20.04.2024

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22.04.00 Der Angriff auf die Sowjetunion im Zusammenhang der Weltmachtpolitik (Teil I)

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. April 2000


Zweiter Weltkrieg: Hitler als Stalins Rammbock?
Der Angriff auf die Sowjetunion im Zusammenhang der Weltmachtpolitik (Teil I)
Von ERNST TOPITSCH

Bekanntlich hat Clausewitz den Krieg als eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln bezeichnet. So bildet diese auch den Schlüssel zum Verständnis der militärischen Handlungen, die ja nur ein Mittel zur Verwirklichung der von der Politik angestrebten Zwecke darstellen. Doch hier liegt trotz der seit "Barbarossa" vergangenen fast sechs Jahrzehnte noch vieles aus verschiedenen Gründen im argen.

Die deutsche Kriegsgeschichtsforschung ist auf den militärischen und innerhalb dessen auf den operativen Bereich konzentriert, wobei nicht selten die Logistik zu wenig beachtet wird, obwohl sie gerade im Osten eine außerordentliche Bedeutung besaß.

Fernerhin ist erstaunlicherweise auch das Verständnis für die psychologische Kriegführung unterentwickelt, und das in der Bundesrepublik Deutschland, die jahrzehntelang das Hauptobjekt einer nachhaltigen psychologisch-politischen Offensive Moskaus war, welche vielleicht ihr Ziel nur knapp verfehlt hat. Hier können verschiedene Mittel mit verschiedenen Zielen, verschiedenem intellektuellem Niveau und in verschiedener politischer Größenordnung eingesetzt werden. Das mag von primitiver Propaganda bis zur globalen Strategie gehen, welche die eigenen Zielsetzungen vor dem weltmachtpolitischen Gegenüber täuschend verbirgt, um diesem folgenschwere Fehleinschätzungen zu suggerieren. Zu diesem Zweck lassen sich etwa auch Einflußagenten in publizistische und politische Schlüsselpositionen des dergestalt Angegriffenen einschleusen.

Zu den wichtigsten Instrumenten psychologischer Kriegführung zählt auch eine moralisierende Rhetorik, ja es ist kaum übertrieben, von einer "Moralwaffe" zu sprechen. Auf die hier vorliegende philosophische Problematik kann im gegebenen Rahmen nicht weiter eingegangen werden. Zwei knappe Hinweise mögen genügen. Werturteile haben keine Grundlage in überprüfbaren Tatsachen und sind daher äußerst flexibel. Wenn aber Moral den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, dann muß sie eine Mindestbedingung erfüllen: Sie darf zwischen Freund und Feind, zwischen Sieger und Besiegtem keinen Unterschied machen. Doch in der Realität haben bisher noch immer die streitenden Parteien jeweils ihre eigene Sache für die wahrhaft moralische und gerechte erklärt und sich dazu auch ideologische Domestiken – Kronjuristen, Hoftheologen und andere Propagandisten – gehalten. Umgekehrt ist es nicht bekannt, daß je ein Fürst, ein Diktator oder auch eine demokratische Regierung erklärt hätte, einen ungerechten Krieg zu führen, oder aus rein moralischen Motiven auf einen nennenswerten Vorteil verzichtet bzw. einen solchen Nachteil in Kauf genommen hätte. Das ist für unser Thema besonders wichtig, weil heute in der sogenannten "Zeitgeschichte" der moralisierende Bannspruch weithin an die Stelle des wissenschaftlichen Argumentes getreten ist. So soll im folgenden von moralischen Beschuldigungen oder Entschuldigungen abgesehen werden.

Nun war der deutsch-russische Krieg 1941–1945 keine isolierte Privatangelegenheit der beiden Kontrahenten, sondern ist nur im Zusammenhang langfristiger Entwicklungen der Politik der Weltmächte verständlich. Schon durch das ganze 19. Jahrhundert war die Rivalität zwischen russischem und englischem Imperialismus – aus dessen Hintergrund der amerikanische hervorzutreten begann – ein weltmachtpolitisches Hauptthema. Dabei haben scharfsichtige Beobachter wie Hegel und Tocqueville bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts erkannt, daß sich das Schwergewicht der beiden Flügelmächte Amerika und Rußland mit der Zeit ständig steigern würde. So zeichnete sich schon damals ab, wer eines Tages die Hauptgegner sein würden.

Zunächst aber erreichte die Spannung zwischen England und dem Zarenreich einen Höhepunkt im russisch-japanischen Krieg von 1904/05, den Japan als eine Art Stellvertreter für die Briten führte. Auf die Niederlage reagierte St. Petersburg mit einem gewaltigem Flottenbauprogramm, das weit über die Ersetzung der im Fernen Osten erlittenen Schriffsverluste hinausging. Dieses Programm ist infolge des Ersten Weltkrieges nur ansatzweise zur Durchführung gelangt, doch es weist weit über die sich nun abzeichnende militärische Auseinandersetzung mit Deutschland und Österreich-Ungarn hinaus, die ja hauptsächlich ein Landkrieg war. Auf dieser Linie liegt aber auch ein seit 1935/36 von Stalin inauguriertes Mammutprogramm, das die UdSSR zur stärksten Seemacht der Welt machen sollte. Selbst nach einer "gekürzten Fassung" dieses erst vor kurzem bekannt gewordenen Planes sollten bis 1947 mindestens 15 Schlachtschiffe, 69 Schlachtkreuzer, zwei Flugzeugträger, 28 Kreuzer, 243 Minenboote, 370 Torpedoschnellboote und über 400 U-Boote gebaut werden. In diesen Zusammenhang fügt sich auch ein, daß Stalin im Rahmen des Paktes vom 23. August 1939 von den Deutschen auffallend viele Lieferungen für die Kriegsmarine verlangte, darunter sogar die Baupläne der "Bismarck", was Hitler allerdings ablehnte. Es ist klar, daß sich dieses Monsterprogramm nur gegen die angelsächsischen Seemächte richten konnte.

Nach der – übrigens von Deutschland geförderten – russischen Revolution kam es zu einer Verbindung zwischen dem ererbten weltmachtpolitischen Anspruch der Zaren und dem weltrevolutionären der Bolschewiki, und zwar in einer Weise, die es oft schwer macht, die beiden zu unterscheiden und gegeneinander abzuwägen. Die Hauptstoßrichtung zielte dabei weiterhin gegen die Westmächte, die Sieger von 1918, welche durch ihre Intervention einen allerdings schwächlichen Versuch machten, die Revolution zu bekämpfen, und die Sowjets ebenso wie die Deutschen als Parias betrachteten und behandelten. So kam es in Rapallo zur Annäherung zwischen den Diskriminierten.

Vor allem aber waren besonders England und Amerika die ragenden Zitadellen des Weltkapitalismus und die wichtigsten Hindernisse für Moskaus Griff nach der Beherrschung des gesamten Globus. Daher mußten sie folgerichtigerweise auch die eigentlichen Angriffsziele der sowjetischen Politik bilden.

Dabei konnte man in Moskau davon ausgehen, daß es unter den "kapitalistischen" Staaten bedeutende Interessengegensätze gab. Auf der einen Seite standen die reichen Westmächte, auf der anderen der Verlierer Deutschland sowie Italien und Japan, die mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten und sich um den Siegespreis geprellt fühlten. Darunter nahmen Deutschland und Japan – Italien spielte eine geringere Rolle – eine geostrategische Schlüsselstellung ein, da sie Rußland am nächsten lagen. Konnten nun die kapitalistischen Hauptmächte diese beiden Staaten als Angriffsspitzen gegen das "Vaterland aller Werktätigen" verwenden, so kam dieses in eine äußerst schwierige Lage. Es mußte daher ein vorrangiges Ziel des Kreml sein, diese gefährliche Situation zu vermeiden und umgekehrt Deutschland und Japan als Rammböcke besonders gegen England und die USA einzusetzen.

Letzteres bildete bereits ein Kernstück der von Lenin 1920 umrissenen Langzeitstrategie, in der für den angestrebten "Zweiten Imperialistischen Krieg" bereits die Gruppierung Deutschland und Japan gegen die Westmächte vorgesehen war, die dann auch tatsächlich eingetreten ist. "Bis zum endgültigen Sieg des Sozialismus in der ganzen Welt" gelte nach Lenins Worten die Grundregel, "daß man die Widersprüche und Gegensätze zwischen zwei imperialistischen Mächtegruppen, zwischen zwei kapitalistischen Staatengruppen ausnutzen und sie aufeinander hetzen muß". Der erste dieser Gegensätze "ist jener zwischen Japan und Amerika, der zweite besteht in der Spannung zwischen Amerika und der übrigen kapitalistischen Welt, der dritte schließlich ergibt sich aus den Beziehungen zwischen der Entente und dem besiegten Deutschland – dieses kann den Versailler Vertrag nicht ertragen und muß sich nach Verbündeten gegen den Weltimperialismus umsehen, obwohl es selbst ein imperialistisches Land ist, das jedoch niedergehalten wird". Auf jeden Fall wäre es am günstigsten, "wenn die imperialistischen Mächte sich in einen Krieg verwickelten". Das ist aber keine spezielle bolschewistische Teufelei, sondern der alte Grundsatz des divide et impera.

Diese Langzeitstrategie hat Stalin mit eiserner Folgerichtigkeit und taktischer Flexibilität fortgeführt. Es galt, Deutschland vom Westen getrennt zu halten und auf beiden Seiten den Konflikt bis zum Aufflammen des "Zweiten imperialistischen Krieges" zu schüren. In diesem sollten die kapitalistischen Staaten einander so schwächen, daß ihre Regierungen nicht mehr in der Lage waren, der proletarischen Revolution und der Roten Armee standzuhalten. Dazu unterstützte man zunächst Deutschland und gab der Reichswehr Gelegenheit, verschiedene Bestimmungen des Versailler Diktats auf russischem Boden zu umgehen. So sollte es für die ihm in der sowjetischen Langzeitstrategie zugedachte Rolle instandgesetzt werden. Als aber dann Hitler beschleunigt aufrüstete, galt es auch die Westmächte für den kommenden Zusammenstoß zu konditionieren. Die Sowjetunion trat dem Völkerbund bei, bekannte sich zur kollektiven Sicherheit und gab sich eine Verfassung, die viele demokratische Freiheiten enthielt. Dementsprechend suchte man eine Volksfront gegen den "faschistischen Menschheitsfeind" zu organisieren, die außer den bisher erbittert bekämpften Sozialdemokraten auch bürgerliche Sympathisanten umfassen sollte. Unterdessen aber nahm der stalinistische Terror immer furchtbarere Formen an, und der militärisch-industrielle Komplex wurde beschleunigt ausgebaut – schon 1937 besaß Moskau mehr Panzer als die gesamte übrige Welt zusammen.

Inzwischen verschärfte sich die Spannung zwischen Deutschland und den Westmächten immer mehr, durch das Münchener Abkommen war der bewaffnete Zusammenstoß gerade noch vermieden worden, und der Einmarsch in Prag bedeutete eine weitere Dramatisierung. Nun hatte Moskau auch in der Zeit wildester gegenseitiger Beschimpfungen den Kontakt zu Berlin nie völlig abreißen lassen und begann ihn jetzt vorsichtig zu intensivieren. Schließlich hat der russische Diktator seinen deutschen Kollegen durch den berühmt-berüchtigten Pakt vom 23. August 1939 zum Angriff auf Polen ermutigt, der – wie er richtig erwartete – zur Intervention Englands und Frankreichs und damit im Sinne Lenins zur Entfesselung des "Zweiten imperialistischen Krieges" führen sollte. Er erwartete einen langen Abnützungskrieg, während dessen die Sowjetunion zunächst in sicherer Neutralität verharren und weiterrüsten konnte, um am Ende das entscheidende Wort zu sprechen. Nun war Deutschland nicht nur wirtschaftlich von Rußland abhängig geworden, sondern Stalin suchte es auch militärisch in den Griff zu bekommen, indem er sich bei der endgültigen Grenzziehung die Frontbalkone von Bialystok und Lemberg sicherte, aus denen 1941 die Großoffensive der Roten Armee vorgesehen war. Doch um seine Beziehungen zu den Westmächten nicht zu sehr zu belasten, hielt er sich ansonsten an die Curzon-Linie, die 1919 von den Engländern als Ostgrenze Polens vorgesehen gewesen war. Überhaupt waren die Sowjets die eigentlichen Gewinner jenes verhängnisvollen Paktes. Sie waren wieder zur zweiten großen Ostseemacht geworden und hatten sich zu Land ein weites Glacis zugestehen lassen, das ihnen auch die Kontrolle über das Nickel und die Holzbestände Finnlands und die landwirtschaftlichen Produkte der baltischen Staaten ermöglichen sollte und mit Bessarabien ein Sprungbrett gegen den Balkan bot. Deutschland dagegen ließ sich mit dem Westteil Polens abspeisen und erkannte überdies ein Mitspracherecht der Russen bei der endgültigen Regelung der polnischen Verhältnisse an.

Das alles veranlaßte Generaloberst Beck zu sorgenvollen Betrachtungen: "Schon jetzt belastet Rußland die strategische Bewegungsfreiheit Deutschlands im Osten, und es ist nicht ausgeschlossen, daß Deutschland in Rußland im weiteren Verlaufe des Krieges eine ernste, unter Umständen eine tödliche Gefahr erwächst. Daß die Rückkehr Rußlands in die Sphäre der machtpolitischen Auseinandersetzungen Europas ein Ereignis von weittragender militärpolitischer Bedeutung für lange Zeit ist, dieser Tatsache kann sich vor allem Deutschland nicht verschließen", und der militärische Erfolg in Polen sei "durch das Inbewegungsetzen des russischen Kolosses nach Westen paralysiert". (Fortsetzung folgt)