16.04.2024

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01.07.00 Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq entzaubert die Mär vom Glück grenzenloser Freiheit

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 01. Juli 2000


Gemeinsam einsam
Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq entzaubert die Mär vom Glück grenzenloser Freiheit
Von OLIVER GELDSZUS

Der Fluch der Freiheit – wer wüßte davon nicht mehr zu berichten als die modernen Singles. Von den unglücklich Verheirateten heimlich beneidet und still bewundert, verkörpern sie die hedonistische Ungezwungenheit der derzeitigen materiell orientierten Welt, doch der Schein trügt oft.

Singles, zu deutsch: Alleinstehende, sind ein Produkt der modernen moralischen Beliebigkeit der Nachkriegsära. Im Kaiserreich betrug der Anteil der Einpersonenhaushalte gerade einmal sieben, bis zum Zweiten Weltkrieg etwa zehn Prozent. Die Alleinstehenden waren in der Regel ungewollt vereinsamt: Witwen, die ihren Ehegatten überdauert hatten, Hagestolze am Rande des Verdachts der Homosexualität oder alte Jungfern, für die der Zug des Lebens längst abgefahren war und über die Wilhelm Busch spottete: "Es ist ein Brauch von alters her: Wer Sorgen hat, hat auch Likör."

In der Tat hatten die Vorkriegs-Singles eine bedenkliche Nähe zum Alkohol, und da sie mehr oder weniger Außenseiter waren, mußten sie oft auch Häme und Spott über sich ergehen lassen. Liebevoll nahm sich der einsamen Junggesellen die Literatur an; vor allem Thomas Mann legte viel Wert auf die sorgfältige Beschreibung seiner skurrilen Außenseiterfiguren im Frühwerk. Mit einem ganz anderen Selbstbewußtsein sind dagegen die heutigen Singles in den deutschen Großstädten ausgestattet. Denn im Gegensatz zu ihren Vorgängern haben sie den Einpersonen-Haushalt oft freiwillig gewählt. Den Familienstatus – früher das non plus ultra für einen geordneten gesellschaftlichen Aufstieg, um nicht in einen verdächtigen Ruf zu geraten – lehnen sie ab; es lebe die Freiheit von Zwang und Verpflichtung. Eine soziale Ächtung braucht der moderne Single nicht mehr zu fürchten; ganz im Gegenteil. Single-Haushalte machen mittlerweile etwa ein Drittel der Gesamt-Haushalte aus. Aus der Wohnform alter, verwitweter Menschen ist das Domizil der vermeintlich Schönen, Erfolgreichen geworden. Längst hat die Werbewirtschaft diese interessante, da in der Regel vermögende und kauforientierte Klientel entdeckt. Für Werbestrategen gelten sie als "Speerspitze des Wertewandels".

So ist diese begehrte Bevölkerungsgruppe bereits hinlänglich statistisch erfaßt: Rund ein Viertel der Deutschen zwischen 25 und 35, so weiß man, lebt derzeit allein. In der Mehrheit sind Singles Männer, über die Hälfte der Alleinstehenden lebt in Großstädten, vor allem in Berlin, Hamburg, Köln und München.

Doch ist das Single-Dasein keine rundherum glückliche Angelegenheit. Die Ambivalenz zwischen Freiheit und Einsamkeit ist für die Protagonisten oft erdrückend. Auch darüber haben sich die Statistiker längst Klarheit verschafft: die Hälfte der jungen dynamischen Alleinstehenden sehnt sich nämlich durchaus nach einem festen Partner und nach einer Familie. Da ist sie wieder, die fatale Crux des Alleinseins. Oftmals ist die Freiheit nicht so freiwillig gewählt, wie es auf den ersten Blick scheint.

Singles sind eine logische Folge des Wertewandels und -verfalls im Gefolge der 68er. Dem Verlust der Familie folgt automatisch der Auftritt des Individualisten. Die vollkommene sexuelle Freiheit sicherte seit Ende der sechziger Jahre die Anti-Baby-Pille. Doch die sexuelle Befreiung führte nicht unbedingt zur sexuellen Befriedigung. Der Hamburger Soziologe Gunter Schmidt hat dazu jüngst nüchtern festgestellt: "Singles produzieren mit viel Aufwand wenig Sex, ihre Welt ist eher grau".

Die meisten Singles schätzen an ihrer Solistenrolle ihre persönliche Freiheit, ihre Unabhängigkeit. Auf der anderen Seite wenden sie ein hohes Maß ihrer Freizeit auf, um ihr eigenes Dasein zu überwinden und den Prinzen oder die Prinzessin zu finden. Seit Jahren verzeichnen Partnerschaftsagenturen in den deutschen Großstädten steigende Umsätze. Am Wochenende drücken sich die Singles in düsteren Clubs und Diskotheken herum und suchen die Barrieren ihrer Einsamkeit zu überwinden. Doch selbst der einst als Form der sexuellen Freiheit gepriesene "One-Night-Stand" scheint immer seltener zu gelingen – 90 Prozent des heterosexuellen Geschlechtsverkehrs findet in festen Beziehungen statt, so die Analyse von Schmidt. Singles werden immer öfter auf Nulldiät gesetzt und klagen in statistischen Erhebungen über Einsamkeit und ein unbefriedigtes Dasein. So liest sich das Alleinsein im Endeffekt nüchterner, als die Fassade zunächst herzumachen scheint. Getrieben von dem Drang nach maximaler Lust bleibt oft nur der Frust – und irgendwann die Erkenntnis, daß ein Leben ohne familiären Zwang auch nicht erfüllter gewesen ist. "Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei", wußte schon Goethe.

Nüchtern, mit bestechendem Blick hat der Franzose Michel Houellebecq in seinem jüngsten Roman "Elementarteilchen" das gesellschaftliche Produkt der letzten Jahrzehnte aufs Korn genommen – und der Single kommt nicht gut dabei weg. Das Buch ist ein Skandal, eben weil es die Abrechnung mit der Moderne sucht und findet. In seinem Roman rückt Houellebecq zwei Halbbrüder in den Mittelpunkt, die die unterschiedlichen Facetten des Single-Daseins repräsentieren. Ihre gemeinsame Mutter hat sich ganz dem Lockruf der 68er nach sexueller Befreiung hingegeben; eine Familie haben beide nie kennengelernt. So wachsen Bruno und Michel vereinsamt auf – bei den Großeltern, im Internat.

Der ältere, Bruno, wird zum Erotomanen, wenngleich einem erfolglosen. Denn das ist die schonungslose Theorie von Houellebecq: Liebe und Sitten können noch so frei sein, die sexuelle Befriedigung bleibt im Endeffekt nur den natürlich Bevorzugten, den jungen Schönen vorbehalten, die anderen gehören zu den Verlierern: "Ohne Schönheit ist ein junges Mädchen unglücklich, denn es hat keine Chance, geliebt zu werden." Bruno ist feist und bleich – er gehört von vornherein zu den Verlierern des Lebens. Ihm ist ein unbefriedigendes Dasein vorherbestimmt. "Der Sommer `76 war vermutlich die schlimmste Zeit in Brunos Leben. Es herrschte eine Gluthitze. Die Mädchen trugen kurze, durchsichtige Kleider, die ihnen am schweißnassen Körper klebten. Er lief ganze Tage mit vor Begierde geweiteten Augen durch die Stadt. Mehrere Male versuchte er, Mädchen auf der Straße anzusprechen, er erhielt zur Antwort nur Erniedrigungen." Erleichterung findet er in zweifelhaften Etablissements.

Schließlich wird Bruno noch zum Ehemann und Familienvater – aber glücklich wird er nicht. Anders sein Halbbruder Michel: Er hat aus dem elenden Treiben auf Erden den Schluß gezogen zu entsagen. Anstatt wie Bruno am Leben zu scheitern, versucht er es zu ergründen: "Konnte man Bruno als Individuum betrachten?" denkt er etwa, als sein Bruder larmoyant seinen Rotweinvorrat leertrinkt. "Das Verfaulen seiner Organe betraf nur ihn selbst, er würde den körperlichen Verfall und den Tod als individuelle Erfahrung erleben. Seine hedonistische Lebenseinstellung und die Kräftefelder seines Bewußtseins waren dagegen seiner ganzen Generation zu eigen. Ebenso wie man einem atomaren System ein bestimmtes Verhalten – Teilchen- oder Wellenbewegung – zuweisen kann, so konnte auch Bruno als Individuum angesehen werden, aber auf der anderen Seite war er nur ein passives Element der Entfaltung einer historischen Bewegung."

In dem verschrobenen Biologen Michel hat sich Houellebecq nicht zuletzt selbst karikiert: ein einsamer Analytiker des irdischen Daseins. "Ich kann die Welt nicht ändern – also beschreibe ich sie", so die Maxime des derzeitigen französischen Star-Autors. Mit der Demaskierung Brunos durch seinen Halbbruder zielt Houellebecq auf die Entlarvung einer ganzen Generation – eben seiner eigenen. Eine Geschichte voller Tragik und unfreiwilliger Komik – die Geschichte, so will es der Autor, des modernen Menschen. Es sind Nietzsches "letzte Menschen", die als einsame Monaden im Roman herumstolpern und an der Suche nach dem Glück zugrunde gehen. Keine Frage: mit den "Elementarteilchen" hat Houellebecq einen wichtigen Nerv der Zeit getroffen. Das Buch, von der FAZ zum "epochalen Roman" hochgejubelt, ist bereits in zwanzig Sprachen übersetzt worden. War Houellebecq mit seinem Erstling "Ausweitung der Kampfzone" zu einem Geheimtip unter französischen und deutschen Intellektuellen geworden, so hat er mit den "Elementarteilchen" den Durchbruch geschafft. Vereinzelt wird er von seinen leidenden Lebensgenossen, deren Elend er in so schonungsloser Manier aufs Papier zu bringen versteht, als ein Erlöser angesehen. Sie berühren ihn wie einen Heiligen, wenn er die Metro in seinem Pariser Vorort aufsucht.

Der Autor macht einen denkbar unscheinbaren Eindruck. Das Haar schütter, die Augen vom ständigen Rauchen gerötet und zusammengekniffen. Zu einem Pressetermin seines Pariser Verlages Flammarion erschien er im vergangenen Herbst in fleckigen braunen Cordhosen und abgeschabten Halbschuhen. Er wirkt scheu und linkisch, sein neuerlicher Reichtum und Erfolg verwundern ihn. Aber er genießt es, endlich etwas zu sagen zu haben, gehört zu werden. So stößt er gern seine Sätze aus, die von Schopenhauer stammen könnten: "An Glück oder Zufriedenheit zu denken habe ich mir abgewöhnt" oder "Der Tod wäre eine Art von Befreiung, aber mir fehlt der Mut zum Selbstmord".

Seine Umgebung hat Houellebecq nachhaltig geschockt. Zwar galt Gesellschaftskritik unter den Intellektuellen schon immer als besonders schick und geistreich. Houellebecq aber hat die Szene mit seiner Entlarvung der Jämmerlichkeit des modernen Menschen und mit seinem unverhüllten Haß auf die 68er verstört, denen er vorwirft, mit ihrer naiven "Befreiung des Menschen" lediglich dessen Entfesselung zum lustorientierten Raubtier betrieben zu haben. Fallen die Schranken der Gesellschaft, so weiß Houellebecq, tritt die Grausamkeit des Menschen zutage. Derartige Tabubrüche sind bekanntlich nicht gern gesehen. In Frankreich lösten seine "Elementarteilchen" die angeblich "größte Literaturdebatte seit dem Krieg" aus, in den Feuilletons und öffentlichen Diskussionen wurde er nicht selten als "Faschist" und "Frauenfeind" beschimpft. Lehrer warnten ihre Schüler zuweilen vor den Schriften des wundersamen Einsiedlers.

In Deutschland wurden die "Elementarteilchen" zwar zwiespältig, jedoch nicht unfreundlich begrüßt. Die Deutschen sind es offensichtlich gewohnt, von ihrem westlichen Nachbarland nur Gutes zu bekommen – und in diesem Fall stimmt es sogar. Houellebecq fügt sich hervorragend in die hierzulande bereits angeregte Diskussion um Nietzsches philosophisches Erbe und die vom Philosophen Sloterdijk inszenierte "Menschenpark"-Debatte ein. Denn Houellebecq leistet sich am Ende seines Romans den Blick in die Zukunft und läßt seinen Protagonisten Michel den genetischen Code entschlüsseln, der die künstliche Reproduktion des Menschen erlaubt. In Anlehnung an Nietzsche will er den Menschen überwinden, von dessen ewigem Elend auf Erden er überzeugt ist. Doch das Buch, so heißt es im letzten Satz, ist "dem Menschen gewidmet". Das ist nicht einmal Ironie, denn wie alle großen Pessimisten ist Michel Houellebecq im Grunde seines Herzens ein wahrer Humanist.

Michel Houellebecq: Elementarteilchen. DuMont Buchverlag Köln 1999. DM 44,-