18.04.2024

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12.02.00 Flucht 1945:

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 12. Februar 2000


Flucht 1945:
"Mein Gott, das sind ja Russen!"
Wie ich als Sechsjähriger den Untergang Ostpreußens erlebte (Teil III)
Von Alfred Nehrenheim

Frisch verwickelt und verarztet ging es weiter über Zoppot, Gdingen, Rheda, Neustadt, Lauenburg, Karlshöhe nach Stolp. Einige Strecken mit dem Zug, einige Strecken mit Treckwagen, einige Strecken mit Soldatenfahrzeugen, aber die bittersten Abschnitte wie immer zu Fuß. Trotzdem ging es schnell voran, denn wir waren bereits am 4. März abends in Stolp. Sollten wir Quartier suchen oder gleich wieder weitermarschieren? Die Mundpropaganda erzählte davon, daß der Russe Danzig umgangen hätte und bereits an der Ostsee stehe. Die Mundpropaganda erzählte jedoch auch, daß noch ein wahrscheinlich letzter Zug Richtung Stettin abfahren sollte. Eingesetzt würde er aber auf freier Strecke – hinter Stolp – Richtung Schlawe. Wir entschieden uns für den Zug. Am 6. März trotteten wir los und erreichten den Zug auch am anderen Tag auf offener Strecke in der Nähe von Zitzewitz.

Hier nun sollte sich der schlimmste Abschnitt unserer Flucht gen Westen auftun. Es war der 7. März 1945. Der Zug füllte sich immer mehr, und es wurde teilweise sehr eng in den Güterwagen. Viele Mütter und Kinder, viele alte Männer und ältere Frauen, aber auch viele, damals junge Mädchen. (Für mich nach Aussehen und Kleidung aber auch schon alt.)

Warum fuhr der Zug nur nicht? Die Lok stand unter Dampf. Aha, jetzt geht’s los! Aber nur ein paar Meter, dann stand wieder alles still. So ging es Stunde um Stunde, die ganze Nacht. Gegen Morgen, durch die Ritzen des Güterwagens schimmerte es schon dunstig, fuhr plötzlich auf dem Nebengleis ein anderer Zug vorbei. Frauen und Männer, die durch die Ritzen schauten, erzählten von einem mit Geschützen und Panzern bestückten offenen Wagenzug. Einige Personen aus unserem Zug sollen sogar übergesprungen sein, um mitfahren zu können. Danach Stille. Eine Stille, die man körperlich spüren konnte. Selbst die Menschen, die neben mir hockten, standen oder lagen, hörte man nicht mehr. Nur Stille! "Kleine braune Gestalten laufen da draußen herum", sagte ein Mann, der direkt an der Schiebetür stand. "Mein Gott, das sind ja Russen!" Dann ging es los: Kugeln schlugen in die dicken Bohlen der Waggons. Eine Kugel verfing sich im Kinderwagengestell eines Kindes neben mir. Die Kugel fiel anschließend unten aus dem Rohr heraus vor mein Gesicht. Alles lag auf dem Boden. Meine Mutter mit ausgebreiteten Armen über uns.

Urrääh, urääh.

Das waren die ersten russischen Worte – oder besser Laute –, die ich in meinem jungen Leben hörte. Die Schiebetüren wurden aufgerissen, und die braunen Gestalten sprangen herein. Alle wurden sofort aus dem Zug hinausgetrieben und mußten vor der jeweiligen Tür stehenbleiben. Alle Männer ohne Kopfbedeckung sortierte ein Russe aus und ließ sie nach vorne treten. Auch der Mann aus unserem Wagen war dabei, dessen letzte Worte waren: "Mein Gott, das sind ja Russen!" Aus kürzester Entfernung wurden diesen Männern die Köpfe weggeschossen. Die weiße Substanz, die zuvor noch in der Lage war, zärtliche Worte zu formen und Mitgefühl für den Mitmenschen auszudrücken, diese weiße Substanz bespritzte unsere Gesichter und unsere Kleidung. Die ersten Toten: Mein kleiner Geist konnte noch nicht begreifen, was hier geschah. Heute könnte ich einen Steckbrief der Männergesichter anfertigen.

Die Selektion ging weiter.

Alte Männer nach links, die Böschung runter in die dort unten stehenden Scheunen. Frauen mit ihren Kindern rechts raus. Junge Frauen und Mädchen zurück in die Wagen. Ältere Frauen vor dem Wagen aufstellen. Aus den Scheunen drangen Schüsse herauf. Die Wagen erzitterten unter den Bewegungen der gierigen braunen Gestalten. Die Schreie waren fürchterlich. Manche hilfeversuchende Mutter wurde brutal mit dem Gewehrkolben zusammengeschlagen. Die Personen, die nach einiger Zeit aus den Wagen fielen, waren nicht mehr die jungen Frauen oder Mädchen, es waren ausgemergelte, grün und blau geschlagene, mit zerrissenen Lumpen bekleidete, seelenlose Fleischklumpen. Die Rache des Siegers. Heute spricht man von den Befreiern. Dawei! Mit etwa dreißig anderen Frauen und Kindern ging es dann die Böschung hinunter, an den Scheunen mit den Vätern und Männern vorbei – was war dort drinnen geschehen? – zur ehemaligen Reichsstraße 2 und dann Richtung Stolp.

Die begleitenden russischen Wachsoldaten waren bald so volltrunken, daß sie am Straßenrand stehenblieben oder auf nachfolgende Fahrzeuge aufzuspringen versuchten. Einige Male schlug der Versuch fehl, und der gerade noch so schnapsselige Sieger kroch hinter den Panzerketten als zwei Zentimeter dicker brauner Straßenbelag von immenser Breite hervor.

Grauenvoll!

Stoj! Urri, Urri!

Beim ersten Mal hatte meine Mutter ja noch eine Uhr, aber die Aufforderung erging alle paar Minuten. Die Wut schlug dann oft in menschliche Begierde um: Frau komm!!!

Ich hielt mich aus Verzweiflung an meiner Mutter fest, aber das tat der Lust des Siegers keinen Abbruch. Meinen Bruder scheuchte man weg oder hielt ihn so lange fest, bis daß die hochlöbliche Tat vollbracht. Ich habe die Freuden der Befreier nicht mehr gezählt, aber die Finger meiner Hände reichten dazu nicht aus – und wir waren noch nicht in Stolp. Warum viele der teilweise mongolischen Soldaten mir die Pistole auf die Handfläche gehalten haben und irgend etwas sagten, ohne (Gott sei Dank) zu handeln, weiß ich bis heute nicht. Die letzten Kilometer ging es dann ohne militärische Begleitung weiter. Immer in Deckung und immer sprungbereit. Sobald ein Fahrzeug auftauchte, tauchten wir ab in die Gräben. Den verborgenen Posten entlang der Straße konnten wir jedoch nicht ausweichen. Dann hieß es wieder: stoj, Urri, Frau komm! Eine lange Nacht. Eine Nacht ohne Vergessen!? Jedoch mit Vergebung? Am 10. März 1945 erreichten wir Stolp oder besser das, was einmal Stolp war. Die Leichen auf den Straßen, in den Fensterhöhlen hängend, von Schutt halb verschüttet, von Panzern zu knopfbesetzten Straßenbelägen verunstaltet, das war der erste Eindruck von Stolp. Dem halbverschütteten Mann in den Trümmern hat man in den nächsten Tagen etwas freigelegt und ihm die Stiefel ausgezogen. Was sollte er auch mit diesem Komfort? Die alte Frau, die auf der Bank an einem Sandkasten saß und in ihrer starren, ausgestreckten Hand ein Zwirnsternchen hielt, sie lag später abgestürzt von der Bank mit leeren Händen da. Den Arm wie anklagend gegen den Himmel gerichtet. Wer war sie? Welch ein Schicksal hat sich hier erfüllt, oder unter welchen Umständen hat es geendet?

Es gibt nur ein Nachschlagewerk, in dem wir alle Daten abfragen könnten. Wenn sich dann unsere Bestimmung erfüllt hat und auch wir eine Eintragung erfahren haben, dann sind wir vielleicht in der Lage nachzuforschen, wie es sich damals zugetraten hat.

Aber wollen wir das wirklich noch?

Eisenbahnschwellen, russische Verwundete, Polen mit ihren Wybert-Tabletten (Mützenform), süßer Brandgeruch, Kohlsuppe. Das sind die Dinge, mit denen ich heute noch meine Erinnerungen an Stolp verknüpfe. Es kamen aber auch einige Ereignisse dazu, die heute für nicht wahrscheinlich gehalten werden. Das Leben "normalisierte" sich. Meine Mutter bekam einen Ausweis, wir eine Wohnung in der Augustastraße (nahe am Bahnhof). Meine Mutter mußte Schienen verladen, später im Krankenhaus helfen. Ich verbrühte mir den Mund und den Hals mit kochendheißer Brühe aus der Thermoskanne. Die Todesurkunde für meinen kleinen Bruder wurde ausgestellt. Also auch jetzt noch Ordnung!

Wir spielten in Ruinen. Mein großer Bruder war unser Anführer. Da war doch in einem verschütteten Keller so eine große Türe mit einem riesigen Rad zum Kurbeln. Nach zwei Tagen intensiver Bemühungen meines Bruders ging die große Türe auf. Heute weiß ich, daß wir damals eine große Chance unseres Lebens verpaßt haben. Geldscheine und Münzen aus aller Welt lagen fein aufgestapelt in Regalen. Wir nahmen nur von jeder Reichsmarksorte ein Exemplar als Andenken mit. Schade. Mit den anderen Währungen spielten wir Fußball. Wer dachte damals an eine neue Ordnung? Zumal als Kind oder Jugendlicher? Heute befindet sich wieder eine (polnische) Bank in jenem Gebäude – auch der Tresor ist noch vorhanden. – Nur der Öffnungsmechanismus soll heute etwas "kindersicherer" sein.

Dann war es zu Ende. Es änderte sich für uns nichts, aber der Krieg war beendet. "Am 8. Mai hat die deutsche Wehrmacht kapituliert", so hieß es überall. Von den russischen Soldaten sah man in der nächsten Zeit nur einige Offiziere aufrecht gehen. Die Soldaten mit den eckigen Mützen und die (vor allen Dingen) so grell geschminkten Frauen mit der Aussprache, die niemand verstand, diese Menschen wurden plötzlich für alle Deutschen sehr gefährlich. Gut war es damals, immer einen Russen in der Nähe zu wissen. Das war eine kleine Sicherheit gegen Übergriffe. Mundpropaganda.

Schon wieder liefen die Drähte heiß.

Alle Flüchtlinge aus Ostpreußen müssen wieder zurück in ihre Heimat. Das fehlte uns noch. Da waren wir unter so vielen Strapazen bis Stolp gekommen und sollten nun wieder zurück in eine noch ungewissere Zukunft (Vergangenheit). Wir hatten doch Verwandte in Oberhausen, im Ruhrgebiet. Als die Städte an der Ruhr und am Rhein unter dem Bombenhagel zu leiden hatten, kamen sie oft nach Ostpreußen, weil dort ja noch tiefster Frieden herrschte. Also schnell weg, bevor aus der Propaganda Wirklichkeit wurde.

Am 1. Juni 1945 traten wir wieder an. Ohne Abmeldung – das war seinerzeit ein schweres Verbrechen – ging es wieder einmal westwärts. Das nächste Ziel war Stettin. Wieder zurück über den Ort unserer ersten Russenbegegnung. Erinnerungen werden wach und stehen sofort wieder vor dem noch nicht ganz trockenen Auge. Die Zeit war zu kurz. Der körperliche Schmerz war nicht einmal verheilt.

Weiter, schnell weiter. Nur nicht wieder einfangen lassen. Unsere jetzige Adresse bei Kontrollen war seit Stolp nur noch Oberhausen, wo wir vor Ende des Krieges angeblich gewohnt haben. Köslin, Belgard, Schivelbein, Labes, Freienwalde, Altdamm, dann die natürliche Grenze, die Oder. Was nun?