19.04.2024

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13.05.00 Kurzgeschichten:

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 13. Mai 2000


Kurzgeschichten:


Zurück zu den Wurzeln
Von HORST MROTZEK

Vor längerer Zeit las ich folgenden Bericht, niedergeschrieben von einem Teilnehmer einer Masurenreise, veranstaltet von der örtlichen Volkshochschule:

Den ganzen Tag radelten wir durch eine zauberhafte Sommerlandschaft, die uns froh und beschwingt stimmte, als wir auf dem Rückweg nach Sensburg die Orientierung verloren. Glücklicherweise kamen wir zu einem alleinstehenden Haus, vor dem ein paar Leute standen.

Ich wandte mich an einen jungen Mann, von dem ich annahm, er sei ortskundig und könnte uns weiterhelfen: "Sprechen Sie deutsch?"

"Seit Kindesbeinen", antwortete er scherzhaft.

"Sehr schön", erwiderte ich. "Machen Sie hier auch Urlaub?"

"Ja, aber erst haben wir noch eine delikate Angelegenheit zu erledigen." Und dabei sah er etwas wehmütig eine alte Frau an. "Auf ihren ausdrücklichen Wunsch will meine Großmutter ihre letzten Tage hier verbringen."

"Wie? – Was? Hier in dieser gottverlassenen Gegend?" fragte ich zweifelnd.

"Gottverlassene Gegend?" sagte der junge Mann entrüstet. "In jedem Baum, jedem Strauch ist Gott! Hören Sie den Specht hämmern? Auch da ist Gott."

"So gesehen, haben Sie recht", sagte ich nach einer Pause und fuhr dann fort: "Ich verstehe: Wiechert – das einfache Leben."

Da schaltete sich die alte Frau ein, die bisher geschwiegen hatte: "Ich bin hier geboren und komme hierher, um zu sterben. Das ist mein einziger Wunsch." Und ihre Augen strahlten Lebensfreude aus, als dächte sie noch lange nicht ans Sterben.

"Als meine Großmutter nach dem Krieg das erste Mal ihre Heimat besuchte, fand sie ihren elterlichen Hof, hier ganz in der Nähe, bis auf die Grundmauern zerstört. Der seelische Schmerz war so groß, daß sie dieses Land nicht ein weiteres Mal sehen wollte. – Aber allmählich sah sie ein, daß das Land, dem man so böse Wunden geschlagen hatte, genau so litt, wie sie selbst. Sie konnte nicht widerstehen, es zog sie zurück zu ihren Wurzeln. Jahr für Jahr besuchte sie ihre Heimat und lernte dabei Jan näher kennen, den polnischen Besitzer dieses Hofes."

"Jan, komm doch mal her, laß dich mal sehen!" Etwas schüchtern ließ sich der Pole nach vorne schieben. Er grüßte freundlich, indem er seine Mütze lüpfte und eine Verbeugung andeutete.

Dann setzte der Enkelsohn seine Erzählung fort: "Im Laufe der alljährlichen Besuche entwickelte sich zwischen meiner Großmutter und Jan ein freundschaftliches Verhältnis. So ganz beiläufig erwähnte sie, sie könne sich vorstellen, hier wieder einmal zu leben. Es war wohl mehr so ein frommer Wunsch. –

Im vergangenen Jahr, als die beiden sich wiedersahen, kam dann die Überraschung. Mit verschmitztem Lächeln sagte Jan: Oma (er gebrauchte das vertraute du), deine Stube ist fertig! Das hieß soviel wie: du kannst einziehen. Und heute ist es nun soweit."

Plötzlich verschwand Jan im Haus und kehrte gleich darauf mit einem Tablett voller Gläser und einer Flasche Wodka zurück. Nach dem Umtrunk fing der junge Mann wieder zu erzählen an: "Wir versuchten unserer Großmutter die Vorzüge ihrer Wohnung in Hamburg klarzumachen: Bäcker, Fleischer gleich um die Ecke, zur Kaufhalle wird sie von uns hingefahren, die Friseuse kommt ins Haus. Bei ihrem Hausarzt, der sie seit Jahrzehnten kennt, ist sie gut aufgehoben. Wir redeten mit Engelszungen. – Nichts half!"

"Was hab ich denn noch vor mir?" schaltete sich die alte Frau ein. "Vielleicht einen Sommer lang, höchstens noch einen Herbst dazu, wenn’s der liebe Gott zuläßt."

"Ist gut, Großmutter! Ist ja nun entschieden."

Was wir da vernommen, hat uns so beeindruckt, daß wir Zeit und Raum vergaßen. Auf unserer Wanderkarte zeigte man uns den Weg nach Sensburg, und dann brachen wir auf. Lebhaft ging die ungewöhnliche Begegnung zu Ende. Der alten Frau, die zu ihren Wurzeln zurückfindet und so den Lebenskreis schließt, wünschten wir eine gute und lange Zeit in Masuren …

Soweit der Reisebericht. – Fünf Jahren waren seit der Lektüre vergangen. Die Neugierde packte mich, als ich die Niederschrift wieder in Händen hielt. Was mag wohl aus der alten Frau in Masuren geworden sein? Ob sie wohl noch lebte? – Ich begann nachzuforschen: auf Umwegen über die Volkshochschule erreichte ich den Enkelsohn in Hamburg, und der schilderte mir:

"Meine Großmutter ist nicht mehr wiederzuerkennen. In einem Brief tat sie ihre Begeisterung und Lebensfreude kund: Seit einer Ewigkeit bin ich wieder mal barfuß über die Stoppelfelder gelaufen. Ach war das ein Gefühl! Ich wurde an meine Kindheit erinnert. Die Fußreflexzonenmassage von Herrn Meyer ist nichts dagegen. – Jan hat mich geschimpft, ich könnte mich verletzen, und dann gäbe es eine gefährliche Blutvergiftung. Alles Quatsch! Wie oft haben wir uns als Kinder in der Erntezeit an den Füßen verletzt, es hat nicht einmal für eine Entschuldigung für die Schule gereicht. Ordentlich geblutet hat’s, und dann war alles wieder in Ordnung.

Im Spätsommer kam ein Brief, in dem hieß es: Heute bin ich draußen auf dem Feld zur Kartoffelernte gewesen. Hab’ sogar beim Graben geholfen. Und ungeschickt habe ich mich nicht angestellt, meinte Jan. Der Duft der frischen Erde stieg mir in die Nase: es war ein ganz eigentümliches Gefühl, wie ein Wiedersehen mit einem alten Freund. – Dann habe ich mit Pawel (Sohn von Jan) ein Kartoffelfeuer angezündet und die erdfrischen Kartoffeln gebraten. War das ein Genuß! Köstlicher als die Folienkartoffeln in einem vornehmen Hamburger Restaurant.

Im Herbst schwärmte Großmutter von der malerischen Farbenpracht der masurischen Wälder. Und als der Wetterbericht einen frühen und strengen Wintereinbruch im Osten meldete, dachten wir, jetzt wird sie uns etwas vorjammern: Ich vermisse doch meine molligwarme Wohnung in Hamburg. – Nichts von all dem traf ein!

Sie fühlte sich weiter wohl und berichtete: Ich habe nicht mehr gewußt, wie Eisblumen aussehen, die im Winter die Fenster schmücken. Habe sie betastet, angehaucht und zum Schmelzen gebracht. Ist das nicht wunderbar? Auch ein glühender, wärmespeiender Kachelofen war mir wieder fremd. Ich mache Erfahrungen wie ein kleines Kind. Wäre es nicht traurig, wenn wir nichts mehr erfühlen und ertasten bräuchten? – Früher langte es, wenn man, um nach dem Wetter zu sehen, vor die Tür ging. Heute muß man weit vor die Stadt fahren, um sich zu vergewissern, in welcher Jahreszeit wir uns augenblicklich befinden. – Das waren ganz neue Seiten meiner Großmutter, die wir da entdecken durften. Es lohnt sich, darüber nachzudenken in unserer hochtechnisierten und schnellebigen Welt."

Der junge Mann aus Hamburg hat recht, mich machten seine Randbemerkungen auch nachdenklich.

"Als dann in Masuren das Eis auf den Flüssen und Seen aufbrach und der Frühling erwachte, war Großmutter nicht mehr zu halten, schilderte Jan. Sie streifte durch die Gegend und brachte von jedem Spaziergang einen Arm voller Blumen und grüner Zweige heim und verwandelte ihre Stube in einen bunten Blumenladen. – Ihr Rheuma war wie weggeblasen. Der Doktor bräuchte sich keine Sorgen um sie zu machen. Das Klima in Masuren ist ja so gesund!"

Hier enden meine Recherchen über die alte Frau, die an einem Sommertag in Masuren eine bewundernswerte Entscheidung traf.

"Inzwischen ist die Großmutter im Fünfundneunzigsten, und wenn sie 100 wird – und das wird sie wohl –, dann melde ich mich wieder", so versprach der Enkelsohn.



Gedichte für Cornelia
Von WILLI WEGNER

Sie sah bezaubernd aus. Rabenschwarze Haare, pechdunkle Kulleraugen, schnippischrunder Kirschmund, rechts ein Grübchen, links ein Grübchen. Und ihre Stimme war wie Harfenklang. Diese Cornelia war meine erste große Liebe!

Sie stand hinter dem Ladentisch in Quermanns Papierwarenhandlung in der Marienstraße und wurde von uns Pennälern vergöttert wie ein Filmstar. Von unserem Gymnasium in der Wolfstraße war es nur ein Sprung hinüber, und so standen wir oft sogar in den Pausen Schlange, um sie zu sehen und ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Etwa: "Ein Kladde, bitte, Fräulein. Mit Linien. Ja, die da!" Oder: "Bitte ein Tütchen Niespulver!"

Wir kauften alles mögliche bei ihr. Studentenfutter und Wundertüten, Stahlfedern und Zeichenhefte, aber auch kleine Stinkbomben für die Mathematikstunden. Und eines Tages fing ich an, Gedichte zu schreiben. Wo ich ging und stand, schlugen sich meine Gefühle für die heimlich Angebetete in Versen nieder.

Zur Frühlingszeit hatte ich ein besonders hübsches Gedicht verfaßt. Der Lenz spielte eine Rolle darin, und Herz reimte sich auf März. Zum Schluß schrieb ich: "Tag und Nacht gedenk’ ich Dein. Drum bitt’ ich um ein Stelldichein." Den genauen Zeitpunkt sowie Ort des Zusammentreffens gab ich ebenfalls an; und ich fügte sogar eine Skizze bei, damit sie sich ja nicht verlaufe. Das alles steckte ich in einen Briefumschlag, klebte ihn zu und adressierte ihn an: Fräulein Cornelia, privat und persönlich, Papierwarenhandlung Quermann, Marienstraße. Ich ging sofort zu ihr, kaufte drei Wundertüren und ließ meinen Liebesbrief auf dem Ladentisch liegen. Dann rannte ich klopfenden Herzens hinaus auf die Straße und wäre vor lauter Aufregung beinahe unter ein Auto geraten, wenngleich es damals noch gar nicht so viele davon gab!

Und dann wollte der Tag natürlich überhaupt nicht herumgehen … Aber endlich war es soweit …

Sie saß schon da! Auf der von mir vorgeschlagenen Bank.

"Guten Abend", sagte ich. "Da bin ich."

Ich setzte mich neben sie, und sie sagte: "Schönen Dank auch, daß Sie mir den Brief gebracht haben. Ich habe ihn geöffnet und alles gelesen."

"Haben Ihnen denn die Gedichte gefallen?" fragte ich.

"Gut, sehr gut. Ich schreibe übrigens auch Gedichte." Sie öffnete ihr Handtäschchen und überreichte mir einen verschlossenen Briefumschlag. Ich wollte ihn sofort aufreißen.

"Bitte nicht!" sagte Cornelia. "Das dürfen Sie nicht tun!"

"Natürlich, wie Sie wünschen …" Der Brief brannte in meiner Hand. Welch ein Tag! Meine Geliebte schrieb also ebenfalls Gedichte! Ich saß mit ihr auf dieser Bank … Sie liebt Gedichte, Gott sei Dank … Bestimmt werden wir eine schöne poetische Ehe führen. Ich muß nur erst noch schnell mein Abitur machen!

"Ich verstehe nicht", unterbrach Cornelia meine Gedanken, "wieso er Ihnen von seinen Gedichten erzählt hat und warum er nicht selber gekommen ist."

"Wer? Von wem sprechen Sie?"

"Na, ich spreche von Paul, Ihrem älteren Bruder, dem sympathischsten Oberprimaner des ganzen Gymnasiums. Er schreibt so himmlische Gedichte und muß trotzdem seinen kleinen Bruder aus der Untersekunda vorschicken, wenn er mich um ein Rendezvous bittet. Ich warte doch schon so lange darauf, daß er sich endlich ein Herz faßt …"

Paul also! Mein Bruder Paul!

Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Die Sonne war auch schon untergegangen, es war kühl geworden. Die Nacht bricht an, Qual … Das Leben ist ein Jammertal …

"Sollen Sie mir wenigstens etwas von ihm ausrichten?"

"Wie bitte? Ach so … Ja, Paul ist heute leider verhindert", schwindelte ich. "Ich soll Ihnen sagen, daß er morgen hier sein wird. Zur gleichen Zeit."

"Na, das hätten Sie doch sofort sagen können! Grüßen Sie ihn bitte. Und vergessen Sie nicht, ihm meinen Brief zu geben!" Cornelia stand auf und ging davon. Meine erste große Liebe!

Paul war damals übrigens recht ungehalten. Als er jedoch von seinem ersten Rendezvous nach Hause kam, weckte er mich und schenkte mir eine Mark. Das war zu jener Zeit viel Geld.

Ich kassierte dann noch zwei Jahre lang laufend Honorare von ihm. Und zwar drei Mark pro Gedicht. Möglich, daß ihm das auf die Dauer zu teuer wurde, denn eines Tages erzählte er Cornelia die Wahrheit und heiratete sie.

Ich aber wurde Schriftsteller.



Diese Hände
Gedanken zum Muttertag
Von Betty Römer-Götzelmann

Allet mit deine Hände",lobte schon Kurt Tucholsky die Stullen schmierenden Mutterhände. Diese Hände, Muttern’s Hände, manchmal fehlen sie mir so sehr. Diese Hände, die das Kind streichelten, es liebkosten, seinen "Hahnenkamm" zurechtrückten, die "Propellerschleife" ins Haar banden. Diese Hände, die auf einer Schiefertafel das ABC vorschrieben, die kleine Hände zum Gebet falteten.

Diese Hände, die sich mit mütterlicher Energie an das kalte Eisen eines dampfenden Zuges krallten; in ihm waren die beiden kleinen Töchter, der ganze Lebenssinn in diesem Unsinn des Krieges. Eisiger Frost an diesem 23. Januar 1945 machte diese Hände gefühllos, dennoch verbanden sie sich mit dem Stahl.

Diese Hände, die einen gestohlenen Sack Marmeladenpulver in eine kleine Dachkammer schleppten; diese Hände, die daraus eine Suppe rührten, sie pflückten als Beilagen Gräser, Blätter und Wurzel.

Diese Hände melkten Kühe. Die russische Deputat-Milch war der Luxus 1945. Sie war Tauschobjekt für alles.

Diese Hände wehrten Unmenschen ab, die den Leib schändeten. Diese Hände zogen an Rocksäumen, die zu kurz wurden, da nun die Scham hervorschaute.

Diese Hände packten zu, bauten auf, schafften die Trümmer eines Tausendjährigen Reiches weg. Sie hielten den Pflug, sie banden das Korn.

Diese Hände dirigierten, verteilten Klapse, hielten die Zügel des Lebens fest in der Hand. Diese Hände schlugen den Rhythmus zu alten Volksliedern. Diese Hände legten sich auf einen schönen Mund, der unbändig aus Urkraft lachte.

Diese Hände stickten, nähten, strickten, tapezierten, bohnerten, wuschen, gärtnerten, hielten das Buch, liebkosten Enkel.

Diese Hände hielten dann nur noch das Buch. Diese Hände waren gichtig und kraftlos. Sie lagen ruhig gefaltet in einem Schoß.

Diese Hände, sie fehlen mir manchmal so sehr. – Ich möchte mein altes müdes Herz in diese Hände bergen, mich in ihnen verstecken vor der Unbill der Welt.