19.04.2024

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25.03.00 Erzählungen

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 25. März 2000


Erzählungen

 

Eine Brille für Möbius
Von Heinz Kurt Kays

Studienrat Karl Wilhelm Möbius war Zeit seines Lebens noch nie weiter als bis nach Königsberg und auf die Kurische Nehrung gekommen. Und auch das nur während seiner Universitätszeit an der Albertina sowie bei gelegentlichen Ferienreisen. Jedoch das genügte ihm vollauf, denn dafür kannte er seine masurische Heimat wie die eigene Westentasche. "Was soll ich", pflegte er zu sagen, "viel herumfahren in der Welt? Hier habe ich sozusagen alles bei der Hand, was es anderwärts zu sehen gibt, Wälder und Seen, Moore und Heide, Felder und Wiesen, Flüsse und Deiche." Den Einwand, daß in seiner Aufzählung die Berge fehlten, tat er leichthin ab. "Was heißt Berge? Mir genügen unsere paar Hügelchen. Der Mensch soll nicht unbescheiden sein."

Solche Reden führte Studienrat Möbius aber nur dann, wenn wieder einmal die Sprache auf die unbestreitbare Tatsache kam, daß er neben Deutsch ausgerechnet noch Geographie zu lehren hatte. Er hatte es übri-gens nicht schwer, diese Frager endgültig abzuspeisen. "Habt ihr denn nicht genug gelernt bei mir, trotz meiner angeblich nicht vorhandenen Praxis?" Niemand konnte ihm da widersprechen. Und sie waren alle bei Karl Wilhelm Möbius in die Schule gegangen, denn er unterrichtete damals schon weit über dreißig Jahre am Gymnasium von Hohenstein, das den Namen des Nobelpreisträgers Emil von Behring trug. Der berühmte Arzt und Entdecker des Thyphus-Serums war hier nämlich zur Schule gegangen. Und er, wie alle anderen auch, hatten alles bei Studienrat Möbius gelernt, was sie an erdkundlichen Kenntnissen für ihr späteres Leben brauchten und meist noch eine Menge mehr.

Denn so selten Studienrat Möbius auch reiste, um so mehr las er. Die Wände seiner Wohnung dienten, schien es, lediglich als Stütze für die übervollen Bücherregale. Und man fand hier genauso die Beschreibung der urweltlichen Dschungel am Amazonas wie der trockenen Grassteppen in Zentralafrika. Und Bücher über den australischen Busch fehlten ebensowenig wie dicke Wälzer, die über die Eiswüsten der Antarktis berichteten. So kam für Karl Wilhelm Möbius die ganze Welt nach Masuren und im Geist kannte er den Erdball in seiner gesamten Ausdehnung von Nord bis Süd und von Ost bis West.

Doch darf man daraus keineswegs auf eine ungesunde Einseitigkeit in der Bildung des alten Pädagogen schließen. Seine Liebe gehörte zu gleichen Teilen der Geographie wie der deutschen Literatur. Beides war für ihn Steckenpferd und Beruf zugleich und ergab eine selten glückliche und harmonische Mischung. Studienrat Möbius hatte also auch seinen Schiller im Kopf, und den "Faust" von Goethe etwa kannte er auswendig, beide Teile.

Karl Wilhelm Möbius stand kurz vor seiner Pensionierung und er freute sich sehr darauf, obwohl er in seinem Beruf aufgegangen war. Aber nun würde er Zeit haben, all jene Bücher zu lesen, die ihm noch lesenswert dünkten. Jedoch stellte sich diesem Vorhaben ein unerwartetes Hindernis entgegen. Es waren, kurz und bündig gesagt, die Augen. Eines abends stellte der Pädagoge bei der Lektüre der "Königsberger Allgemeinen" nämlich fest, daß die Buchstaben vor seinem Blick zu einem schier unentwirrbaren Durcheinander verschwammen. Nun, das war nicht allzu tragisch zu nehmen. Der brave Studienrat war einfach in jenes Alter gekommen, in dem die Sehkraft aus ganz natürlicher Ursache nachläßt und zum Lesen vor allem eine gute Brille vonnöten ist.

Dieser Erkenntnis konnte sich auch Karl Wilhelm Möbius nicht verschließen und er nahm sie in bemerkenswert guter Haltung hin. Und folgerichtig zog er auch sofort die Konsequenzen daraus, was heißen soll, er wanderte gleich am nächsten Tag unmittelbar nach Schulschluß zu Dr. Rogalla, der erst kürzlich am Marktplatz seine Praxis eröffnet hatte und unter der Hohensteiner Ärzteschaft als Fachmann für Augenkrankheiten gerühmt wurde.

"Was führt Sie zu mir, Herr Studienrat?" fragte der Doktor respektvoll, als er Karl Wilhelm Möbius in sein Behandlungszimmer treten ließ. Denn natürlich war auch der jetzige Mediziner Rogalla einmal von seinem Besucher in Deutsch und Geographie unterrichtet worden und fühlte sich ihm gegenüber noch immer ein wenig als Pennäler. Der Pädagoge seufzte vernehmlich: "Es sind die Augen", klagte er, "das Lesen fällt mir immer schwerer. Ich bin halt mittlerweile ein alter Mann geworden."

"Aber Herr Studienrat", wehrte der Arzt ab, "so dürfen Sie nicht reden. Sie werden sicher hundert Jahre alt, so gesund sehen Sie aus. Und mit den Augen, das ist nicht weiter schlimm. Ich passe Ihnen eine Brille an und schon ist der Schaden auf immer behoben". Ein wenig skeptisch kam die Antwort: "Wir wollen das beste hoffen, mein lieber Rogalla. Ich habe noch so viel zu lesen, und nach meiner Pensionierung werde ich endlich Zeit dazu haben. Also fangen Sie mal an mit der Untersuchung."

"Gut", nickte der Mediziner, "am besten machen wir gleich einen ersten Versuch". Und er wies auf eine Tafel an der Wand, auf der mit riesengroßen Buchstaben ein paar Worte standen. "Können Sie das lesen?" fragte er dann. Studienrat Möbius beugte sich weit vor, blinzelte ein wenig, runzelte vor Anstrengung die Stirn und deklamierte dann mit ab und zu stockender Stimme: "O Glücklich, wer noch hoffen kann."

Der Arzt nickte anerkennend und sichtlich zufrieden. Dann holte er eine zweite Tafel hervor und befestigte sie an der gegenüberliegenden Wand. Auch diese Tafel trug ein paar Worte, aber sie waren mit wesentlich kleineren Buchstaben gedruckt. "Und wie ist es damit?" fragte Dr. Rogalla. Sein Patient nahm den neuen Text nur kurz in Augenschein. Dann las er fließend vor: "Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen."

Der Doktor hätte fast in die Hände geklatscht. "Viel besser, als ich dachte", murmelte er vor sich hin. Dann fügte er ein wenig lauter hinzu: "Jetzt machen wir noch einen dritten Versuch." Dabei griff er nach der nächsten Tafel, deren Buchstaben wesentlich winziger waren. Jedoch auch diese Aufgabe schien keine Schwierigkeiten. Jedenfalls stockte die Stimme von Studienrat Möbius kein einziges Mal, als er las: "Was man nicht weiß, das eben brauchte man."

Diesmal konnte der Arzt sein Erstaunen nicht mehr verbergen. Kopfschüttelnt holte er eine vierte Tafel hervor. Auf der waren die Buchstaben allenfalls noch durch eine Lupe zu entziffern. Was aber geschah? Der Patient blickte nur kurz hin und verkündete mit sicherer Stimme diesen Text: "Und was man weiß, kann man nicht brauchen."

Das brachte Dr. Rogalla nahezu völlig aus der Fassung. "Herr Studienrat", rief er, "wenn Sie eine Brille brauchen, dann sind meine anderen Patienten allesamt blind. Ihre Sehkraft aber ist nahezu phänomenal. Ich habe die letzte Tafel schon hundertmal ausprobiert, aber bisher hat sie niemand richtig lesen können." Der alte Lehrer schüttelte den Kopf: "Ich konnte es ja auch nicht, mein Lieber. Schon bei der ersten Tafel habe ich mich mächtig anstrengen müssen!"

"Das verstehe, wer will", meinte der Arzt ratlos. "Sie haben doch den ganzen Text ohne Fehler und ohne zu Stocken vorgetragen." Das gab sein Patient ohne weiteres zu. "Wissen Sie", meinte er dann, "ich freue mich ja mächtig, daß von meinem Literaturunterricht noch etwas hängen geblieben ist bei Ihnen. Und das Sie dies im Beruf verwenden können, macht mich direkt stolz. Nur" – er machte eine kleine Pause – "nur bei mir geht das nicht. Denn selbstverständlich kann ich dieses Zitat aus Goethes Faust auswendig …"

 

 

Kindheit in Mohrungen
Von HEINZ GLOGAU

Neun Jahre lebte ich in Rosengarten im Kreis Angerburg, neun Jahre in Mohrungen im Schimmerlingweg Nummer vier. Der Schimmerlingweg war eine gepflasterte Straße mit einem Plattenfußweg, die von der Preußisch-Holländer Straße in einem sachten Bogen zum Bahnhof führte. Zu meiner Zeit standen an dieser Straße fünf Wohnhäuser, die Katholische Kirche und eine Garage für Autos der Kreisverwaltung, Stallbauten nicht gerechnet, und das Haus für den katholischen Pfarrer und seine Wirtschafterin. Es duckte sich etwas abseits der Straße hinter einer hohen Tannenhecke.

Das Haus Nummer 4 gehörte der Reichsbahn. Wir durften dort zu viert wohnen, weil mein Vater technischer Reichsbahninspektor – auf Deutsch Bahnmeister – war. Als Mutters Vater noch lebte, bewohnte er – oder genauer gesagt – schlief er in der Dachstube, die zwar etwas schräge Wände, doch einen tadellosen dunkelgrünen Kachelofen hatte. Wir wohnten in der oberen Etage, während ins Parterre immer die Familie eines Lokführers zog.

Etliche Jahre lebte dort Lokomotivführer Johann Bluhm, ein leidenschaftlicher Taubenzüchter und handwerklich begabter Mann, der seine Hälfte des steinernen Stallgebäudes zu einem einzigartigen Taubenschlag ausgebaut hatte. An eines erinnere ich mich noch ganz genau: Gegen Abend setzte er eine Vorrichtung in Gang, die seinen Tauben zwar erlaubte, in den Schlag rein-, jedoch nicht rauszukommen. Des öfteren schnallte er mir einen Transportkäfig mit Jungtauben auf den Gepäckträger meines Fahrrades, und ich fuhr damit in Richtung Bestendorf und ließ die jungen Flieger dann von erhöhten Brücken aufsteigen. Nach einem einmaligen Orientierungsbogen flatterte die Schar geradewegs zum heimatlichen Schlag. Sie waren immer schon daheim, wenn ich mit meinem Fahrrad und dem leeren Transportkasten in den Schimmerlingweg einbog.

Herr Bluhm revanchierte sich, indem er mir beim Bau eines Stalles für meine Angorakaninchen half. Meisterhaft tischlerte er die Türen für die einzelnen Buchten und bespannte sie mit Maschendraht. Er hatte alles Notwendige dafür in seinem Holzschuppen: eine Werkbank mit Schraubstock und einen Schrank darüber, in dem Schraubenzieher, Hämmer, Zangen, Feilen und Stemmeisen in allen Größen hingen.

Unser Wohnhaus daneben war ein Bau aus weißen Ziegelsteinen. Alle Fenster- und die Haustürkanten bestanden allerdings aus roten Ziegelsteinen. Fünf Fenster beider Wohnungen konnte man zur Straße hin öffnen. Eines in der ersten Etage gehörte zu unserer Jungenstube, zwei zum Eßzimmer und zwei zum Herrenzimmer. Etliche Jahre wurde das Eßzimmer – von Muttern "gute Stube" genannt – nur am Heiligen Abend, den Weihnachtsfeiertagen, zu Ostern und Pfingsten genutzt. Mittag und Abendbrot aßen wir zu jener Zeit alle Tage in unserem Knabenzimmer, in dem wir zu Opas Lebzeiten an den frühen Herbst- und Winterabenden am Ofen "Mensch-ärger-dich-nicht" oder Sechsundsechzig spielten. Ein Blick aus dem Fenster zu diesen Jahreszeiten lohnte sich nicht. Die Linden am Straßenrand waren kahl und in der gegenüberliegenden Gartenkolo- nie bewegte sich kaum ein Mensch. Nahte der Frühling, dann regten sich dort unzählige Hände. Sie gruben, harkten und säten. Unseren Fenstern gerade gegenüber hatte Lehrer Weiß eine Laube mit Rasen davor, drei, vier Beete, zwei Apfelbäume, einen Kirschbaum, Himbeer- und Johannisbeersträucher. Herr Weiß war in der 3. und 4. Klasse mein Lehrer gewesen. An seine Rechenstunden erinnere ich mich heute noch lebhaft. Von Klingelzeichen zu Klingelzeichen warf er Rechenaufgaben in den Klassenraum: 3 mal 7; 5 mal 8 oder 49 geteilt durch 7; 56 geteilt durch 8 usw. Jeder von uns, der es raus hatte, verrenkte sich fast den Arm und schnippste mit Daumen und Zeigefinger.

Auch an einige Erdkundestunden erinnere ich mich noch. Lehrer Weiß hängte eine Karte des Kreises Mohrungen an die Wand, und seine einleitenden Worte waren: "Na, wie sieht unser Kreis aus? Ähnelt er nicht einem Schmetterling?" Unsere Stadt fast im Zentrum, Liebstadt rechts etwas höher und Saalfeld links westlich von Mohrungen. Geschmunzelt haben wir fast immer, wenn wir die Namen der Dörfer Paradies, Himmelfort, Abrahamsheide oder Sonnenborn hörten.

Lehrer Weiß konnte aber auch manchmal recht fuchsig werden. Ich erinnere mich noch heute an eine allzulaute Heimatkundestunde, in der er seinen Rohrstock gegen alle schwang, ob Frechdachs, Begriffsstutzige oder Lieblingsschüler. Er schritt wuterhitzt von Bank zu Bank und jeder mußte eine Handfläche hinhalten, in die dann sein Prügelstock sauste …

 

 

Abendfahrt
Von GERTRUD PAPENDICK

O schöne Tage des Lebens damals, als wir die See vor der Tür hatten! Es dauerte gerade nur eine halbe Stunde bis Cranz, wir fuhren mittags oder am frühen Nachmittag hinaus, um zu baden und Kaffee zu trinken, nein, ganz einfach, um dort zu sein, wo am Rand der Welt die Ferne anfing und wo immer das Paradies des Sommers war.

Jedesmal, wenn ich da draußen schwamm, vom Ostseebad ein ganzes Stück hinaus, kam die große Verführung des Wassers über mich, ich mochte nicht aufhören und nicht umkehren. Aber dann sah ich den langgezogenen Küstenbogen mit dem Steg und der Reihe weißer Bauten dahinter, von denen jeder schon gestanden hatte, als ich zweijährig zum ersten Mal jenen langen Bohlenweg gemessen haben mochte. Er stieg an seinem Ende die Stufen hinauf zum Corso, dessen Geländer noch deutlich zu erkennen war.

Wo die letzten Türmchen aufragten, begann der Bogen ins Leere auszulaufen.

Ich sah das alles von weit her und wußte es darum um so gewisser und um so tiefer, daß dieser Strand mit allem, was zu ihm gehörte, meine eigentliche Heimat war, so wie das Wasser, dessen Dünung mich trug.

Heute, da die Entfernung von meinem Ursprung unmeßbar geworden, ist dieses Wissen in mir wie eine Kraft, die niemals vergehen kann …

Wir fuhren abends zurück, wenn die Sonne untergegangen war, um acht oder halb neun, in einem immer vollen Zug, gestählt von Frische und durchglüht von Sonne. So saßen sie alle um uns und neben uns, das Badezeug auf dem Schoß oder oben auf dem Brett, rotgebrannt, müde und glücklich.

Der Zug verließ den kleinen, alten Bahnhof, dann stand schräg hinter den Wiesen das Abendrot. Es war der Abschiedsgruß des schönen, heißen Tages, es blieb dort stehen und leuchtete immer noch, glühend zuerst, dann golden verflammend, ein himmlischer Schein, der uns folgte, während wir durch das abendliche Samland dankbar und ruhevoll stadtwärts fuhren.

Einmal sah ich dort hinten urweltlich, riesenhaft die Silhouette eines Elches wie durch ein Tor in den erhellten Himmel ziehen.

Immer ging solche Abendfahrt wie durch ein Geheimnis. So grün und golden, so weit und still war das Land. Und die Erde redete ihre stumme Sprache, die man nur verstand, wenn man aufhorchte und schwieg.

Unbeweglich standen auf den weiten Wiesen die Kühe im kniehohen Gras, die großen Herdbuchherden, die uns allen gehörten wie ein Besitz der Erde selber. In den Roßgärten weideten die Pferde, und dann und wann setzte ein Fohlen erschrocken vom Drahtzaun davon. Die Störche aber waren noch immer auf Beute aus.

Wer hat sie gezählt, die vielen, vielen Störche auf den Bledauer Wiesen? Ihre Zahl war Legion. Sie waren im Abendschein und vergehenden Licht die dritte grasende Herde auf reichem Gefilde. Es war das untrügliche Zeichen, daß der Sommer zur Rüste ging, wenn eines Tages oder eines Abends um Ende August die Störche plötzlich alle, alle verschwunden waren.

Das Licht erlosch, die Dämmerung fiel ins Land. Die Kornfelder standen blaß, die Wiesen dunkelten. Wir fuhren in die Fritzener Forst ein, und das war der Abschied vom Tage, unerbittlich und unwiderruflich. In Gr. Raum stand der Wald dunkel und schweigend um uns. Wenn wir ihn durchfahren hatten und wieder ins Freie kamen, war aller Glanz der Farben dahin. Der Wald war das Tor der Nacht, nun traten wir in sie ein. Und sehr rasch empfing uns die Stadt mit Unruhe, Getümmel und drängender Heimkehr.

Der schöne Tag lag weit zurück und war fast schon unwirklich geworden.

 

 

Erinnerung an Gertrud Papendick

Vor 110 Jahren wurde Gertrud Pa-pendick am 28. März 1890 in Königsberg geboren. Bereits mit sieben Jahren schrieb sie ihr erstes Gedicht; 1913 wurde ihre erste Kurzgeschichte in der Scherlschen "Woche" veröffentlicht. Es folgten weitere, später auch für die "Königsberger Allgemeine Zeitung". 36 Jahre lang hat Gertrud Papendick im Schuldienst gewirkt, zunächst in Königsberg, von 1947 bis 1951 in Uelzen (als Konrektorin). Immer wieder aber fand sie die Muße und die Kraft zu schreiben. Ihre Kurzgeschichten in Anthologien und Zeitschriften fanden ebenso einen großen Leserkreis wie ihre Bücher: "Die Kanther-Kinder" (Neuauflage 1965 "Konsul Kanther und sein Haus"), "Wo der Birnbaum stand" (1969), "Das war unsere Stadt" (1972), "In jenem fernen Sommer" (1973). 1966 wurde Gertrud Papendick mit dem Ostpreußischen Kulturpreis der Landsmannschaft Ostpreußen ausgezeichnet; 1979 erhielt sie die Königsberger Bürgermedaille.

Am 6. April 1982 starb die Schriftstellerin in Hamburg, wo sie lan- ge Jahre gelebt und gearbeitet hatte. os

 

 

Mien leewstet gespoorntes Hoahnefootke
Von EVA PULTKE-SRADNICK

Franz nannte Anna sein Leberblümchen. Als sie anfangs gefragt hatte warum, hatte er nur gelächelt. So mit den Augen. Er sprach überhaupt wenig von sich und seinem Leben vorher. Dann jedoch, manchmal, wenn sie gar keine Ruhe gab, meinte er nur, daß sie so etwas Wohltuendes an sich habe, wie eben diese Hepatica, diese kleine Blume, die zur Gattung der Hahnenfußgewächse gehörte und die er noch aus seiner Heimat Ostpreußen in so reich vorkommendem Maße in Erinnerung hatte. Denn kaum sei zu Hause der letzte Schnee geschmolzen, da hätten sich bei den ersten Sonnenstrahlen schon die kleinen blaublühenden handhohen Staudenpflanzen ans Licht gewagt. Zuerst waren immer nur die Blüten da, die Blätter kamen später. Die Anemone gehörte übrigens auch in diese Familie der ersten Frühlingsblüher. Anna lächelte mild und ließ sich belehren.

Niemals aber war sie sich einig, ob sie sich mit dieser unscheinbaren Blume vergleichen lassen wollte, andererseits war sie sich ihrer Ausstrahlung voll bewußt. Am liebsten hätte sie es täglich neu erfahren, daß sie die Liebste und die Schönste sei. Aber gerade dann nannte er sie, nur um sie zu reizen, "mien leewstet gespoorntes Hoahnefootke".

Manchmal hatte Franz nachts schwere Träume. Kriegserlebnisse und erlittene Gefangenschaft ließen ihn stöhnen und wie unter Qualen aufschreien. Anna legte dann ihre warme Hand auf seine Brust, streichelte sein Gesicht und sprach beruhigende Worte wie zu einem Kind. Manchmal half es, manchmal wehrte er sich noch verzweifelter.

Heute war Franz viel zu früh aufgewacht. Es sah so aus, als ob es ein schöner Tag werden würde. Er zog sich leise an und bedeutete dem schönen Labrador-Mischling, daß er nicht bellen dürfe. Und so schlichen sie wie Diebe aus dem Haus. Franz zog es, ohne recht zu sagen warum, zu dem Buchenwäldchen mit der alten verfallenen Geschirrhütte.

Franz schritt sehr schnell aus. Er konnte nicht sagen was ihn so beflügelte, was ihn so zog. Aber alles lag an seinem Traum von heute nacht. Dabei war es ein guter Traum gewesen. Er hatte ihn öfter, einmal hatte er ihn sogar erlebt, in der Gefangenschaft, mitten im tiefsten Rußland.

Der Tag war noch kalt. Aber der Himmel hatte so eine andere Helle gehabt, so ein hoffendes Blau, etwas verwaschen, aber so wie ein baldiges Versprechen auf Sonne und Frühling. Sie waren in einer Kolonne unter Bewachung zum Holzroden unterwegs. Im Bauch hatten sie nur eine lauwarme Kohlrübensuppe. Dazu gab es ein Stück Brot.

Franz fühlte sich krank, aber jeder fühlte sich so – und sie waren es sogar. Alles schmerzte, alles war so trostlos und leer. Was hatte das Leben noch für einen Sinn? Und dann blieb Franz wie angewurzelt stehen, nein, das durfte es nicht geben! Erst der Schlag mit dem Gewehrkolben brachte ihn zur Besinnung. Er hielt den Anblick am Waldsaum für eine Halluzination. Unter braunem Laub lugten blaue Blüten hervor, dicht an dicht, fast, daß es wie ein Teppich aussah, genau so, wie er es von zu Hause her in Erinnerung hatte. "Leberblümchen", murmelte er fassungslos, "Leberblümchen". Nie hätte er geahnt, daß ihn der Anblick dieser kleinen Blume so erschüttern könnte, waren sie, die Gefangenen, doch alle abgestumpft von Hunger, Schlägen, Kälte, Schmutz und Hoffnungslosigkeit.

Das Blühen am Waldrand wollte nicht aufhören. Franz konnte seine Augen kaum abwenden. Er stolperte mehrmals, und sein Kamerad, ein älterer Mann, der sich stets wie ein Vater um ihn sorgte, hielt sich näher zu ihm, falls er stürzen sollte, denn fallen durfte man hier nicht. Aber immer glaubte Franz noch zu träumen. Er fühlte sich Tausende von Meilen zurückversetzt. Er sah seine Mutter am Herd, sah sein Dorf, das angrenzende Wäldchen. Er sah seine Schwester und sich in einer Leberblümchenwiese knien. Sie waren erst sechs und sieben Jahre alt, gingen dann Hand in Hand nach Hause, um der Mutter die ersten blauen, so zarten Blüten zu bringen. Greta hatte sie in ihrer kleinen buntbedruckten Spielschürze getragen, denn die Stengelchen waren noch viel zu kurz zum Binden. Die beiden hatten nach so langen Wintermonaten nicht anders können, als sich hineinzuknien und sich dem Blütenzauber hinzugeben. Er hatte damals ein unbändiges aufkommendes Glücksgefühl vom Wachsen und Werden der Erde verspürt.

Und nun, beim Marsch in russischer Gefangenschaft, beim Anblick der ersten Blumen überhaupt, war dieses Empfinden wieder in ihm aufgebrochen. Und genau in diesem Augenblick wußte er, daß er weiterleben wollte, weiterleben mußte, egal was noch auf ihn zukommen würde.

In dieser Nacht war nun der Traum wiedergekommen – und das Glücksgefühl war noch in ihm. Ohne zu zögern hatte er gewußt, wohin er jetzt gehen mußte. Dort hinten bei dem Buchenwäldchen, dort würden sie stehen – und der Zeit nach sollten sie auch schon blühen.

Anna fand heute gar nicht aus ihrem Schlaf, aber sie spürte, daß Franz nicht mehr neben ihr lag. Warum roch es auf einmal so verführerisch nach Kaffee? Franz würde doch nicht etwas, das hatte er doch nie getan? Oder hatte sie etwa Geburtstag, Hochzeitstag, oder war sie womöglich krank?

Bald darauf fand sie es aber nicht nur ungewöhnlich, sondern äußerst originell. Das Tablett, ihr Teller, der Brotkorb, selbst Addi, der Hund, waren mit kleinen blauen Blumen umwunden. Teilweise sogar so reichlich, daß Anna befürchtete, daß sie diese als Morgengabe auch noch verspeisen müßte. Aber all dies war ja für Franz noch viel zu wenig. Am liebsten hätte er die Leberblümchen seiner Anna körbeweise ins Bett geschüttet. Aber nach seiner Vermutung standen sie schon unter Naturschutz. Ob dies in seiner Heimat auch so war?