26.04.2024

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05.02.00 Flucht 1945:

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 05. Februar 2000


Flucht 1945:
Ein Wimpernschlag nur entschied über Leben und Tod
Wie ich als Sechsjähriger den Untergang Ostpreußens erlebte (Teil II)
Von Alfred Nehrenheim

Spät am Abend waren wir dann am Tagesziel: die Strandhalle von Narmeln. Hier sollte sich ein Teil unseres Familienschicksals in negativer Form erfüllen. Dieses kleine Gebäude, für die anstürmenden Menschenmassen nicht erdacht, war nicht nur überfüllt. Niemand konnte umfallen, denn die Nachbarn drückten ihn unweigerlich nach oben. Eingekeilt in der Menschentraube vor dem Häuschen versuchte meine Mutter nun doch – auch im Freien, denn die nebenstehenden Menschen schützten durch ihre Körper vor der Unbill des Wetters – unseren Kleinen "trockenzulegen".

In diesem Moment erbrach der kleine Wurm die vor einigen Stunden getrunkene Grießsuppe und wurde plötzlich ganz weiß im Gesichtchen. Zwei Mädchen aus Angerburg, die wir gerade im Moment getroffen hatten – es waren Töch- ter der Familie Schwantke –, halfen unter Schreien, Schieben, Betteln und Schimpfen den Wagen ins Innere der Strandhalle zu bugsieren. Dieses Durcheinander machte einen Wehrmachtsarzt aufmerksam, der sich im Inneren der Halle aufhielt.

Er kam heraus, packte sich – ohne ein Wort – das kleine Menschenbündel aus dem Kinderwagen und verschwand mit ihm in einer zur Krankenstation umgerüsteten Stube. So gut und so schnell es ging, folgte meine Mutter mit mir an der Hand diesem Arzt ins Krankenzimmer. In meinen damaligen Vorstellungen hat der "Onkel Doktor" meinen kleinen Bruder andauernd gepiesackt. Heute weiß ich, daß er mit allen ihm damals zur Verfügung stehenden Mitteln versucht hat, das Leben des kleinen Erdenbürgers, der noch nie vorher seinen Vater gesehen oder erfühlt hatte, zu retten. Ein Fliegeralarm unterbrach seine Tätigkeit. Das Licht ging aus, und es herrschte Totenstille in dem Raum. Nachdem das Ratata abgeklungen war, wurde die Türe aufgerissen, und viele Verwundete kamen herein und verlangten sofortige Pflege.

In dieser Nacht habe ich sehr viel Blut gesehen und in meiner Kinderwirklichkeit niemals daran gedacht, daß dieses nur der Anfang von dem war, was ich noch sehen mußte. Nach einer kurzen Zeit, in der der Schlaf mich in eine bessere Welt entführte, wachte ich auf, als ich meine Mutter weinen hörte.

Sie weinte nicht laut und herzzerbrechend, nein, es war mehr so ein stilles Weinen. Aber gerade dieses stille Weinen hat mich geweckt. Gleichzeitig sah ich, wie der Mann in der Arztuniform wieder mit meinem Bruder "böse" war und ihn sogar mit einer Nadel stach. Nach einer für mich endlosen Zeit – ich hoffte immer wieder, daß mein Bruder doch vor Schmerzen schreien müßte – wurden die Bewegungen des Arztes immer langsamer. Er putzte noch einmal das kleine Mündchen sauber und wickelte das Häuflein Mensch in die nassen Windeln ein. Dann legte er meinen Bruder wieder zurück in den zwischenzeitlich von den Schwantkeschwestern hereingebrachten Kinderwagen und streichelte über sein Gesicht. Nie werde ich vergessen, wie er dann zu meiner Mutter sagte: "Er hat es überstanden, er ist zu seinem Vater gegangen. Vielleicht hat er es leichter als wir."

Am Morgen, als es hell war, fuhren wir mit dem Kinderwagen aus der Halle und wickelten unseren kleinen Toten in seine letzte Habe – sein Oberbettchen – und wollten ihn am Waldrand hinter dem Kurhaus begraben. Aber die Mutter Erde wollte ihn so nicht. Steinhart war der Boden und widersetzte sich allen unseren Anstrengungen. In unserem Eifer merkten wir nicht, daß plötzlich mehrere Frauen neben uns standen, alle mit einem leblosen Bündel Mensch auf dem Arm und hilflos auf unsere Arbeit schauend. Auch bei diesen Müttern Ostpreußens hatte der Tod dafür gesorgt, daß den kleinen Erdenbürgern ein oftmals grausiges Schicksal erspart blieb und sie im Beisein einer höheren Macht auf das Leiden ihrer Mütter und Väter herabschauen konnten.

Eine in der Nähe stehende Gruppe junger Soldaten löste sich auf, und einige kamen auf uns zu. "Können wir helfen?" fragte einer. Er sah aus wie mein Onkel Willi aus Großgarten. "Ich glaube, hier müssen wir Gewalt anwenden", sagte er. Eilig ging er einige Schritte weiter auf den Waldrand zu und erklärte uns, wir sollten hinter der Hausecke Deckung nehmen. Ohrenbetäubend war es für mich an diesem Morgen, an dem das Kriegsgeheul noch nicht erklungen war, als die Handgranate explodierte und ein großes Loch in den Boden riß. Gemeinsam mit den anderen Müttern, die auch Abschied nahmen von ihren Kindern, legten wir unseren kleinen Bruder in den Schoß der Erde. Die mit altem Schnee durchtränkte Erde hat ihn hoffentlich auf seiner letzten Ruhestätte noch einmal richtig gewärmt.

Wir jedoch mußten weiterziehen. Wer kann sich den Schmerz einer Mutter vorstellen, die ein Stück ihres Ichs einfach so liegenlassen mußte. Ohne großen Abschied. Mit der Gewißheit, nie wieder hierher zu kommen, um eine Blume zur Erinnerung auf die Stelle zu pflanzen, die erst eine Erfindung des Bösen in die Lage versetzte, diese letzte Gruft zu schaffen. Nun hatten wir nichts mehr. Nur noch uns beide. Mutter und Sohn auf der Flucht. Den Kinderwagen haben wir einer jungen Frau geschenkt, die in dieser für uns so traurigen Nacht einen neuen Menschen in die damals so leidvolle Welt gesetzt hatte. Vielleicht hatten diese beiden ein wenig mehr Glück.

Unsere Füße trugen uns weiter gen Stutthof.

Heute weiß ich, daß dieser kleine Ort auf der Nehrung für viele unserer Landsleute in Ostpreußen in leidvoller Erinnerung bleiben wird. Denn hier herrschte das Grauen schon vor der großen Flucht. Viele mußten dort schon sterben, bevor die mörderische Dampfwalze aus dem Osten all das vernichtete, was in Jahrhunderten von fleißigen Menschen aufgebaut wurde. Damals gab es nur ein Ziel: Weiter gen Westen! – Warum machte der Iwan nicht das Loch bei Danzig zu? Er war doch bereits in Elbing!?

Es mußte etwas für uns Unbegreifliches geben, denn trotz aller Leiden und Grausamkeiten gab es immer wieder Ereignisse, die die Menschen nicht herbeiführen oder beeinflussen konnten. Nicht überlegen, nur weiter, immer weiter nach Westen.

Gesprochen wurde nicht viel zwischen Mutter und Sohn. Der ewige Hunger und die Sorge um den großen Bruder – mit diesen Dingen beschäftigte sich der Verstand. Der Mund blieb – auch bedingt durch die Kälte und die Schmerzen im Fuß – verschlossen.

Qutsch – schlorr – qutsch – schlorr – wie viele Schritte waren es noch? Wo war das Ziel? Das teilweise einsetzende Tauwetter gab die Schrittgeschwindigkeit vor, denn die Straßen und Wege waren durch den Treck und die Militärfahrzeuge in eine Mondlandschaft verwandelt worden. Nachts konnten wir am Himmel den roten Schein über Danzig erkennen. Was erwartete uns dort? Waren unsere Verwandten noch zu Hause? Waren sie nicht auch schon aus Furcht vor der angekündigten Vergeltung nach dem Westen ausgewichen?

Gleichsam eingebrannt hat sich auch auf diesem Abschnitt des Weges ein Erlebnis mit einigen – zu der Zeit noch in eigenem Haus wohnenden – Mitmenschen.

Der Begriff "Einquartierung" war damals mehr als gebräuchlich. Jeden Abend versuchten wir, in irgendeine Unterkunft einziehen zu können. Ansprüche gab es keine, nur ein Dach mußte die Unterkunft haben. An einem Abend – es muß um den 15. Februar 1945 gewesen sein – sollten wir unsere Nacht in einem herrschaftlichen Haus in der Nähe von Schiewenhorst verbringen. Die Freude war groß, denn dieses ergab die Aussicht auf irgendeine warme Suppe, einen neuen Verband, einen eventuell warmen Schlafplatz und, und und.

Die erwartete warme Suppe bestand aus Schnee – diesen durften wir uns am offenen Feuer draußen auftauen, mit etwas eigenem Zucker süßen und dann aus dem heißen Kochgeschirr schlürfen. Der Schlafplatz war das Fußende eines riesengroßen Doppelbettes. Wir teilten diesen Platz mit mehreren Müttern und kleinen Kinder. Das riesige Bett mit all seinen Federbetten blieb den beiden Eigentümern vorbehalten. Die nassen Binden an meinem Fuß wurden abgewickelt und nach dem Auswringen wieder umgebunden, damit der Fußboden nicht verunreinigt wurde. Unsere Körper, die vor Kälte zitterten, haben durch die Übertragung der Schwingungen auf die Schlafstatt der noch nicht Betroffenen in dieser Nacht für sie ein Schlaflied gesungen. Unsere Wut und Abscheu waren groß, aber nur bis zu jenem Augenblick des anderen Morgen, als wir kurz vor unserem Aufbruch gen Danzig aus dem von uns verlassenen Schlafgemach einen zweifachen lauten Knall vernahmen.

Zwei Menschen hatten in der vergangenen Nacht Abschied genommen von all dem, was sie sich erarbeitet und geschaffen hatten. Der Lebensinhalt war zerstört, was hatte da das Leben noch für einen Sinn? Wer kann in die Seele eines Menschen blicken?

– Danzig ruft. –

Möglichkeiten der Flucht mit Schiffen über die Ostsee sollten vorhanden sein. Nur schnell weiter, bevor der Iwan auch an der Ostsee ist. Bohnsack – das war der Anlaufpunkt für uns. Dort sollten die Verwandten wohnen. Frauen mit Kleinkindern mußten jedoch weiter. Die Rettung über die See wurde in Aussicht gestellt. Am 17. Februar 1945 erreichten wir Danzig.

An einer der damals eingerichteten Meldestellen erfuhr meine Mutter von der Anwesenheit einiger Verwandter aus Insterburg hier in Danzig. Die Freude war groß, jedoch das Herz meiner Mutter höher schlagen ließ der Hinweis einer jungen Frau auf der Meldestelle: Was, Sie suchen Ihren Sohn? Ist das so ein Blonder mit großen, braunen Augen, der perfekt holländisch (!?) spricht? Den haben die Feldjäger mit nach Hela genommen, dort soll in Heisternest ein Lager für Flakhelfer eingerichtet sein.

Mit der nächsten Möglichkeit einer Zugfahrt zur Putziger Nehrung war meine Mutter auf Spurensuche nach Heisternest. Der dortige Vorgesetzte ließ sich auf keine Einwände ein, die das Alter meines Bruders betrafen. Auch persönliche Umstände ließen ihn völlig kalt, so daß diese Zwischenreise als schmerzliche Erinnerung den Topf der Traurigkeit weiter auffüllte.

Zurück in Danzig ließ meine Mutter aber nicht locker, bis sie zum Stadtkommandanten vorgelassen wurde. Die Vorlage unseres Familienbuches brachte dann die Erlösung: Eine halbe Stunde – im Leben sonst ein Wimpernschlag – entschied über das weitere Leben (oder Nichtleben) meines großen Bruders. Geboren am 1. Januar 1930 um 0.30 Uhr. Nach einem barschen Telefonat mit der Dienststelle in Heisternest konnte meine Mutter mit der Zusage der sofortigen Entlassung wieder "nach Hause" gehen. Mitten in der Nacht erschien der verhinderte Held dann in der Ruine, die als unsere derzeitige Adresse angegeben war.

"Wo ist der Bernd?" Das waren seine ersten Worte, als er uns ohne den kleinen Erdenmenschen erblickte. Die vielen Fragen wühlten alles wieder auf. Die Nacht in erster Linie – und sogar noch einige Tage danach – waren nicht nur tränenreich.

Nicht noch einmal eine Trennung. Also schnellstens weiter gen Westen. Auf die Schiffe wollten wir uns nicht verlassen, da immer mehr verwundete Soldaten eintrafen, die selbstverständlich mit zuerst eingeschifft wurden. Am 1. März schlurften wir dann wieder los. Qutsch – schlorr – qutsch – schlorr.