24.04.2024

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05.02.00 Die Wärme des Bernsteins

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 05. Februar 2000


Die Wärme des Bernsteins
Von RENATE DOPATKA

Sie hatten den Kontakt nie abreißen lassen. In schöner Regelmäßigkeit waren Briefe zwischen Kanada und Deutschland hin- und hergegangen; alle wichtigen Ereignisse in ihrem Leben hatten sie einander mitgeteilt, und doch waren Fragen offengeblieben, auf die zumindest Charlotte nun endlich Antwort zu erhalten hoffte.

Aufgeregt spähte sie durchs Küchenfenster auf die Straße. Nur noch Minuten trennten sie vom Wiedersehen mit ihrer besten Freundin. Nach mehr als fünfzig Jahren wagte Johanna nämlich zum zweiten Mal den Sprung über den "großen Teich". Nachdem ihr Mann sich aus dem Geschäftsleben zurückgezogen hatte, planten die beiden eine große Europareise, zu der natürlich auch ein Besuch bei der ehemaligen Schulfreundin gehörte.

Charlotte sah diesem Treffen mit sehr gemischten Gefühlen entgegen. Würde sich das alte Band so ohne weiteres erneuern und festigen lassen? Obwohl Johanna ihr Fotos von sich geschickt hatte, besaß die Frau, die ihr da entegegenblickte, doch so wenig Ähnlichkeit mit dem blondbezopften Mädchen von damals, daß Charlotte das Bild einer völlig Fremden in Händen zu halten glaubte. Es waren nicht die Spuren des Alters, die jede Ähnlichkeit verwischten – so gesehen wirkte Johannas Gesicht mit den rosig gepuderten Wangen und kunstvoll nachgezogenen Brauen geradezu alterslos –, sondern die seltsame Ausdruckslosigkeit in ihren Augen, die Charlotte nachdenklich stimmte.

Nun, wenn Johanna ihr erst gegenübersaß, würde sich bestimmt sehr schnell die alte Vertrautheit einstellen. Schließlich war ein Foto nur ein Foto, das dem Menschen nie zur Gänze gerecht werden konnte …

Als sie eine halbe Stunde später dann wirklich zu dritt bei Kaffee und Kuchen saßen und deutsch-englisches Stimmengewirr das Zimmer erfüllte, schienen alle Zweifel ausgeräumt. Mit ausgebreiteten Armen war Johanna durch den Vorgarten auf sie zugeeilt – eine attraktive, zierliche Gestalt in pinkfarbenem Kostum, deren Alter man eher auf Mitte Fünfzig denn Ende Sechzig geschätzt hätte. Modisch-extravaganter Goldschmuck vollendete den Eindruck jugendlicher Eleganz. Es hagelte Küßchen, auch von seiten Henrys, den Charlotte ob seiner erfrischenden Natürlichkeit sofort ins Herz schloß. Des Deutschen nur wenig mächtig, beschränkte er sich meist aufs Zuhören, vergaß aber auch nicht, den selbstgebackenen Kuchen seiner Gastgeberin und die idyllische Lage des kleinen Reihenhauses zu loben: "Very nice, indeed!"

Irgendwann im Laufe des Abends beschlich Charlotte jedoch ein eigenartiges Gefühl der Leere. So lebhaft die Unterhaltung auch war, sie drehte sich ausschließlich ums Hier und Heute, die Vergangenheit blieb außen vor. Wer Johanna reden hörte, der konnte glauben, ihr Leben habe erst mit der Auswanderung begonnen. Kindheit und Schulzeit, all das, was im Dasein zweier junger Mädchen eine Rolle gespielt hatte, schien Johanna aus ihrem Gedächtnis gestrichen zuhaben. Auf die berühmte Zauberformel, auf dieses Herz und Seele erwärmende "Weißt du noch?" wartete Charlotte vergeblich.

Schließlich wagte sie den Vorstoß, brachte die Namen früherer Mitschüler und Lehrer ins Spiel und erinnerte an das versunke Land ihrer Kindheit – an leuchtend helle Sommertage, an den stillen, hohen Himmel, zu dem sie im Grase liegend hinaufgeträumt hatten und dessen unermeßliche Weite Charlotte in dieser Eindrücklichkeit später nirgendwo wiedergefunden hatte.

"Je älter ich werde, desto öfter denke ich daran …"

"Oh, dear!" Johanna riß erstaunt die Augen auf. "Wird dir das nicht langweilig, so in der Vergangenheit zu leben?"

"Langweilig?" wiederholte Charlotte betroffen.

"Ja natürlich! Ich finde es schrecklich, ständig Erinnerungen heraufzubeschwören, so als ob man schon furchtbar alt wäre und gar keine Zukunft mehr hätte! Weißt du, honey einige von uns, die jetzt auch schon vierzig, fünfzig Jahre drüben leben, die können sich auch nicht von den alten Zeiten trennen. Immer wieder fangen sie davon an, und ich habe alle Mühe, mein Gähnen zu verbergen! Für Sentimentalitäten kann ich mich absolut nicht erwärmen …!"

Sentimentalitäten … Verwirrt griff Charlotte nach ihrer Kette, hielt sich an ihr fest, wie sie es immer tat, wenn der Boden unter ihren Füßen plötzlich nicht mehr sicher schien.

Ihre hastige Bewegung hatte Johannas Aufmerksamkeit erregt. Interessiert betrachtete sie die in hellem Gelb leuchtende Bernsteinkette.

"Ein Souvenir –?"

Charlotte stricht zärtlich über die glatten, warmen Steine. "Rudolf hat sie mir geschenkt, als unsere erste Tochter zur Welt kam."

"Sehr hübsch, aber der Wert ist doch mehr ein ideeller, nicht wahr? Wenn wir ein Kind gehabt hätten – ich bin sicher, Henry hätte es in Gold aufwiegen lassen!"

"Für mich ist es Gold", lächelte Charlotte, und ihre Augen ruhten nachdenklich auf dem allzu glatten, spurenlosen Gesicht der Freundin. "Hast du denn vergessen, wie man Bernstein bei uns nannte? – Das samländische Gold …"

"Ja, ja, das sind so heimatliche Sprüche. Indem man eine Sache romantisch verklärt, glaubt man ihren Wert zu steigern. Aber das ist barer Unsinn. Was zählt, ist der Marktwert."

Jäh verspürte Charlotte tiefes Mitleid mit dem Mädchen von einst, das der Erde, der es entstammte, nichts mehr abgewinnen konnte, das den besonderen Zauber einer von stiller Melancholie geprägten Landschaft nicht als solchen empfand. Ein Mädchen, das mit den Augen, nicht aber mit der Seele wahrnahm …

Erinnerungen wärmten. Doch Johanna würde, wenn das Alter, das sie so fürchtete, irgendwann auch zu ihr kam und das Leben plötzlich ereignislos geworden war, statt einer Fülle beseligender Erinnerungen nur Leere vorfinden.

Fröstelnd schaute Charlotte in diese blassen, ausdruckslosen Augen. Und fester als sonst umschlossen ihre Finder das Ostseegold …