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19.02.00 Frühgeschichte:"So groß aber ist die Treue ..."

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 19. Februar 2000


Frühgeschichte:"So groß aber ist die Treue ..."
Der Archäologe Klaus Goldmannüber Lebensformen unserer Ahnen

Mit dem Zusammenbruch von 1945 ist nicht nur für den Großteil der Neueren Geschichte eine immer noch andauernde Umwertung der nationalen Perspektive vorgenommen worden, sondern auch die Früh-und Urgeschichte verfiel nahezu gänzlich dem Bannfluch. Selbst skandinavische Wissenschaftler entschuldigen sich für sogenannte "Untaten" der Wikinger. Dabei beherrschte noch in der Zeit des Natioalsozialismus die eher "germanophil" ausgerichtete Forschung weithin das Vorurteil, daß wirkliche Zivilisation nur innerhalb des römischen Limes bestanden habe. Dr. Klaus Goldmann, Jahrgang 1936, Oberkustos des Museums für Vor- und Frühgeschichte in Berlin, sieht bei dem vergleichenden Blick zurück keinen Anlaß zu Zerknirschung und Scham. Vielmehr hält er es für unerläßlich, daß wir nur aus der Kenntnis der eigenen Geschichte, auch der frühen, Kraft für die Gestaltung der Zukunft finden können. Mit dem Wissenschaftler sprach Peter Fischer.

Herr Dr. Goldmann, die Wiege der Menschheit scheint, je nach dem neuesten Stand der Zeitungsmeldungen, entweder in Afrika oder in Asien gestanden zu haben. Wo stand unsere?

Die Frage nach der Wiege der Menschheit ist eine der schwierigsten des Faches und ist wohl auch eher von Anthropologen als von Archäologen zu beantworten. Es gibt viel zu wenige Funde von Skelettresten, die aus dieser sicher mehrere Millionen Jahre zurückliegenden Epoche der "Menschwerdung" stammen. Solche Funde können grundsätzlich nur in Aufschlüssen geborgen werden, deren geologische Schichten ein entsprechendes Alter haben. Der erste Mensch ist sicher nicht allein dadurch zu definieren, daß er ein bearbeitetes Gerät als Waffe oder Werkzeug nutzte, sondern durch Merkmale, die sich fast alle der archäologischen Interpretation entziehen, also etwa durch die Sprache, den aufrechten Gang und – vielleicht – den Gebrauch des Feuers. Betrachten wir die Weltregionen, aus denen bisher sehr frühe Formen des Menschen und auch zeitlich sehr weit zurückweichende archäologische Zeugnisse menschlicher Tätigkeit gefunden wurden, so kommen als Wiege der Menschheit wohl tatsächlich nur die zusammenhängenden Kontinente Europa, Asien und Afrika in Frage.

Was wissen wir gesichert über die germanisch-nordischen Ausbreitungswellen der Frühzeit?

Auch beim Versuch der Antwort auf diese Frage sind eher benachbarte Wissenschaften zuständig, als die Archäologie. Sicher belegt ist die nach Süden gerichtete Ausbreitung nord- und mitteleuropäischer Volksstämme erst durch schriftliche Quellen ab der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends, archäologische Belege dazu sind sehr schwer zu interpretieren. Als sehr wahrscheinlich ist als eine ältere Ausbreitungswelle aus dem gleichen Ursprungsgebiet die sogenannte Seevölkerbewegung um 1200 v. Chr. anzusehen, die den Untergang zahlreicher mediterraner Reiche, nicht zuletzt des mykenischen Hellas und des Staates der Hethiter, zur Folge hatte. Mögliche ältere Ausbreitungswellen wie die der sogennanten Indogermanen sind bisher nur sprachwissenschaftlich erschlossen. Die Bezeichnung "germanisch" wird heute ungern für die Völker im nördlichen Europa verwendet, wenn es um die frühe Eisenzeit, die Bronzezeit und die Jungsteinzeit geht. Allerdings ist gerade in diesem Gebiet archäologisch kein Bevölkerungswechsel bis zu der Zeit erkennbar, in der die Germanen historisch belegt sind.

Wie darf man sich die frühen Lebensformen unserer Vorfahren im Vergleich mit anderen Kulturkreisen vorstellen?

Es ist nicht möglich, die frühen Lebensformen unserer Vorfahren mit denen anderer Kulturkreise zu vergleichen, ohne daß spezifische Zeitspannen für einen Vergleich zugrunde gelegt werden. Sicher wechselten im Laufe der Jahrtausende Herrschaftssysteme und staatliche Organisation in entscheidenden Punkten ihre Struktur, auch die Gesellschaftsordnung insgesamt veränderte sich. Man vergleiche z. B. nur die Entwicklung von Staat und Kirche während der letzten 800 Jahre in Deutschland. Ich gehe beispielsweise nicht nur für die Bronzezeit Alteuropas vom Bestehen eines geordneten Staatensystems aus, das mit Sicherheit auch diplomatische Beziehungen zu benachbarten und weit entfernten Staaten im Süden unterhielt.

Kann man davon ausgehen, daß wir für unsere Frühzeit eine sogenannte Holzkultur annehmen müssen, deren Funde naturgemäß leicht der Verwitterung preisgegeben waren und die deshalb kaum noch nachweisbar ist?

In seiner "Topographia Germaniae" berichtet Merian noch 1652 bei der Beschreibung der Stadt "Naugarden", das ist Nowgorod, "daß sie größer als Rom, aber meistentheils hültzerne Gebäw habe … daß sie die Hauptstatt in Reussen, gantz von Holtz, wie andere Stätte in Reussen auch, gebauet seye: …". Solche Angaben gelten nach allen archäologischen Befunden analog auch für das waldreiche nördliche Alteuropa bis in das Mittelalter hinein. Selbst "Stadtmauern" waren damals zunächst aus Holz errichtet, und die ganze Kunst der Holzbearbeitung zeigt sich nicht nur in den erhaltenen Stabkirchen und den Wikinger-Schiffen, sondern auch in den in Feuchtböden geborgenen Holzgeräten und -gefäßen. Ein gutes Beispiel für solche Holzarchitektur ist Biskupin bei Gnesen, eine Wehrsiedlung der frühen Eisenzeit, die um 730 v. Chr. nur mit Eichen errichtet wurde und später unter Wasser geriet. Wenn es bei uns schon vor 3000 Jahren "hochherrschaftliche" Fachwerk-Schlösse gab, können selbst in günstigem Fall leider nur die Unterlagen aus Feldsteinen gefunden werden, auf denen einst die Schwellbalken lagen.

Gehörten zu dieser Ära der Holzkultur auch die Buchenstäbe, die Runen? Wie alt sind sie und läßt sich nur ihr kultischer Gebrauch nachweisen oder dienten sie auch der Übermittlung von Botschaften?

Es scheint mir eine nicht nachvollziehbare Feststellung zu sein, wenn das lesbare Runenalphabet häufig nur als kultische Schrift – dann aber doch dem Latein des Mittelalters ähnlich? – gedeutet wird. Natürlich diente es auch der Übermittlung von profanen Daten. Für mich ist eine weitere Frage, welche Schriften von unseren Vorfahren neben den Runen genutzt wurden, ob die Kaufleute in Vineta, Haithabu oder Birka das griechische, lateinische oder kyrillische Alphabet benutzten oder auch (für mich sicherlich!) auf arabisch korrespondierten? Schreiben konnten sie, weshalb finden wir sonst Schreibgriffel in den wendischen Siedlungen? Und wer schreiben kann, kann ebenso lesen. Weshalb wurde die Wulfia-Bibel ins Gotische übersetzt, wenn die Goten schriftlos waren? Das Alter der Runen reicht zeitlich weit zurück, und die Ähnlichkeit mit dem etruskischen Alphabet scheint mir nicht zufällig zu bestehen. Hier ist aber sicher noch viel Forschungsarbeit zu leisten.

Die Zunft der Vor- und Frühgeschichtler gilt hierzulande als zumindest politisch bedenklich, weshalb vermutlich auch Ihre deutschen Kollegen am ehesten in fernen Ländern und Kontinenten zu finden sind. Woran liegt das?

Die "Zunft" der Prähistoriker ist mit ihren Forschungsthemen keinesfalls vorwiegend ins Ausland emigriert, sie befaßt sich aber leider zu häufig nicht mit historischen Fragestellungen zur Geschichte des Vaterlandes. Zu oft scheint es als "Forschungsaufgabe" auszureichen, daß die siebenhundertzweiunddreißigste Siedlung einer Epoche durch einige Scherben im Landkreis Posemuckel-Süd für unzählige D-Mark "ausgewertet und vollständig dokumentiert" wird. Der Hintergrund für diese unhistorische Betrachtungsweise kann aber durchaus aus unserer Geschichte des gerade vergangenen Jahrhunderts erklärt werden: Zu stark wurden bis 1945 die Tugenden der Germanen, wie sie schon der Römer Tacitus als vorbildlich beschrieben hatte, hervorgehoben und ein einseitiges, aber meiner Meinung nach dennoch primitives Bild unserer Vorfahren gezeichnet. Selbst im "Dritten Reich" beherrschte noch ein jahrhundertealtes Vorurteil sogar die damals durchaus "germanophile" Wissenschaft, wonach echte Zivilisation – verbunden mit Steinbau, Wasserbau und Zentralheizung – nur innerhalb des römischen Limes bestanden hat. Außerhalb lebten eben Barbaren, die nur vom Süden lernen konnten und deren Intelligenzquotient dem eines Bibers unterlegen war, der ja Staudämme bauen konnte, was man hier erst im 12. Jahrhundert gelernt habe.

Verhält es sich so, daß dasjenige Volk, das die größtmögliche nachweisbare Rückbindung aufweist, zugleich auch mit dem massivsten politisch-kulturellen Anspruch in der Gegenwart und für die Zukunft auftritt?

Eigentlich ist die Antwort für mich ein eindeutiges "Ja". Es scheint aber, daß aus von mir nicht nachvollziehbaren Gründen die alteuropäische Völkergemeinschaft, soweit sie im nördlichen Mitteleuropa beheimatet ist, ein ihr zustehendes Selbstbewußtsein, das wegen der Bedeutung ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrer Zivilisation entstehen mußte, verloren hat. Bis heute "entschuldigen" sich selbst skandinavische Wissenschaftlier zuweilen für sogenannte "Untaten" der Wikinger, ihrer eigenen Vorfahren. Dies ist ähnlich dem Verhalten der deutschen Bevölkerung, die, obwohl vielfach selbst Nachfahren der Wandalen, sich über die Medien fast täglich mit einem Begriff des "Vandalismus" besudeln läßt, einem Schimpfwort, das erstmals als politische Propaganda im heutigen Sinne im Jahre 1739 durch die Französische Akademie eingeführt wurde und keinerlei historische Begründung hat.

Welche Bedeutung hat eigentlich das "Wissen, wie es war" sowohl für Ihre Disziplin als auch für mögliche kulturpolitische Folgerungen?

"Das Wissen, wie es war" zu rekonstruieren, ist nicht nur das Ziel der Archäologie, sondern jeder historischen Disziplin. Während die Historiker ihre Kenntnisse vorwiegend der Auswertung schriftlicher Quellen verdanken, sind die Archäologen mehr auf die Deutung der materiellen Hinterlassenschaft der frühen Bevölkerung angewiesen. Es ist eher die Quantität der jeweiligen Quellen, die bestimmt, ob ein Fach mehr "archäologisch" oder "historisch" arbeiten muß. Eindeutig ist, daß die Geschichte der Epochen der Menschheit, in der die Schrift noch nicht bekannt war, ausschließlich mit archäologischen Methoden geschrieben werden kann. Geschichte, das Wissen, woher wir kommen, und "wie es war" ist bei allen Völkern in allen Regionen der Welt, bewußt oder unbewußt, immer die Grundlage aller politischen, nicht nur kulturpolitischer Entscheidungen. Die aufgeschriebene, damit auch für alle öffentlich zugängliche und diskutierbare Geschichte ist eine Voraussetzung für jede demokratische Willensbildung. Für bestimmte Entscheidungen ist geschichtliches Wissen unverzichtbar, um die Tragweite von Beschlüssen beurteilen zu können.

Inwieweit lassen sich die Erfahrungen, die Lebensformen und die Beharrlichkeit der Lebensgewohnheiten unserer Ahnen noch in der Gegenwart feststellen?

Auch dies ist nur bedingt eine Frage, die der Archäologe beantworten kann, eher jedoch eine Frage an die Lebenserfahrung jedes einzelnen oder – fachlich – an die Volkskunde. Letztlich ist es die Frage nach der Bedeutung von Traditionen. Jeder wird heute noch in den verschiedenen Ländern der Bundesrepublik Deutschland unterschiedliche Verhaltensweisen der dort beheimateten Stämme, seien es Schwaben, Bayern, Sachen oder Preußen, erkennen, die natürlich auch auf deren unterschiedliche geschichtliche Erfahrungen zurückgehen. Diese Zusammenhänge völlig aufzudröseln, wird der Geschichtswissenschaft niemals möglich sein, diese kann nur Annäherungen liefern. Noch schwieriger wird dies dann, wenn Traditionen durch Vertreibungen oder freiwilliges Verlassen einer alten Heimat "gebrochen" werden, aber als oft "unbewußtes Wissen" in die neue Heimat mitgenommen werden. Sie leben aber weiter, selbst in den Kindern und deren Nachkommen, auch auf anderen Kontinenten.

Welche Schlußfolgerungen könnte man aus dem eventuellen Fortbestehen überlieferter Lebensgewohnheiten für die Zukunft ziehen?

Ich bin der festen Überzeugung, daß wir nur aus der Geschichte des eigenen Volkes die Kraft finden können, die Zukunft zu meistern. Das gilt für die "guten" und die "schlechten" Taten und Erfahrungen unserer Ahnen. Ich möchte mit einem Zitat aus Herbords "Leben des Otto von Bamberg", des Pommernapostels, abschließen, der im 12. Jahrhundert über die früheren Heiden schreibt: "So groß aber ist die Treue und Gemeinschaft unter ihnen, daß sie Diebstahl und Betrug gar nicht kennen und Kisten und Behälter nicht verschlossen haben. Denn ein Schloß oder einen Schlüssel haben wir dort nicht gesehen, sie selbst aber wunderten sich sehr, als sie unsere Packsättel und Koffer verschlossen sahen. Ihre Kleider, ihr Geld und alle ihre Kostbarkeiten verwahren sie in einfach zugedeckten Kufen und Fässern, keinen Betrug fürchtend, weil sie ihn eben nicht kennen. Und was wunderbar zu sagen ist, ihr Tisch wird niemals abgedeckt, steht niemals ohne Speise, sondern jeder Familienvater hat sein Haus für sich, sauber und anständig, nur zur Speisung bestimmt. Da wird der Tisch von allem Eß- und Trinkbaren niemals leer, sondern wenn das eine weggenommen wird, wird das andere aufgesetzt; keine Maus, kein Mausefänger wird zugelassen, sondern mit einem reinen Tuch werden die Speisen zugedeckt und warten der Esser. Zu welcher Zeit es nun jemand belieben mag, sich zu stärken, mag es ein Fremder oder ein Hausgenosse sein, so findet er eingelassen auf dem Tische alles bereit." Ist dies nicht eine Vision aus der Vergangenheit für die Zukunft?