine neue Regierung. Dieser
Umstand könnte dazu führen, daß der Begriff "italienische Verhältnisse" als
Synonym für Instabilität und Handlungsunfähigkeit durch den Terminus
"österreichische Verhältnisse" abgelöst wird. Der große Unterschied zu
Italien besteht jedoch einerseits in der Größe des Landes und zweitens darin, daß die
Paralyse des politischen Systems in Österreich nicht auf die Vielzahl von Kleinparteien,
sondern auf die Selbstfesselung der früheren Großparteien SPÖ und ÖVP sowie auf die
ideologische Starrheit der SPÖ zurückzuführen ist.
Für diese beiden Thesen gibt es nicht nur historische Gründe, sondern auch
ausreichend Beispiele in Vergangenheit und Gegenwart. Nachdem Österreich in weniger als
dreißig Jahren (19181945) zwei Bürgerkriege, ein autoritäres System und das
Dritte Reich erlebt hatte, fanden sich SPÖ und ÖVP als Geburtshelfer eines Staates
wieder, dessen Existenz neuerlich von den Siegermächten beschlossen worden war. Unter dem
"Galgen" der Besatzer zur Zusammenarbeit regelrecht verdammt, beschlossen beide
Parteien die politische Aufteilung des Landes und ketteten sich durch das Instrument der
Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament aneinander. Nie mehr sollte die eine Partei
Grundsatzentscheidungen ohne die andere treffen können. Diese Politik des
"Vier-Augen-Prinzips" öffnete einem immer skurriler werdenden Mißbrauch der
Verfassung durch Verfassungsbestimmungen Tür und Tor, die sogar dazu führte, daß die
Wiener Taxifahrerverordnung und Teile des Berggesetzes nach dem Grubenunglück von Lassing
im Verfassungsrang stehen. Dies führte nicht nur dazu, daß die Kompetenz des
Verfassungsgerichtshofes ausgehöhlt wurde, sondern auch zur Selbstfesselung des
politischen Systems, die nunmehr auch ihre Erfinder trifft, nachdem SPÖ und ÖVP im
Parlament nicht mehr über eine Zwei-Drittel-Mehrheit verfügen. Sollte es zur
Wiederauflage von "Rot-Schwarz" kommen, werden sich FPÖ und/oder Grüne ihre
Zustimmung zu entsprechenden Novellen (etwa den Schulgesetzen) teuer abkaufen lassen und
gleichzeitig den Oppositionsbonus genießen. Weiter ausgehöhlt wurde und wird das
Wechselspiel zwischen Opposition und Regierung durch die sogenannte Sozialpartnerschaft,
den umfassenden Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, der nicht nur
den sozialen Frieden bewahrt, sondern auch einen permanenten Nährboden für Filz, Proporz
und Kungeleien bildet. Angesichts dieses politischen Systems, das noch durch eine
umfassende Dominanz der ÖVP auf Länder- und Gemeindeebene gekennzeichnet war, mußte
selbst die Alleinregierung unter Bruno Kreisky bis zu einem gewissen Umfang ein
Mitregieren der ÖVP akzeptieren. Andererseits führte diese stille Teilhaberschaft an der
Regierung wiederum dazu, daß die ÖVP nie wirklich in der Lage war, eine effiziente
Oppositionspolitik zu betreiben; in allzu vielen Fragen mußte die Volkspartei auf
"staatstragende" Einzelinteressen und Gruppenegoismen Rücksicht nehmen.
Diese Selbstfesselung wurde noch durch ein System des Nepotismus verstärkt, das
Funktionären der mittleren Parteihierarchie Pfründe in diversen Organisationen wie etwa
den Sozialversicherungsanstalten und anderen Institutionen sicherte. Diese Funktionäre
und ihre Institutionen bilden nun das wahre Rückgrat des "ancien régime", das
nur am Status quo interessiert ist und die Reformunfähigkeit des politischen Systems
beinahe schon garantiert. Wie soll etwa die überdimensionale Bürokratie reformiert
werden, wenn die Beamtengewerkschaft zu den parteitragenden Säulen der staatstragenden
ÖVP gehört? Zwei Beispiele aus der roten Reichshälfte: 130 Milliarden Schilling
verschlang die Sanierung der verstaatlichten Industrie, einst eine Domäne der SPÖ, ehe
Jörg Haider die Arbeiterschaft für seine Partei eroberte. Die mangelnde
Konkurrenzfähigkeit der Bahn im Schienengüterverkehr ist in Österreich nicht zuletzt
auf die Macht der roten Eisenbahnergewerkschaft zurückzuführen; ihre wichtigste Aufgabe
bestand im Absichern der Privilegien der Eisenbahner, die im Gegenzug SPÖ wählten. Für
eine zukunftsorientierte Verkehrspolitik etwa einem umfassenden Ausbau der Schiene
Richtung Osten fehlen auch zehn Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhanges
politischer Wille und Geld. Zu den österreichischen Besonderheiten zählt darüber hinaus
die weitgehend fehlende Konkurrenz regionaler Eliten. Während in Deutschland mit Berlin
(Hauptstadt), München und Stuttgart (Wirtschaft), Frankfurt (Banken), Hamburg (Medien)
und künftig wahrscheinlich auch Dresden regionale Eliten existieren, ist in Österreich
nicht zuletzt wegen der Kleinheit des Landes und der Bevölkerungsverteilung alles auf
Ostösterreich konzentriert. So haben die westlichen Bundesländer Vorarlberg, Tirol und
Salzburg zusammen gerade so viele Einwohner wie Wien oder Niederösterreich. Ab einer
gewissen sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Position kennt jeder jeden und ist
auch weitgehend mit jedem "verhabert", ein wienerischer Ausdruck, der umfassende
Kungelei beschreibt. Außerdem hat sich Österreich bis heute nicht vom intellektuellen
Aderlaß erholt, den Ständestaat, Krieg und Drittes Reich bewirkt haben. Hinzu kommt,
daß in den 54 Jahren der Zweiten Republik 39 Jahre lang eine große Koalition regierte,
deren Herrschaft dem katholischen Motto "Extra eglesiae nulla salus" (außerhalb
der Kirche gibt es kein Heil) folgte. Welche geistige Elite soll sich in einem Umfeld
bilden können, in dem Kunst und Medien ebenfalls von zwei Parteikirchen dominiert werden?
Verschärft wird diese Gesamtlage durch die Mythologisierung der Neutralität und die vor
allem von der SPÖ betriebene Stigmatisierung der Nato. So hat der beachtliche
Antiamerikanismus vor allem in der Wiener SPÖ dazu geführt, daß Österreich seine
Beitrittschance im Zuge der ersten Runde der Nato-Osterweiterung nicht nutzen konnte.
Dieser Umstand sowie die zweifelhafte Strategie im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung
haben dazu geführt, daß Österreich in Mittel-Osteuropa zunehmend an Einfluß verliert.
Hinzu kommt die mangelhafte Koordinierung der EU-Politik zwischen den beiden
Regierungsparteien, die dazu führt, daß Österreich in Brüssel nur in eingeschränktem
Maß ernst genommen wird. Angesichts der steigenden Bedeutung der Sicherheits- und
Verteidigungspolitik in der EU wird Österreich in den kommenden vier Jahren um einen
Offenbarungseid nicht herumkommen, wobei die Alternative Neutralität oder
Marginalisierung in Europa lauten wird. Massive Einschnitte und Reformen werden auch bei
Budget und Bürokratie notwendig sein. Bereits jetzt zählt Österreich im Euro-Raum zu
den Schlußlichtern bei der Budgetkonsolidierung sowie bei der Einhaltung der Kriterien
für den Stabilitätspakt. Doch die Parteien haben die Bevölkerung im Wahlkampf nicht auf
diese schmerzlichen Einschnitte vorbereitet die neue Regierung wird somit vor einer
Sisyphus-Aufgabe stehen.
Wien sei eine "Versuchsstation des Weltuntergangs"", hatte einst Karl
Kraus geschrieben. Hätte er in der Gegenwart gelebt, hätte er sicher die Kärntner SPÖ
dazu gezählt. Obwohl die Genossen in Österreichs südlichstem Bundesland Wahl um Wahl an
Jörg Haider bis hin zum Landeshauptmann (Ministerpräsident) verloren, ist die Partei
derart in Diadochenkämpfe verstrickt, daß eine Reformierbarkeit kaum möglich erscheint.
Wie hätte denn die Sowjetunion reformiert werden sollen, wie soll Österreich reformiert
werden, wenn schon eine Organisation mit nur einigen Tausenden Mitgliedern de facto
unreformierbar und damit eine Bestätigung für Goethes "Faust" ist, in dem es
heißt, daß von "allen Teufelsfesten der Parteihaß" doch am besten wirke. Der
Fall Kärnten ist auch noch in anderer Hinsicht beispielhaft für die Lage in Österreich.
Denn die Kräfteverhältnisse in der Bundesrepublik gleichen jenen in Kärnten von vor
vier Jahren. Damals blieb die SPÖ nach den Wahlen noch knapp stimmenstärkste Partei, die
FPÖ war zweite Kraft; fortgesetzt wurde damals die Koalition zwischen SPÖ und ÖVP,
wobei die Volkspartei, obwohl nur drittstärkste Partei, den Ministerpräsidenten stellte.
Das Ergebnis waren vier Jahre Stagnation, ein weiterer wirtschaftlicher Rückfall
Kärntens und schließlich der überwältigende Wahlsieg der FPÖ und Haiders Rückkehr in
das Amt des Landeshauptmannes.
Auf Bundesebene existiert in Österreich derzeit ein labiles politisches Gleichgewicht;
die Kräfte der Beharrung, vor allem die SPÖ sowie Teile der ÖVP, sind geschwächt, die
FPÖ ist jedoch noch nicht stark genug, um das politische System auch strukturell
tiefgreifend verändern zu können. Dies zeigt sich wiederum am besten am Beispiel der
Zwei-Drittel-Mehrheit. Eine allfällige Koalition von FPÖ und ÖVP brauchte für eine
derartige Mehrheit stets die Zustimmung der SPÖ, die in dieser Hinsicht noch über eine
Sperrminorität im Parlament verfügt. SPÖ und ÖVP könnten in einer gemeinsamen
Regierung eine Zwei-Drittel-Mehrheit dagegen bereits mit Unterstützung der Grünen
erreichen.
Die entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung wird der ÖVP zufallen. Sie steht vor
einem ungeheuren strategischen Dilemma. Setzt sie die Koalition mit der SPÖ ohne
umfassende Reformen fort, ist es sehr wahrscheinlich, daß sie bei der nächsten Wahl noch
weiter hinter die FPÖ zurückfallen wird. Somit dürfte nunmehr die letzte Chance für
diese Partei bestehen, mit Hilfe der Freiheitlichen den Bundeskanzler zu stellen. Eine
Zusammenarbeit mit der FPÖ ist jedoch ebenfalls nicht unproblematisch. Zu nennen sind die
Imageprobleme der Freiheitlichen im Ausland, der Widerstand des Bundespräsidenten, vor
allem aber der Umstand, daß Jörg Haider als Landeshauptmann in Kärnten bliebe und damit
einen gewissen Unsicherheitsfaktor bilden würde (oder wird). Denn auf Bundesebene gibt es
in der FPÖ keinen Politiker, der gegen Haiders Widerstand unpopuläre Maßnahmen
innerparteilich durchsetzen könnte.
Aber auch die FPÖ steht vor einer schwierigen Entscheidung. Aus taktischer Sicht sind
eine Regierungsbeteiligung und die damit verbundene Ablösung der SPÖ zweifellos
äußerst reizvoll. Aus strategischer Sicht wäre es für die FPÖ jedoch zweifellos
besser, mit einem Eintritt in die Regierung bis nach der nächsten Wahl, vor allem jedoch
bis nach der in einem Jahr bevorstehenden Wiener Gemeinderatswahl, zu warten. Die große
Unbekannte bildet in diesem Zusammenhang die SPÖ. Wie würden die Sozialdemokraten den
Abschied von der Macht nach dreißig Jahren Kanzlerschaft verkraften? Würde es zu
massiven Nachfolgekämpfen und Richtungsstreitigkeiten oder zu einer raschen Regeneration
in der Opposition kommen? Angesichts des massiven "Reformstaus" und des
"Kurzzeitgedächtnisses" der Wählerschaft ist jedenfalls die Wahrscheinlichkeit
sehr groß, daß die kommende Regierung ohne rasches und entschlossenes Handeln die
nächste Wahl verlieren wird. Das Zeitalter der Gemütlichkeit ist in Österreich
jedenfalls vorbei.