25.04.2024

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17.06.00 Schnaubende Drachen

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 17. Juni 2000


Schnaubende Drachen
Von ESTHER KNORR-ANDERS

Wann und wo menschliche Phantasie die schnaubenden Ungeheuer erzeugte, blieb unerforscht. In aller Herren Ländern hatten sie ein Zuhause und sahen sich ähnlich. Sie waren schuppenbehaftete Reptile mit oft schlangenartigem, aber auch klobigem Körper, sie krochen auf kurzem, spitzkralligem Fußgebein, ihr Atem vermochte die Luft zu vergiften, sie spien Feuer, und manche hatten riesige Fledermausflügel, stürzten zum Entsetzen der Erdenbewohner aus Sturmwolken herab. Der Schwanz war lang, konnte eingeringelt werden, der Kopf glich dem eines Krokodils oder – in kleinerer Ausgabe – dem einer Agame, eines Leguans, eines Feuersalamanders; Tierarten, die realiter in der Natur existieren.

Die mythischen Drachen schillerten farbenprächtig: golden, türkisgrün, himmelblau, rubinrot. Ihr Dasein verbrachten sie auf Bergen, in Höhlen, Felsspalten und an Quellen. Ihre Aufgabe war es, Schätze zu bewachen, vornehmlich Gold und Edelgestein. Dies brachte sie in Kollisionssituationen mit Menschen, die ihrerseits Goldwerte raffen, verstecken und bewachen.

Ragnar Lodbrok, ein Held der nordischen Mythologie, überwältigte einen solchen, auf Gold kauernden Drachen. Das war so geschehen: Der schönen Thora Vorgarthiörtr war ein winziger, harmlos anzuschauender "Lyngormr" (Lindwurm) geschenkt worden, den sie in ein Kästchen mit Gold legte. Der Lyngormr aber wuchs und wuchs und mit ihm vermehrte sich das Gold. Niemanden ließ er in Schatznähe kommen. Ein Aufruf an das Volk erging: wer den Drachen erlegte, sollte Thora zur Braut und das Gold zur Familiengründung erhalten. Ragnar ließ sich das nicht zweimal sagen …

Unvergessener Vorzeigedrachen deutscher Lande ist jedoch jener, der dem Nibelungen-Helden Siegfried in die Quere kam. Keinen Zeitgenossen würde ein krokodilartiges Ungetüm in einem lauschigen Wald zu längerem Verweilen anregen. Siegfried bildete die rühmliche Ausnahme. Wer den Stummfilm "Die Nibelungen" (1924) des Regisseurs Fritz Lang kennt, erinnert sich einer traumdämonischen Szene: Siegfried reitet auf fahlem Ross durch eine gespenstische Waldkulisse der Quelle mit dem Drachen entgegen, die von einem Lindenbaum beschatten wird. Heimtückisch blinzelnd, rauchschnaubend wälzt sich der Koloß – gesteuert von in ihm verborgenen 24 Statisten – über den Fels hinab. Der siegreiche Kampf Siegfrieds beginnt. Anschließend badet der Held im Blut des Drachen, das Überlieferungen zufolge unverwundbar macht. Doch ein Lindenblatt fällt während des Bades vom Gezweig, bleibt auf dem Rücken Siegfrieds haften, verursacht die schicksalsträchtige, ungeschützte Stelle. Hagen von Tronje, unverbrüchlicher Vasall König Gunthers, wird sie zielsicher treffen; ein Weltrekord-Speerwurf, der den Untergang der Nibelungen besiegelt …

Gefährlichster Drache der altnordischen Sagenwelt ist "Nidhoggr", der "voller Haß Beißende". Unablässig benagt er die Wurzeln der Weltenesche Yggdrasil, und es bleibt zu hoffen, daß der Baum noch eine Weile hält, denn mit ihm endet alles Erdenleben.

Im christlichen Abendland waren Drachen ihres Lebens nicht sicher. Sie versinnbildlichten das Böse, die dunkle Versuchung, den Satan schlechthin. "Drachentöter", männliche und weibliche, mußten erfunden werden. Berühmtester unter ihnen wurde der heilige Georg. Er befreite die Königstochter Cleolinda aus den Fängen des Untiers in der Nähe der Stadt Selene in Libyen. Danach traten die Einwohner scharenweise zum Christentum über. Zwei Frauen, die heilige Margareta und die heilige Martha, nahmen es mit Drachen auf. Margareta befreite sich mit Hilfe des Kreuzes aus dem Leib des Freßgierigen, der sie verschlungen hatte; Martha hatte es einfacher: geistesgegenwärtig benutzte sie Weihwasser zur Tötung des Drachen, und der – so ist anzunehmen – schlief ein und verblich.

Schon in der Bibel trieben Drachen ihr Unwesen. Im Alten Testament werden sie Leviathan (ein Meerdrache), Rahab, Beliar genannt. Sie wurden nicht getötet; sie schlafen und warten darauf, die Endzeit der Erde einzuleiten. Auch im Neuen Testament, in der Offenbarung des Johannes, schlummert der Drache als Monstrum im Abgrund, jederzeit bereit die Welt zu zerstören: "Ein großer roter Drache, der hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen, und sein Schwanz fegte den dritten Teil der Sterne des Himmels hin-weg …"

In Griechenland traten Drachen, oft in mächtiger Schlangengestalt, in Erscheinung. Um nur ein Beispiel anzuführen: Der hundertköpfige Ladon bewachte die Äpfel der Hesperiden, der Töchter des Abends. Diese Äpfel verhießen ewige Jugend; Herakles sollte sie als eine seiner zwölf Arbeiten für König Eurystheus stehlen. Er tötete Ladon und zog mit drei Äpfeln davon. Herakles und der Drache wurden als Sternbilder an den nördlichen Himmel versetzt; 220 Sterne bilden den Leib des Drachen.

Viele Drachen verkörperten keineswegs nur Urängste der Menschen, die Unwägbarkeit von heut und morgen. Schauen wir uns in Japan und China um. Dort war und ist ihnen Verehrung sicher, weil sie über die Fähigkeit verfügen, "die Wasser des Himmels zu spenden oder zu versagen". Berge und Flüsse wurden nach ihnen benannt. Nur der Kaiser und hohe Hofbeamte durften ein Drachenmotiv am Gewand zeigen. Dem japanischen "Shokusin" ist ein Menschenantlitz eigen, 300 Kilometer mißt sein feuerroter Leib. Schläft er, wird es Nacht und bei seinem Erwachen Tag; atmet er ein, blüht der Sommer, atmet er aus, wintert es.

Schrecken lösen in Japan gefundene "Dracheneier" aus. Man glaubt, daß sie 1000 Jahre im Meer liegen, ebenso lange im Gebirge und dann auf unerklärliche Weise in ein Dorf geraten. Als wundervoll schimmernde Steine verlocken sie die Einwohner, den kostbaren Fund mit in die Häuser zu nehmen. Doch die Freude dauert nicht lange. In jedem Stein lebt ein Wurm, der eines Tages sein Gehäuse sprengt und in Windeseile zum gewaltigen Drachen erwächst; mit Getöse bricht er durch das Dach und entweicht zum Himmel …

"Long" erfreut sich in China herzlicher Beliebtheit. Er ist wohltätiger "Regenmacher", denn er gebietet über das Wasser der Wolken, der Meere, Seen und Flüsse. In jedem Tümpel kann er stecken. Schön ist er nicht mit seinem Kamelskopf und Tigerpfoten. Aber das sieht man ihm nach, wenn er nur den Reis gedeihen läßt. Glückverheißendes Kultbild eines Drachen aber ist jener, der die "Perle der Vollkommenheit", die "alle Wünsche gewährt", im Maule hält. Diese "Perle" versinnbildlicht auch Sonne und Mond.

Schließen wir mit der indischen Hindu-Mythologie und ihrer Drachengottheit "Vitra". Sie ist gefürchtet, denn sie speichert das Wasser der Äcker in ihrem Körper und verursacht katastrophale Dürrezeiten. Doch gnädigerweise wird sie Jahr für Jahr von dem Regengott Indra durch einen Blitz erschlagen. Dann setzt der erflehte Monsun ein.

Daß es unter den unzähligen Drachen solche mit Menschengesichtern gibt, wurde schon gesagt. Aber es gibt auch Menschen, die wir insgeheim als "Drachen" einstufen. Zwar speien sie nicht Feuer, spucken aber hin und wieder Gift und Galle. Das jedoch wäre kein sagenkundlicher Bericht, sondern ein Erfahrungstext.