29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

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01.04.00 Unterhaltung

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 01. April 2000


Unterhaltung

Durst
Von RUTH MARIA WAGNER

Hartes Licht, weißes Licht im
Krankenzimmer.  Elisabeth warf unruhig den Kopf hin und her. Sie öffnete die Augen, blinzelte ins Helle, nahm ein verschwommenes Gesicht wahr, aus dem blaue Augen forschend auf sie niederblickten. Ihr Atem ging schwer, stoßweise. Prüfende, tastende Hand an ihrem Handgelenk. Worte, die sie nicht verstand. Klirren der Instrumente. Zuckender Schmerz. Elisabeth versuchte zu sprechen. Die Flügelhaube der Schwester kam ganz nahe.

DURST

Feuchte Kühle auf Lippen und Zunge. Das Brennen ließ nach. Elisabeth blinzelte, empor, sah seltsam verzerrt Augen von tiefem Blau, versuchte zu danken. Doch die Lippen gehorchten ihr nicht. Schlafen, nur schlafen.

DURST

Buttermilch in der Kammer neben der Küche. Kühl der irdene Becher, kühl die säuerliche Milch mit den winzigen gelben Flöckchen darin, kühl der gescheuerte rote Steinfußboden unter den nackten Füßen.

Das Feld dörrt in der sengenden Glut. Sonne!

Der Bach ist zum Rinnsal geworden. Im Schatten der Weide steht die große Milchkanne mit Gerstenkaffee in dem rieselnden Wasserlauf. Der Kaffee ist sehr hell und stillt unseren Durst. Viel Milch ist darin und Zucker – Muschkebad’ sagte der Ernst, der darauf verleckert ist. Wenn die Lina wegsieht beim Essen in der Küche, streut sich der Ernst den Zucker sogar auf den Spinat; in seiner Kaffeetasse steht der Löffel.

Ach, und die Limonade!

Mit dem schwarzen Buch und der roten Tasche hat Mutter mich ausgeschickt zum Einkaufen. Das ist ein langer Weg, den Bach entlang. Auf der Chaussee kommt man schneller ins Kirchdorf, doch den Fußweg nehme ich lieber.

Dorfstraße im Sonnenglast. Drei Stufen zum Laden, nebenan die Gaststube. Ladentür singt Klingeling, klingeling – ling …

Mit einem Blick umfasse ich die Schätze im Dämmerschein unter der niedrigen Decke. Die Heringstonne, das Gurkenfaß, das kleine gläserne Schränkchen mit Tabak und Zigaretten, die altersschwachen braunen Laden mit Salz und Zucker, mit Reis und Graupen und Soda. An den Deckenbalken baumeln bunte Peitschenschnüre, Angelleinen und Holzpantinen, Klotzkorken genannt, Filzlatschen – Puschen, wie Lina sagt. An der Schmalseite des Raumes liegen in kleinen Fächern Schulhefte und Postkarten und Federhalter, Abziehbilder und Liebsmarken.

Hohe Gläser auf dem Tresen mit Glasbonbons und Lakritze, mit süßen Gummischlangen und Hustenpastillen. Wenn der Petereit mit dem Schäufelchen oder mit der Hand hineinfährt, lösen sich die köstlich-klebrigen Stücke widerwillig voneinander. Sie kleben noch lange an meinen Fingern – schmecken trotzdem wie Manna.

Ich verlange alles, was in dem schwarzen Buch steht. Der Petereit malt jedesmal mit seinem dicken roten Zimmermannsbleistift den Preis dahinter. Dann holt er zwei runde Glasbonbons aus dem Behälter – die schönsten von allen, mit einem winzigen bunten Muster in der Mitte, die man immer wieder aus dem Mund holen muß, um zu prüfen, wie weit das Muster schon abgelutscht ist – und fragt mit freundlich lauernder Stimme: "Soll’s sonst noch was sein, Fräuleinchen?"

Er weiß genau, was jetzt kommt, der alte Fuchs. Ich spüre den Durst in der Kehle, ich spüre das Prickeln auf der Zunge. Aber der Entschluß fällt mir immer so schwer.

"Na, noch bißchen Limmenade, Fräuleinchen", versucht der Petereit das Geschäft voranzutreiben.

Ich nicke nur. Die Erwartung schnürt mir die Kehle zu.

"Was soll’s denn sein?", der Petereit wieder. "Waldmeister? Himbeer? Zitrone? Kirsch?

Rot und gelb und rosa und grün – ach, die grüne ist doch die schönste von allen. Giftgrüner Geschmack, nach Medizin, nach Süßstoff, nach Geheimnis.

Im Keller zu Hause stehen auf den Regalen die Flaschen, in langen Reihen, hintereinander, gefüllt in jenen Tagen, da Küche und Stube süß und unvergeßlich nach Eingemachtem rochen: Himbeersaft und der von Johannisbeeren, rot und schwarz, dicker dunkler Kirschsaft und der hellere aus Hagebutten. Keiner davon, mit Wasser vermischt, schmeckte je so gut wie der künstlich aufbereitete aus den Limonadenflaschen beim alten Petereit.

DURST

Ich habe Durst. Bin so lange gelaufen durch den glühenden Tag.

Ein Kreuz sah ich am Weg.

Wüste. Staub. Sengende Sonnenglut.

Wo ist mein Brunnen geblieben, die Pumpe auf dem Hof, wo die Kammer mit der kühlen Milch?

ICH HABE DURST

"Ich komme ja schon."

Sanfte Stimme. Gute Augen unter weißer Flügelhaube. Tropfen auf glühender Zunge.

Winzigkeit nur, kühles Naß, das nach Pfefferminze roch – oder nach Kamille? – und das Brennen löschte, den bitteren Geschmack im Mund.

"Danke, Schwester."

Kühle Hand auf der Stirn. Festhalten, Hand eines Menschen, kühlende Hand, heilende Hand.

"Nicht fortgehen. Bitte."

 

 

… und der welterfahrene kleine Bär
Von HANS-ULRICH STAMM

Wer hat denn das weiße Coupé ausgerechnet auf meinen Parkplatz gestellt, den sonst die ganze Stadt respektiert? Ich suche eine andere Parklücke und denke: Morgenstunde ist aller Laster Anfang! Und während ich aussteige und den Wagen abschließe, nehme ich aus den Augenwinkeln wahr, daß da eine Dame aus dem Redaktionsgebäude kommt. Ungewöhnlich um diese frühe Stunde. Wir werden uns an der Vorgartentür treffen, denke ich, es sind ja nur ein paar Schritte. Aber die Dame ist schneller gewesen. Auf einmal steht sie vor mir, während ich noch die Schlüssel wegstecke. Aus einem bezaubernden Gesicht lachen mich grüne Augen an, in denen goldene Fünkchen sprühen, und ihr Mund sagt: "Rate mal, wer ich bin!"

Ich brauche nicht zu raten, denn diese Fünkchen kenne ich auch noch nach Jahrzehnten.

"Bärchen", sage ich.

In Bärchens rechter Wange erscheint wie früher ein Grübchen, als sie lächelt: "So hat mich schon lange keiner mehr genannt." Sie wird ein ganz klein wenig rot dabei.

Wahrscheinlich habe ich furchtbar viel zu tun, denn ich bin vier Tage auf Dienstreise gewesen und oben in meinem Zimmer stapelt sich vermutlich die Post – aber wie sagte doch immer mein verstorbener väterlicher Freund, der letzte demokratisch gewählte Bürgermeister von Wartenburg im Landkreis Allenstein: "Es gibt nichts, was sich nicht durch längeres Liegenlassen von selbst erledigt." Er hat immerhin fast sechs Jahre regiert und mußte es eigentlich wissen.

Wir gehen nach oben. Ich helfe Bärchen aus dem Mantel und scheuche die Sekretärin aus der redaktionellen Tee- und Kaffeeküche. Sie sieht mich an, als hätte ich falsch gewählt. Für Dorothea bricht die Welt zusammen, aber für mich ist soeben eine neu auferstanden: Den Kaffee koche ich selber!

Die Zeit erscheint mir unerträglich lange, bis es im Durchlauferhitzer zu brodeln beginnt. Kanne mit Filter drunter, aber das tröpfelt ja nur …

Bärchen greift wie selbstverständlich zu, als ich mit dem Tablett ins Zimmer komme. Sie stellt die Tassen zurecht, die Milch, den Zucker, nimmt die Kanne und gießt ein. Sie ist noch genau so süß wie damals, denke ich und merke, daß mein Herz ein wenig klopft.

Damals: Das war Spätherbst 1944, als ich sie kennenlernte. Genau am 29. November – komisch, wie einem doch Daten plötzlich wieder einfallen. Es war nach einem Tanzabend, den die begnadete Lore Jentzsch in der Königsberger Stadthalle gegeben hatte. Ich stand an der Garderobe neben Bärchen, mir bis dato völlig unbekannt, und halft ihr in den Mantel. Freund Günter tat das gleiche bei ihrer Freundin, die aussah, als ob sie Minna oder Berta heiße, oder vielleicht auch Erika von Thellmann, die damals immer im Film die Gouvernante spielte – wer kennt sie noch? Und es ergab sich dann, daß wir alle vier zu Steffens und Wolter zogen und sehr vergnügt waren, obwohl es nur bierähnliches Getränk statt edlen Rotwein gab und wir auch nichts mehr zu rauchen hatten. Günter allerdings – Perkunos weiß, woher – besaß eine Schachtel Kautabak. Davon probierten wir alle. Bärchen auch, aber nicht länger als eine halbe Minute. Dann nahm sie den Priem mit spitzen Fingern aus dem Mund, streckte uns umschichtig ihre hübsche Zunge entgegen und sagte (mit kurzem ä): "Bäh!"

Das sehe ich auf einmal vor mir, als sei es gestern gewesen. Und ebenso die Abende, an denen wir durch die verdunkelten Straßen der alten Stadt schlenderten, einen Abend vor allem mit einem Gang durch das menschenleere Speicherviertel, während der Vollmond sein Licht auf den Pregel warf. Die Morgen, an denen ich Bärchen zur Schule begleitete. Die letzte Woche vor der Einberufung kam ich deshalb jeden Morgen zu spät zum Unterricht, aber die Lehrer am Löbenicht waren milde – sie hatten selbst den Ersten Weltkrieg mitgemacht. Das war knapp dreieinhalb Monate nach jenem Novemberabend in der Stadthalle.

Wir haben nicht viel voneinander gehabt, und doch: Dreieinhalb Monate belämmerter Kriegsjugend, die Bärchen schöner machen half, einmal noch vierzehn Tage Urlaub, und sonst nur Briefe, sehr süße Briefe freilich, bis der große Aufbruch kam und die Spuren verwehten. Und jetzt stellen wir fest, daß wir zu jener Zeit beide nahezu in der gleichen Gegend waren: Bärchen als Schwester auf dem Hauptverbandsplatz des Peter Bamm allias Dr. Curt Emmerich bei Fischhausen, ich mit einem verlorenen Fallschirmjägerhaufen auf der anderen Haffseite bei Heiligenbeil. Beide haben wir die Gnade gehabt, davonzukommen, aber Bärchens Haare sind darüber silbergrau geworden, obwohl ihr das überhaupt noch nicht zusteht.

Wir reden und reden und reden und speilzahnen, und auf einmal fasse ich wie beiläufig in die Tasche und stelle ein klitzekleines Etwas zwischen uns auf den Tisch. Bärchens Augen werden ganz groß: "Du hast …"

Ja, ich habe ihn noch, den kleinen, knapp einen Zentimeter hohen Bronzebären, den Bärchen mir schenkte, als ich die Uniform anzog. Er ist mit über Europa geflogen und später durch Europa marschiert, hat die Filzung durch die Russen überstanden, die Währungsreform und das Wirtschaftswunder – er ist ein welterfahrener kleiner Bär, mein Bär vom Bärchen.

"Ja", sage ich auf Bärchens Frage, "ein Stückchen Heimat und …" Ich breche ab, denn ich glaube, jetzt werde ich rot. Wir sind beide verheiratet, nur nicht miteinander. Es kommt etwas zögernd auf beiden Seiten. Wir zeigen uns die Bilder unserer Kinder und denken wahrscheinlich beide das gleiche … Die Zeitung hat Schicksal gespielt: Bärchen hat gestern "aus Daffke" das Impressum gelesen: "Verantwortlich für …" Sie hat einen Augenblick überlegt, wo sie doch nun verheiratet ist.

Aber nun ist sie da. So lange haben wir in der gleichen Stadt gewohnt, ohne voneinander zu wissen – eigentlich ein Skandal! Aber nun soll es nicht wieder fast dreißig Jahre dauern, bis wir uns wiedersehen. Zu viert natürlich, denn schließlich muß ja jeder wissen, was sich der andere an Land gezogen hat, und seinen Segen dazu geben, nicht wahr?

Bärchen muß auf den Markt. Als ich sie die Treppe hinuntergeleite, boxt sie mich wie früher in die Rippen und lacht: "Mensch … " Ich lege den Arm um ihre Schulter. Bärchen hat nichts dagegen, und ich hoffe, Herr Bärchen auch nicht, sonst hetze ich meinen kleinen Bronzebären auf ihn.

Aha! Das war also das weiße Coupé, das mir meinen Parkplatz gestohlen hat. Aber jetzt stört mich das nicht mehr. Bärchen winkt noch einmal durch die Scheibe, und in ihren Augen sind wieder die goldenen Fünkchen: "Tschüs …"

Unsinn, Bärchen: Auf Wiedersehen!

 

 

Der hungrige Bandwurm
Von EVA PULTKE-SRADNICK

Die Damen saßen in Rüschen und Halskrausen, Pompadour und entsprechend sittlich langen Kleidern bei Frau Apotheker Sander am kuchenbeladenen Ausziehtisch. Bis auf Alwinchen Abrosat waren auch alle zu diesem Kaffeekränzchen gekommen. Alwinchen wäre unpäßlich, so hatte sie wissen lassen. Man delektierte sich bei Prinzeß- und Markstörtchen, diesem unnachahmlich köstlichen Gebäck, welches Bertchen, diese ostpreußische Perle (um die Frau Sander von jeder einzelnen Dame beneidet wurde), so einmalig zu backen und füllen verstand. Man sprach über dies und das und nippte an den zum Kaffee gehörenden Likörchen. Ohne diese kleinen Anisettchen oder Prünellchen wäre das Treffen ja nur eine halbe Sache gewesen. Danach begannen die Gespräche leichter zu fließen. Man verstieg sich sogar in die Politik, und, man staune, der gesunde Menschenverstand fällte hier Urteile, die manchem Politiker und Abgeordneten zur Ehre gereicht hätten.

Nach dem zweiten Likörchen wurde das Lachen heller, und man glitt in ein leichteres Fahrwasser. Und so verwunderte sich auch niemand, als die lebenslustige Frau Wilkandt, ihr Ehemann war der erste Bahnhofsvorsteher, ganz leicht die Frage einstreute, ob jemand erraten könnte, warum Alwinchen Abrosat nicht unter ihnen weilte. Einige Damen wiegten die Köpfe, andere tuschelten zu zweien, was sehr unhöflich war, aber die Frage ließ doch viele Mutmaßungen offen. Nun ja, Rosalie Supplieth, die einzige Tochter des alten Postdirektors, wußte darüber sogar eine Menge zu berichten. Sie ließ sich nicht lange bitten und begann, fast genüßlich, zu erzählen:

Gestern, am Sonntag, wäre sie auf dem Weg zu ihrer Schwester gewesen. Aber ei ja, wen sieht sie vor sich? Es ist Herr Abrosat mit Gattin und Kindern. Hier zögerte Rosalie jetzt etwas, und jeder bekam das Gefühl, daß sie alles noch einmal nacherlebte, selbst ihre große Bernsteinbrosche an ihrer Bluse bebte und zitterte dabei. Vor allem, fuhr sie fort, die Damen sollten es sich auf der Zuge zergehen lassen, Frau Abrosat hatte eine ganz nagelneue Garderobe getragen. Das Kleid aus geblümter Seide hatte hinten einen Schwipp nach links – mit einem kleinen Schlitz. "Das müssen Sie sich vorstellen, reine Seide und darüber eine Pellerine mit doppeltem Volant!"

Alles hatte sie natürlich nur aus der Ferne gesehen, trotzdem hatte sie aber deutlich erkennen können, daß viele Leute lachend an ihnen vorbeigingen, manche deuteten sogar nach hinten. Aber Frau Abrosat hatte dies alles nur als Tribut für ihr neues Kleid angesehen. Ihrem Mann schienen dann jedoch Bedenken zu kommen und er schickte den siebenjährigen Alfred nach hinten, um zu sehen, ob an Mutters Kledasche alles in Ordnung war. Alfred trottete eine Weile hinterher, ihm war es sowieso ekelhaft langweilig, doch dann bemerkte auch er, daß aus Mutters langem Rock ein breiter Faden herauskam. Eifrig lief er nach vorne und schrie: "Muttchen hinten kuckt was aus dir raus."

Muttchen bremste auf der Stelle, wurde puterrot und flüsterte: "Erbarmung, Jung, dat mott mein Bandworm sönd." Ohne Zeitverschwendung ergriff sie Alfreds Hand und ging in den nächsten großen Hausflur. "O goll, o goll, Schieterche", sagte sie, "jetzt mußt mir helfen. Nimm man dein Taschentuchchen und schling es um dein Handchen, dann grabbelst den Faden, was nämlich der Bandwurm ist, und ziehst so doll du kannst."

Das Kind graute sich etwas davor, aber es ergriff den platten Wurm und wickelte ihn samt seinem Taschentuchchen einmal um die Hand, aber es bewegte sich nichts.

"Zieh mit ganzer Kraft, zieh, zieh", rief die Mutter. Alfred stemmte sich mit den Hacken an die Wand und holte dann Hand über Hand den Bandwurm ein. Jetzt machte er noch einen Zug und dann gab’s ein Knistern, Knacksen, Reißen, und oh du grieses Katzchen, die Mutter stand groß, breit und prächtig nur noch im Unterrock da, lediglich mit der Schulterpellerine bekleidet.

Beide waren entsetzt und sprachlos. Muttchen Abrosat war völlig außer Fassung und Fasson geraten. "Oh, Alfredke, du kleenet Dammelskoppke, dat wear doch gar kein Bandworm nich, dat ös doch miene Korsettschnor." Schnell mußte er jetzt raus und den Mantel holen, den ihr Mann, dank seiner Vorsehung, gegen ihren Willen mitgenommen hatte.

Das Verwundern und Staunen im Kaffeekränzchen machte sich durch Kichern und Lachen bemerkbar, so als ob sie noch alle ganz junge Mädchen waren. Frau Sander ließ durch Bertchen noch schnell einen Likör servieren, und Henriette Bohls genierte sich nicht, laut an der Existenz des echten Bandwurms zu zweifeln. "Damit kaschiert sie doch nur ihren großen Appetit", meinte sie. Aber Friedchen Kroll ergriff Partei und sagte, daß der, der den Schaden hat, ja niemals für den Spott sorgen müßte. Es wäre doch kein Vergnügen, so ein Tier in sich herum zu tragen, welches dann von dem schönen, gerade gegessenen Gänsebraten, der Soße, den Kartoffeln, vom Schmorkohl und der Zitronencreme ganz zu schweigen, mit glubschen Augen gierig mitfraß.

Natürlich waren die Damen fair, man wollte nichts Nachteiliges über eine Abwesende sagen, aber sie hatten es auf einmal alle sehr eilig. Die Zeit war so schnell vorangeschritten – und mit diesem Wissen in der Brust mußte man erst mal fertig werden.

 

 

Das verlorene Fliegerchen
Von HERBERT HOFFMANN

Ja, das Fliegerchen war ihr ein und alles, ein Geschenk ihres Sohnes Emil, damals, kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges. Das Fliegerchen, eine silberne Brosche, die kunstvolle Nachbildung des Flugzeugpropellers eines Zweideckers, für den er als einer der ersten den Flugzeugführerschein besaß. "Als Andenken an deinen Sohn Emil", so hatte er in seinem Brief an die Mutter geschrieben. Und sie war stolz auf ihren Sohn. Das Fliegerchen sollte einen Ehrenplatz erhalten, als Erinnerung an ihren tapferen, tüchtigen Emil.

Aber die Freude währte nicht lange. Wieder kam ein Feldpostbrief. Diesmal mit einer fremden Handschrift und unbekanntem Absender. – "Wir müssen Ihnen die traurige Nachricht überbringen, daß Ihr Sohn in Erfüllung seiner Pflicht für Volk und Vaterland den Heldentod gestorben ist. Er kehrte vom Feindflug nicht zurück. Seinen Flugzeugführerschein haben wir beigefügt. Hochachtungsvoll."

Fassungslos saß sie da, in einer Hand den Flugzeugführerschein mit dem Bild ihres Sohnes, in der anderen das silberne Fliegerchen. Hatte sie ihn deshalb großgezogen, um ihn in diesem sinnlosen Krieg für Volk und Vaterland zu opfern, in der Blüte seines Lebens?

Seit jener Zeit trug sie keine hellen Kleider mehr, und auch ihr freundliches Lächeln war einem ernsten Blick gewichen. Der Tod ihres Sohnes veränderte ihr Leben. Das silberne Fliegerchen aber trug sie stets bei sich als Zeichen der Trauer und der Erinnerung an ihren unvergessenen Emil.

Doch das Leben ging weiter. Sie überlebte den Ersten Weltkrieg. Nach einer Zeit des Friedens bedrohte dann der Zweite Weltkrieg ihre ostpreußische Heimat. Tapfer hatte sie in all den Jahren ihr Leben gemeistert. Es waren schwere Zeiten, nichts war ihr erspart geblieben. Und wenn es gar zu hart kam, dann hatte sie als Trost ihr Fliegerchen, das sie hoch in Ehren hielt.

Zur Aufbesserung ihrer kleinen Rente half sie ab und zu beim Bauern in der Landwirtschaft mit. Als Lohn erhielt sie die Kartoffeln, die sie für sich brauchte, ihre Milch und auch das Mehl für ihr tägliches Brot. Nein, hungern brauchte sie nicht.

Und da, eines Tages passierte es dann. Die Heuernte war in vollem Gange. Auch sie hatte beim Beladen der Fuhrwerke mitgeholfen. Als sie abends müde nach Hause kam, entdeckte sie mit Entsetzen, daß ihr Fliegerchen fehlte. Die Stelle an ihrem Kleid, dort wo sie es immer trug, war noch deutlich zu erkennen, aber das Fliegerchen war verschwunden.

Ihr Entsetzen war groß. Sie lief noch einmal zurück zur Scheune, dahin, wo das Heu abgeladen wurde. Aber das Suchen nach so einem kleinen Gegenstand, so mußte sie erkennen, war sinnlos. Nein, es war aussichtslos, hier zu suchen. "Man findet keine Stecknadel in einem Heuhaufen", so sagte sie sich.

Gerade wollte sie schon den Rückweg antreten, da bemerkte sie ein Blinken im Heuhaufen. Sie sah genauer hin und entdeckte doch tatsächlich ihr Fliegerchen. Welche Freude, sie hatte ihr geliebtes Fliegerchen wiedergefunden! Es war ein Wunder. Allen erzählte sie es. Alle freuten sich mit ihr.

Und so hat das Fliegerchen sie ein Leben lang begleitet, auch als sie noch im hohen Alter ihre ostpreußische Heimat verlassen und flüchten mußte, fliehen in ein fremdes, unbekanntes Land.

Aber auch das überlebte sie noch. Und als sie dann am Ende ihres langen, schweren Lebens ihre allerletzte Reise antreten mußte, da legte man ihr auch das Fliegerchen in die Totenbahre.

Ja, das Fliegerchen war ihr ein und alles.