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24.06.00 17. Juni 1953: Die Lügen der Chronisten

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 24. Juni 2000


17. Juni 1953: Die Lügen der Chronisten
"Putsch der Faschisten": Wie linke Literaten den ersten
antikomunistischen Volksaufstand der Welt denunzierten
Von THORSTEN HINZ

Erich Mielke stellte am 31. August 1989 in einer Dienstbesprechung die bange Frage: "Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?" Die Anspielung auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 war nicht zufällig. Denn dieses Datum markierte das zentrale Trauma, das die DDR-Führung während ihrer 40jährigen Herrschaft nur verdrängen, aus objektiven Gründen aber nie überwinden konnte. Damals war offenbar geworden, daß trotz 99prozentiger Zustimmung bei den "Volkswahlen", des verordneten Jubels bei Massenaufmärschen und der endlosen Meldungen über begeisterte Planerfüllungen in den Betrieben, die SED-Politbürokraten die verhaßten Satrapen der russischen Besatzer geblieben waren. Allein die russischen Panzer hatten Ulbricht und Genossen 1953 gerettet.

Stasi-Minister Mielke war wohlinformiert darüber, daß sich an dieser Ausgangslage nichts geändert hatte und die Regierung bei einer neuen weltpolitischen Lage vom eigenen Staatsvolk hinweggefegt werden würde. Und die Weltpolitik war längst in Bewegung geraten. Die SED konnte sich nicht mehr sicher sein, ob Gorbatschow nochmals russische Panzer auffahren lassen würde!

In Westdeutschland wurde der 17. Juni als "Tag der Deutschen Einheit" begangen, eine Interpretation, die "aber schon nach einem Jahrzehnt im Zuge der wachsenden westdeutschen Bereitschaft, die Zweistaatlichkeit nach dem Mauerbau hinzunehmen, ins Wanken" geriet (Lutz Niethammer). Als arbeitsfreier Tag war der 17. Juni willkommen, im übrigen blieb er eine DDR-interne Angelegenheit, ein Tag des "Arbeiterprotests". Mit dieser Erklärung ließ der Aufstand sich sogar noch für eine linke Weltanschauung retten. Signalisierte er denn nicht einen Einsatz für einen besseren, einen demokratischen Sozialismus, aber für einen Sozialismus jedenfalls? Die Verbindung von sozialem und politischen Protest mit dem nationalen Impuls wurde zunehmend als suspekt angesehen – eine snobistische Überheblichkeit, die 1980 auch die polnische Solidarnosc zu spüren bekam. Spuren dieses geschichtsblinden Hochmuts fanden sich noch im ursprünglichen, 1998 vorgestellten Plan für das Denkmal zum 17. Juni in Berlin wieder – eine in das Straßenpflaster eingelassene Leuchtinstallation, die die Worte schreibt: "Wer bin ich denn, daß ich sagen könnte, eine Heldentat?" Wer so fragt, hat keine Ahnung, daß es auch Bewährungssituationen jenseits der Spaßkultur gibt!

In der DDR hat eine freie Diskussion über den 17. Juni und seine Bedeutung nie stattgefunden. Die Akten verschwanden oder wurden unter Verschluß gehalten, und eine ergebnisoffene Forschung hätte geradewegs ins Gefängnis geführt. Nachdem die russische Besatzungsmacht am Nachmittag des 17. Juni die Machtfrage geklärt hatte, legte das "Neue Deutschland" auch die Sprachregelung fest, die, von einigen Modifizierungen abgesehen, bis 1989 gültig blieb. "Zusammenbruch des faschistischen Abenteuers", triumphierte das SED-Zentralorgan am 19. Juni.

In der DDR-Literatur, einst als authentische "Gegenöffentlichkeit" hofiert, blieb der Ertrag ebenfalls mager. Die berühmte Anna Seghers folgte in ihrem Roman "Das Vertrauen" (1968) weitgehend der offiziellen Parteilinie. Stefan Heyms Buch "Fünf Tage im Juni" (1959/74) ist zwar SED-kritisch, in modernistischer Machart verfaßt und deswegen in der DDR verboten worden, doch zur fälligen Systemfrage drang auch Heym nicht vor. Im Roman "Auf der Suche nach Gatt" (1973) des allzeit linientreuen Erik Neutsch wurde der Titelheld am 17. Juni von gewalttätigen "Konterrevolutionären" niedergeschossen. Das gemeinste Dokument aber stammt von Stephan Hermlin, dessen Erzählung "Die Kommandeuse" (1954) aus einem Propaganda-Coup der SED einen zeitgeschichtlichen Mythos machte, den selbst Kritiker nie in Zweifel zu ziehen wagten. Am 17. Juni, lautete die propagandistische Vorlage, sei die verurteilte "KZ-Bestie" (E. Loest) Erna Dorn aus dem Gefängnis Halle a. d. Saale befreit worden. Anschließend habe sie die Menschen gegen den antifaschistischen Staat aufgehetzt und wurde dafür zum Tode verurteilt. Bei Hermlin heißt die KZ-Kommandeuse Hedwig Weber, Gesinnungsgenossen holen sie aus dem Gefängnis "Saalfeld". Während sie sich darauf freut, "bald wieder (ihre) geliebte SS-Uniform" anzuziehen und mit dem "roten Pack" abzurechnen, wird dieser Aufstand der Unterwelt rasch niedergeschlagen, sie selber verhaftet und schließlich – Gerechtigkeit muß sein – zum Tode verurteilt. Hermlin hat sich nach eigenen Angaben auf Gerichtsakten gestützt. Vor allem aber hat er in seiner Auftragsarbeit nicht bloß die SED-Lügen in elegante literarische Formen gegossen, sondern auch einen Justizmord gerechtfertigt. Denn neuere Studien haben zutage gefördert, daß die Herkunft der Dorn in Wahrheit nach wie vor unbekannt ist und es sich um eine hilflose, womöglich schwachsinnige Person handelte.

Publizistisch waren die DDR-Autoren ebenfalls nur Getriebene und fühlten sich der angegriffenen SED-Führung näher als den Protestierenden. In Umkehrung eines bekannten Goethe-Ausspruches konnten sie von sich sagen, an diesem Tag nicht bzw. nur als Objekte dabeigewesen zu sein! Ihr Verbandshaus in Berlin-Mitte lag nur ein paar Steinwürfe vom "Haus der Ministerien" entfernt, wohin die Bauarbeiter der Stalinallee zogen, um von der DDR-Regierung Rechenschaft zu verlangen. Die Demonstranten rüttelten auch an der verschlossenen Tür des Schriftstellerhauses, so daß die versammelten Autoren sich für einen Verteidigungskampf von Stockwerk zu Stockwerk rüsteten. Der Verbandssekretär Kurt Barthel (genannt "Kuba") geriet in Panik. Die Fama geht um, er habe hilfesuchend bei Brecht angerufen, doch der habe nur gespottet: "Kuba, Deine Leser kommen!"

Erst, als "es gefahrlos war, schwärmten die Schriftsteller aus" (S. Heym), agitierend, schreibend, Resolutionen verabschiedend. Vereinzelt übten sie Kritik an "Überspitzungen" der SED-Politik, doch vor allem wollten sie dem politischen Bewußtsein der Massen auf die Sprünge helfen. Selbst ein aufmüpfiger Zeitgenosse wie Erich Loest, der 1956 für acht Jahre ins Zuchthaus gesteckt wurde, fiel als Konsequenz aus den Ereignissen nur eine aufgeklärt-nachsichtige Erziehungsdiktatur von Partei und Regierung ein. Unter dem Titel "Elfenbeinturm und Rote Fahne" schrieb er: "Sie müssen aufmerksam auf das lauschen, was die Massen denken, sprechen, wollen, sie müssen gewissenhaft und liebevoll bemüht auf diese Gedanken, Gefühle und Wünsche eingehen und sie behutsam und geschickt in die Richtung lenken, die den Massen den größten Nutzen bringt." Fast keinem Schriftsteller war bewußt, was die historische Stunde tatsächlich geschlagen hatte.

Brecht ließ es zu, daß seine verhaltene Kritik an Ulbricht durch Verstümmelung seines Briefes in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Erwin Strittmatter monierte die fehlende Offenheit in der Presse, war sich aber gleichzeitig sicher: "Hier demonstrieren streikende Arbeiter gegen sich selbst." Dem jungen Dieter Noll, der später mit dem Flak-Helfer-Roman "Die Abenteuer des Werner Holt" (1960) auch im Westen bekannt wurde, verhalf das "Putsch-Abenteuer der Faschisten" zu neuer Landserromantik: "Ich habe seitdem Nacht für Nacht im Betrieb Wache gehalten, in einem Verlag, der die Bücher von Lenin, Puschkin und Thomas Mann herausgibt."

In der selbstkritischen und selbstironischen Autobiographie "Durch die Erde ein Riß", die 1981 im Westen erschien, hat Erich Loest anschaulich beschrieben, welches Kesseltreiben nach seinen gut gemeinten Presseartikeln gegen ihn einsetzte. Er wurde nun selber als "faschistischer Provokateur" bezeichnet, ihm drohte der Ausschluß aus dem Berufsverband, er fürchtete seine Verhaftung.

Er verschwieg allerdings, wie intensiv er danach Selbstkritik an seinen "begangenen Fehlern nach dem 17. Juni 1953" übte. In einem neunseitigen Schreiben versicherte er, der "faschistische Charakter der Provokation am 17. Juni (…) war mir von der ersten Stunde an klargeworden". In seiner Not beschuldigte er Georg Stibi, den Chefredakteur der "Leipziger Volkszeitung": "Hätte mich der Genosse Stibi damals mündlich oder schriftlich auf meinen Fehler aufmerksam gemacht, hätte ich spätere Fehler nicht begangen." Das Dokument der erpreßten Selbstverleugnung endete mit einem Kniefall: "Ich stehe zur Partei, und ich kämpfe darum, ihr weiter anzugehören. Ich bitte die Partei, mir dabei zu helfen."

Das erstaunlichste Zeugnis jener Tage und Wochen aber stammt von dem längst vergessenen Schriftsteller Karl Grünberg (1891–1972). Grünberg war ein Altkommunist und gehörte in den zwanziger Jahren zum "Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller". Sein Aufsatz "Was sagen die SED-Genossen?" beschreibt in bitteren Worten die Zerstörung seiner jahrzehntelang gehegten Sozialismus-Träume durch die SED und zeigt zugleich, wieviel man 1953 auch aus linker Perspektive über die Aussichtslosigkeit des Projekts "DDR" wissen konnte – wenn man bereit war, ideologische Scheuklappen abzulegen!

Grünberg stellte in der Bevölkerung "tiefe Depression" und "Angst" fest, die von der "gleichgeschalteten Presse" jedoch übergangen würden. Die Reparationslasten, die das zerstörte Land zu tragen habe, der gleichzeitige Aufbau einer Armee und der Schwerindustrie, stellten eine Überforderung dar: "Nun ist der überspannte Bogen gerissen und nun sagt man zu uns: schämt euch mal." Die Eruption vom 17. Juni sei keine Überraschung gewesen: "Ich wußte, daß wir wenig beliebt, ja sogar verhaßt waren." Er warnte vor dem Glauben, der Bestand der DDR sei nun gesichert: "Ich meine, wir sind längst nicht über den Berg, denn auf sowjetischen Bajonetten kann man nicht lange sitzen."

Durch den 17. Juni sei die nationale Rhetorik der SED widerlegt worden: "Aus unserer Propaganda müssen wir die Forderung nach gesamtdeutschen Wahlen und Abzug aller Besatzungstruppen streichen, denn das nimmt uns keiner mehr ab. Ohne das Eingreifen der Sowjetfreunde wäre es uns sehr, sehr bescheiden gegangen." Bei freien Wahlen würde die SED nur zehn Prozent der Stimmen erhalten. Die Funktionäre lebten in einer "selbstgewählten splendid-isolation, in der sie ihre Wünsche und Ideen für die Wirklichkeit nehmen. Etwas ähnliches habe ich schon einmal 1932/33 erlebt, wo wir uns auch allerlei über den wachsenden revolutionären Willen der Massen vorgaukelten. Anscheinend ist nichts gelernt worden."

Die säuberliche Unterscheidung, ob der Aufstand vom 17. Juni nur ein sozialer oder auch ein politischer Protest war, ob er eine innersozialistische Reformbewegung darstellt, in welche die Forderung nach der deutschen Wiedervereinigung von "westlichen Agenten" künstlich hineingetragen wurde, erscheint angesichts von Grünbergs frühen Einsichten müßig. Die sozialen Konflikte in der DDR konnten von den polischen Rahmenbedingungen nicht losgelöst werden, und daß politisch freie DDR-Brüger umgehend auch die Lösung der offenen deutschen Frage herbeigeführt hätten, kann als absolut sicher gelten. Das DDR-Gebilde wäre vom Erdboden verschwunden, die deutsche Teilung binnen Tagen aufgehoben worden.

Angesichts der globalen Kräfteverhältnisse aber konnte der 17. Juni nicht gelingen. Die Amerikaner fürchteten eine militärische Konfrontation mit den Russen und weigerten sich zum Beispiel, den Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter, der zu diesem Zeitpunkt in Wien weilte, mit einer Militärmaschine nach Berlin einzufliegen und ihn eine auf russisch verfaßte Ansprache an die Soldaten der Roten Armee verlesen zu lassen.

Der moralische Gewinn hingegen, der sich noch nach fast fünfzig Jahren aus diesem Ereignis ziehen läßt, ist enorm. Das Klischee, die Deutschen seien durchweg autoritätshörig, politisch desinteressiert und auf machtgeschützte Innerlichkeit versessen, wurde durch den Aufstand widerlegt. Dieser frühe Aufstand gegen die zweite deutsche Diktatur war zugleich der erste innerhalb des roten Imperiums! Der 17. Juni 1953 ist ein Datum, an das sich voller Stolz erinnern läßt!

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