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17.06.00 Herausforderung für die europäische Rechtsordnung

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 17. Juni 2000


Diskussionsrunde: Vertreiberstaaten und die EU
Herausforderung für die europäische Rechtsordnung

Noch heute sind in Polen, Tschechien und Slowenien Dekrete in Kraft, die unter Bruch aller Normen die Deutschen 1945 entrechteten. Bald sollen die drei Länder EU-Mitglieder werden. Gehören die Dekrete dann der Vergangenheit an, werden sie endlich aufgehoben?

Unter dem Titel "Die Vertreibungs- und Entrechtungsdekrete, die Osterweiterung der EU und die  europäische Rechtsordnung" machte die Landsmannschaft Ostpreußen (LO) diese Frage zum Thema ihrer Podiumsdiskussion des diesjährigen Deutschlandtreffens.

Als Teilnehmer stellten sich der SPD-Bundestagsabgeordnete Rainer Fornahl, der sächsische CDU-Fraktions- und Landesvorsitzende Fritz Hähle, Brandenburgs Jusitz- und Europaminister Kurt Schelter (CSU), die CDU-Europaparlamentarierin Brigitte Wenzel-Perillo sowie die CDU-Bundestagsabgeordnete und Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV) Erika Steinbach den über 1000 Mitdiskutanten im Plenum.

Nach der Begrüßung durch den stellvertretenden LO-Sprecher Bernd Hinz machte Diskussionsleiter Reinhold Schleifenbaum deutlich, daß die Bundesregierung die Entrechtungsakte (am bekanntesten sind die tschechischen "Benesch-Dekrete") immer als rechtswidrig betrachtet habe. Auch Nachbarschafts- und Grenzbestätigungsverträge hätten daran nichts geändert. Polens Innenministerium habe indes erst kürzlich wieder darauf hingewiesen, daß die Entrechtungsdekrete in seinen Augen fortbestünden.

BdV-Präsidentin Steinbach hob hervor, daß sich in den Köpfen unserer östlichen Nachbarn dennoch schon sehr viel bewegt habe. Gerade die Vertriebenen hätten mit ihrer Charta von 1950 den Grundstein gelegt für eine Versöhnung, die jetzt auch bei Polen und Tschechen zunehmend Gestalt gewinne. "Die Vertriebenen wollten schon 1950 das vereinte Europa unter Einschluß des Ostens." Daher sei ihnen die EU-Erweiterung heute ein großes Anliegen und nicht bloß eine Frage von Milchquoten und ähnlichem.

Doch, so Frau Steinbach, Vertreibung sei "eine Menschenrechtsverletzung, die niemals verjährt". Der BdV habe unmißverständlich festgestellt, daß sich die Entrechtungsdekrete nicht mit der europäischen Rechtsordnung vertragen. Wer jetzt im Zuge der Beitrittsverhandlungen über diese Tatsache hinwegsehe, tue der EU keinen Gefallen – und den ostmitteleuropäischen Beitrittskandidaten ebensowenig. Es gebe positive Beispiele wie etwa Ungarn, das eine symbolische Heilung der Vertreibungsverbrechen an den Deutschen vollzogen habe.

Auch Kurt Schelter lobte den Beitrag der Vertriebenen bei der Versöhnung wie beim Wiederaufbau in ihrer alten Heimat während der vergangenen zehn Jahre. Mit dem EU-Beitritt Polens und Tschechiens würden die Polen und Tschechen, die deutschen Vertriebenen und Heimatverbliebenen allesamt Unionsbürger gleichen Rechts. Der brandenburgische CSU-Politiker warnte Warschau davor, den Deutschen durch lange Übergangsfristen die Niederlassungsfreiheit in Polen streitig zu machen. Die EU arbeite an einer gemeinsamen Charta der Grundrechte. Schelter versprach: "CDU und CSU werden sich dafür verwenden, daß in diese Charta auch das Recht auf die Heimat integriert wird." Nur Recht könne dauerhaft Frieden stiften.

Für die Leipziger Europa-Politikerin Wenzel-Perillo ist die Osterweiterung der EU in der Bedeutung nur vergleichbar mit der Gründung der EWG 1957. Dabei sei die Übernahme des EU-Rechts durch die Neumitglieder unerläßlich. Die Kopenhagener Kriterien der EU hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Minderheitenschutz seien eindeutig. Die fortbestehenden Nachkriegsdekrete Polens und Tschechiens seien mit dem EU-Rechtsverständnis unvereinbar. Auch Kanzler Schröder habe sich gegen Schlußstrich-Debatten gewandt, gleichwohl müsse der Blick in die Zukunft gerichtet sein, die Unrechtsdekrete dürften diese nicht länger belasten. Manche hofften da auf die "biologische Lösung" durch Aussterben der Vertriebenen, ein Wort, das schlicht "menschenverachtend" sei, so Frau Wenzel-Perillo.

SPD-Politiker Rainer Fornahl, auch Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Europaangelegenheiten, stellte ebenso heraus, daß "zukunftsorientiert" in den Augen des Kanzlers nicht bedeuten könne, daß historische Fakten nicht mehr genannt werden dürften. Hinsichtlich der Unrechtsdekrete nahm der Sozialdemokrat eine andere Position ein als die übrigen Podiumsgäste. Die tschechische Führung habe die Benesch-Dekrete für "erloschen" erklärt. Für ihn stehe fest, daß die Beitrittskandidaten "ohne Wenn und Aber" auf der Basis der europäischen Rechtsordnung stünden.

Fritz Hähle wies auf einen Beschluß des Sächsischen Landtages hin, daß die Regelung der Rechtsfragen Vorrang habe vor dem Zeitplan des EU-Beitritts. Das Recht auf die Heimat sei für Sachsens Parlament eine "unverzichtbare Beitrittsbedingung".

Einige Bewegung kam in die Debatte, als die Frage auftauchte, ob denn die Aufhebung der Unrechtsdekrete nun wirklich zur Voraussetzung gemacht werde für den EU-Beitritt Polens und Tschechiens. Erika Steinbach räumte ein, daß es keine Partei im Bundestag gebe, welche die Osterweiterung wegen der Entrechtungsdekrete scheitern lassen wolle. Auch Europaparlamentarierin Wenzel-Perillo machte klar: Das Straßburger Parlament habe zwar die Abschaffung der Dekrete "angemahnt" und dies "nach Möglichkeit vor dem Beitritt". Das sei aber "keine Bedingung" für die EU-Aufnahme Polens und Tschechiens. Kurt Schelter forderte die Vertriebenen zur Geduld auf – nur weil man sie jetzt nicht beseitigen könne, heiße das ja nicht, daß man die Dekrete später einmal nicht doch noch angehe.

SPD-Politiker Fornahl hob hervor, daß auch in seiner Partei heute mehr Offenheit herrsche für Anliegen und Schicksal der deutschen Vertriebenen als noch vor Jahren. Daß Kanzler Schröder auf dem diesjährigen Tag der Heimat spreche, mache das sichtbar.

Erika Steinbach strich heraus, daß man als Vertriebener nach allen Seiten gesprächsbereit bleiben müsse – auch gegenüber Andersdenkenden. Sie arbeite zäh daran, das Vertriebenenschicksal zum Thema in allen Bundestagsparteien zu machen. Dafür sei Offenheit und Gesprächsbereitschaft unerläßlich, statt "mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, obwohl es auch eine Tür gibt, zu der man den Schlüssel finden muß".

Zum Abschluß einer zum Teil äußerst lebhaften Plenardiskussion ermunterte Bernd Hinz die Politiker, beim Knüpfen von Kontakten zu Prag und Warschau als Anregung aufzunehmen, was auf der Ebene der kommunalen Zusammenarbeit schon Wegweisendes erreicht worden sei. H. T.