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27.05.00 Visionärer Wanderer zwischen Kunst und Politik (Teil I)

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 27. Mai 2000


Arthur Moeller van den Bruck: "... um die Hälfte der Welt"
Visionärer Wanderer zwischen Kunst und Politik (Teil I)
Von WALTER T. RIX

An einem Erfurter Gymnasium scheiterte 1895 der zweite Versuch eines jungen Mannes namens Arthur Moeller, sich dem Abitur entgegenzuarbeiten und damit die Bahnen gehobener bürgerlicher Existenz zu gewinnen. In dem Gymnasiasten gärte der aufrührerische Geist einer Jugend, die sich gegen die als zu eng empfundene wilhelminische Zeit auflehnte und nach neuen Lebensformen drängte. Saturierte Bürgerlichkeit war genau das, was diese Generation zu überwinden trachtete. Der am 23. April 1876 in Solingen geborene Moeller van den Bruck entstammte väterlicherseits einer Familie, aus der zahlreiche Offiziere und Pastoren hervorgegangen waren. Sein Vater hatte, von ihm stets als Makel empfunden und für seine Auflehnung nicht ohne Bedeutung, als preußischer Baurat das damals modernste Gefängnis gebaut. Der Mutter, die sich von spanischen Emigranten in den Niederlanden herleitete, verdankte er sein künstlerisches Erbteil. Aufschlußreich ist, wie er seine Veröffentlichungen zeichnet: Er läßt den ihm vom Vater, einem Schopenhauerverehrer, zudiktierten Vornamen fallen und erweitert den Namen Moeller durch den Mädchennamen seiner Mutter.

Wie ein brausender Sturm hatte ihn der aufrührerische Geist der Jahrhundertwende erfaßt, so daß er bereits als Schüler in einen unversöhnlichen Gegensatz zum Elternhaus und zur Autorität allgemein geriet. Er war von jenen Empfindungen erfüllt, wie sie Max Halbe in seinem Milieustück "Jugend" (1893) und Frank Wedekind in seinem Jugenddrama "Frühlingserwachen" (1891) zum Ausdruck bringen. Ein hymnischer Aufsatz über den symbolistischen Maler Edvard Munch mit ketzerischen Bemerkungen über die Düsseldorfer Malschule in einer Düsseldorfer Zeitung waren Anlaß, ihn mit der offiziellen Begründung "ungenügender Leistungen" des dortigen Gymnasiums zu verweisen. Die verzweifelten Eltern schickten ihn zu Großmutter und Tante nach Erfurt, nicht ohne daß er vorher noch das Abenteuer einer Verlobung eingegangen war. Aber auch die Erfurter Gymnasialzeit endete mit einem Fiasko. Nach programmatischem Schwänzen tauchte Moeller in die Leipziger Bohème ein. Doch bald erschien ihm auch dieser Kreis noch zu bieder, und er siedelte im August 1896 nach Berlin über, wo sich die intellektuelle Abneigung gegen die wilhelminische Fassadenkultur in einem überschäumenden Künstlerleben austobte. In Künstlerlokalen wie dem "Schwarzen Ferkel" in der Dorotheenstraße oder der "Schmalzbacke" in der Tauentzienstraße traf sich Moeller jetzt mit Weltveränderern, Zukunftspropheten, Lebensreformern und Sezessionisten wie Frank Wedekind, Richard Dehmel, Detlev von Liliencron, Peter Hille, Max Dauthendey, Rudolf Steiner und dem Jugendstilmaler Fidus. In zeittypischer Weise verbinden sich in ihm dabei leidenschaftliche Willensphilosophie und morbide Dekadenz. Die Bewunderung Napoleons geht einher mit dem Idol George Brummel, dem englischen Urbild aller Dandies und Flaneure. Bereits hier zeigen sich widersprüchliche mentale Befindlichkeiten, die für seinen Lebensweg wie auch für sein Werk bezeichnend werden sollten.

Eine Steigerung des ekstatischen Lebensgefühls war nur noch in Paris möglich. 1902 verließ Moeller unter bislang ungeklärten Umständen fluchtartig Berlin unter Zurücklassung seiner Frau, die ein Kind von ihm erwartete, und reiste über die Schweiz nach Paris. Vier Jahre verbrachte er hier gleichsam als intellektueller Clochard, eine Zeit, die seine Denkrichtung bestimmte. Während Paris vor politischem Esprit vibrierte, mußte er immer wieder die politische Instinktlosigkeit des saturierten deutschen Bürgertums konstatieren. Angesichts einer kunstvollen und gedankenreichen Politik Frankreichs wurde für ihn die Phantasielosigkeit und Unbeweglichkeit insbesondere der wilhelminischen Außenpolitik deutlich. Vor allem fand er ausgerechnet aus westlicher Perspektive Zugang zum Osten. Die enge Freundschaft mit den livländischen Schwestern Less und Lucie Kaessick machte ihn mit den politischen Problemen des östlichen Mitteleuropa vertraut. Die Schwestern wiederum brachten ihn in Verbindung mit Dimitri Mereschkowski, der ihn in die russische Geisteswelt einführte. Alle zusammen besorgten die deutsche Gesamtausgabe des Werkes von Dostojewski. Die bleibende Bedeutung dieser gewaltigen Übersetzungsleistung lag für Moeller darin, daß er sich fortan ständig mit dem russischen Denken auseinandersetzen sollte. Schon früh zeichnet sich in seinen Schriften eine sowohl den Westen als auch den Osten umfassende Perspektive ab. So richtet er ein Jahr nach Kriegsausbruch in seiner politischen Flugschrift "Belgier und Balten" seinen Blick gleichzeitig nach Westen und Osten: "Es wird unser Ziel in Europa sein, uns kräftig genug und im Ausgleich unserer eigenen Gegensätze zu erhalten, um dereinst den Kontinent ... gegen fremde Machtansprüche zu verteidigen, von denen der englisch-französische im Belgikum, der russische im Baltikum bereits geltend gemacht wurden und denen, wenn wir in Deutschland nicht mitteleuropäisch fest bleiben, dereinst asiatische und amerikanische Machtansprüche folgen werden." Hier formuliert er Gedanken, die seitdem nur noch an Aktualität gewonnen haben. Gerade in der Doppelperspektive, in der umfassenden Spannweite des Blickwinkels, der beide Flügel Europas ganzheitlich umgreift und Deutschland dabei in seiner Mittellage einordnet, liegt die überzeitliche Bedeutung seines Denkens.

Was sich in Paris an ungestümer Leidenschaft entzündete, gewinnt 1906 durch einen einjährigen Italienaufenthalt, den er zusammen mit Ernst Barlach und Theodor Däubler verlebte, einen korrigierenden Ausgleich durch das Streben nach Form. Frucht der Begegnung mit Italien war das kunsthistorisch bedeutsame Werk "Die italienische Schönheit" (1913). Es folgte ein reges Reiseleben, das ihn in fast alle Länder Europas führte. Von besonderer Bedeutung war neben einem längeren Sizilienaufenthalt eine 1912 unternommene Reise ins Baltikum, nach Finnland und vor allem nach Rußland. Mit leidenschaftlicher Hingabe und großem Kunstverständnis nahm er auf diesen Reisen den Geist und die Kultur der besuchten Völker auf. In diesem Sinne war er ein Musterbeispiel dessen, was Friedrich Nietzsche einen "guten Europäer" nennt.

Etwa 1907 hatte Moeller sich die Hörner abgestoßen, ohne jedoch etwas von seinem geistigen Elan zu verlieren. Nunmehr versuchte er, den Militärdienst, dem er sich bislang entzogen hatte, in Küstrin nachzuholen. Wegen seines Gesundheitszustandes wurde er jedoch nach kurzer Zeit wieder entlassen. Auch konnte er als empfindsamer Intellektueller nach Kriegsausbruch den an einen Landsturmmann gestellten Anforderungen nicht gerecht werden und wurde deshalb auf Betreiben von Freunden auf einen Schreibtischposten in der Auslandsabteilung der Obersten Heeresleitung versetzt. Hier arbeitete er u. a. zusammen mit Waldemar Bonsels, Herbert Eulenberg, Hans Grimm, Friedrich Gundolf und Börries von Münchhausen daran, insbesondere im neutralen Ausland Sympathien für Deutschland zu wecken. Ganz offensichtlich erweist sich dieses Amt als Wiege seiner späteren Publizistik, denn die hier entstandene und 1919 verbreitete Schrift "Das Recht der jungen Völker" enthält bereits im Kern alle grundlegenden Gedanken ebenso wie die charakteristischen Stilmerkmale. Auch bildete dieses Amt die Keimzelle für die Vereinigungen und Klubs, in denen sich Moeller in der kommenden Zeit bewegte.

Der Ausgang des Ersten Weltkriegs erschütterte auch Moeller zutiefst. Unverzüglich konzentrierte er alle seine Energien darauf, einen neuen Weg aus der politischen Ohnmacht aufzuzeigen und die geistigen Grundlagen für ein neues Reich der Deutschen zu legen. Der Zusammenbruch des Kaiserreiches löst bei ihm kaum Trauer aus, war in seinen Augen doch so viel marode gewesen, daß dessen Untergang nur noch eine Frage der Zeit war. Um so tragfähiger mußte der Entwurf eines neuen Reiches sein. Anstöße hierzu erhielt er durch Stimmen, die der kleindeutschen Lösung Bismarcks eine Reichsidee entgegenstellten, die auf dem Mythos eines Dritten Reiches beruhte. Dieser Mythos blickt auf eine lange Tradition zurück. Er speist sich einmal aus christlich-trinitarischer Quelle und hat zudem mit der Vorstellung vom Sacrum Imperium Romanum Nationis Germaniae einen mittelalterlich-historischen Hintergrund. In unterschiedlichen Ausformungen läßt er sich durch die Geistesgeschichte über Otto von Freising, Thomas Münzer, Lessing, Fichte und Schelling bis in die jüngste Zeit verfolgen. Um die Jahrhundertwende, die aus ihrem Endzeitbewußtsein nach einer neuen Ordnungsform strebte, übte dieser Mythos eine ganz besondere Faszination auf die Literatur aus, so z. B. Johannes Schlafs Roman Das dritte Reich (1899) oder Martin Wusts kulturphilosophische Analyse Das dritte Reich (1905). Auch auf europäischer Ebene finden sich zahlreiche Beispiele der Übertragung des mythischen Reichsgedankens in die Politik, so bei Charles Sorel in Frankreich, Alfredo Oriani in Italien und Fjodor Dostojewski in Rußland. Besonders beeinflußt wurde Moeller jedoch durch die Abhandlung "Die drei Reiche: Ein Versuch philosophischer Besinnung" (1916) von Gerhard von Mutius, dem späteren Vorsitzenden der deutschen Friedenskommission in Paris. Moeller erkannte die magische Kraft dieses Begriffes und stellte ihn deshalb in das Zentrum seines Werkes "Das dritte Reich" (1923). Doch es ist ein langer Weg, ehe er hier zu seiner neuen Staatsidee vorstößt. Sieben der acht Kapitel kritisieren den Parteienstaat sowie den Parlamentarismus, und erst das letzte Kapitel widmet sich der neuen Vorstellung. Moeller ist sich dabei dessen bewußt, daß er eine Art politische Utopie propagiert, denn das Dritte Reich "... ist immer nur verheißen. Und es wird niemals erfüllt. Es ist das Vollkommene, das nur im Unvollkommenen erreicht wird." So wie für Nietzsche der Übermensch eine nie erreichbare, jedoch extrem verpflichtende Projektion ist, so bleibt das Dritte Reich Idee, die gerade aufgrund ihrer utopischen Qualität auch die letzten Kräfte herausfordert. Stärkste Triebfeder ist dabei der Nationalismus. Gestaltungsprinzipien sind die über dem Staat stehende Gemeinschaft und die hierarchisch gegliederte ständische Ordnung. Bedeutsam ist, daß er die Gemeinschaft als Ideenträger nicht biologisch, sondern ausschließlich kulturell definiert. Moeller führt damit den Begriff der Kulturnation in sein Konzept ein. Mit seiner aristokratischen Ausrichtung zielt der neue Staat auf Elitebildung ab. Die Mitwirkung der Masse im liberalistisch-parlamentarischen System oder der politische Anspruch des klassenbewußten Proletariats werden ersetzt durch "eine Bewegung von oben". In diesen Vorstellungen kulminieren die Ideen der "Konservativen Revolution", so wie sie insbesondere von den Jungkonservativen vertreten wurden.

In Moeller einen Wegbereiter des Nationalsozialismus sehen zu wollen, wäre jedoch eine völlige Verkennung des Sachverhaltes. Nach einem Auftritt Hitlers 1922 im "Juni-Klub" urteilte Moeller über ihn: "Er war verkörperte Leidenschaft, aber ganz ohne Abstand und Augenmaß." Vor allem störte ihn Hitlers "proletarische Primitivität". Diese persönliche Abneigung gab er nie auf. Bedeutsamer sind hingegen die unüberbrückbaren geistigen Gegensätze. Nicht nur, daß Moeller dort, wo der Nationalsozialismus Biologie forderte, den Geist einsetzte, sondern es ging ihm in der politischen Praxis vor allem auch um die Überwindung von Gegensätzen, während der Nationalsozialismus diese Gegensätze im Sinne kämpferischer Selbstbestätigung geradezu suchte und sogar brauchte. Nach anfänglichen Bemühungen, Gedanken von Moeller zu vereinnahmen, ging der Nationalsozialismus auf entschiedene Distanz. Eine 1939 herausgekommene offiziöse Schrift von Helmut Rödel mit dem Titel "Moeller van den Bruck. Standort und Wertung" kommt zu dem Schluß: "Nicht Seher und Künder des Dritten Reiches ist Moeller van den Bruck, sondern letzter Konservativer. Von seiner politischen Welt führt kein Weg in die deutsche Zukunft, weil von ihm kein Weg zum Nationalsozialismus führt." Am 10. Juli 1939 untersagte Goebbels die Verwendung des Begriffes "Drittes Reich" als Staatsbezeichnung.

Die größten Gegensätze erblickte Moeller in dem Widerstreit von Intellektualität und Mythos, von Ost und West sowie von Nationalismus und Sozialismus. Seine Versuche, diese sich vielfach überlagernden Spannungen zu lösen, führten ihn zu einer Ostorientierung, die bis zu nationalbolschewistischen Positionen reichte. Mit dieser Orientierung war er keinesfalls ein einsamer Denker, denn jungkonservative Kreise und selbst erzkonservative Vertreter der Wirtschaft wie Hugo Stinnes mit seinem mächtigen "Reichsverband der deutschen Industrie" entwickelten ganz ähnliche Vorstellungen. Auch erwuchs der Blick nach Osten nur teilweise auf einer literarisch-romantischen Grundlage. Nach Versailles bot sich das gleichermaßen ausgegrenzte sowjetische Rußland als natürlicher Bundesgenosse an, selbst wenn man das Blutvergießen und den Terror der Revolution mit äußerstem Mißbehagen betrachtete. In welchem Maße sich gegensätzliche Positionen aufeinander zubewegten, illustriert das Beispiel Karl Bernadowitsch Sobelsohns, genannt Radek, sehr anschaulich. Radek, der 1918 illegal über Ostpreußen eingereist war, wurde im Februar 1919 als Drahtzieher des Berliner Spartakusaufstandes verhaftet. Die ihm in Moabit eingeräumten Haftbedingungen waren jedoch äußerst großzügig. Seine Haftzelle wurde zu einer Art politischer Salon, in dem er geradezu Hof hielt. Maßgebliche Politiker, Militärs und Industrielle scheuten sich nicht, zu ihm zu pilgern, um mit dem Vertreter des offensichtlich aufstrebenden Sowjetstaates zu verhandeln. Zu diesen Besuchern zählte auch Moeller.