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01.07.00 Greife – wilde Kreaturen

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 01. Juli 2000


Greife – wilde Kreaturen
Von ESTHER KNORR-ANDERS

Die hoheitsvollsten aller Greife zogen im Glauben des alten Griechenlands den Wagen der Nemesis, der Göttin der Gerechtigkeit. Sie jagte um die Erde, beschützte die Guten und vollzog Rache an den Bösewichten. Das alte Rom wiederum sah Greife vor den Wagen des Sonnengottes Apollon (auch Sol genannt) gespannt; mit mächtigen Flügelschlägen rissen sie das feurig gleißende Gefährt tagtäglich von Osten nach Westen durchs Weltall. Den literarisch berühmtesten Greif bescherte uns Lewis Carolls in "Alice im Wunderland", veröffentlicht 1865. Dort treffen die Herzkönigin und Alice auf einen Greif, der schlafend in der Sonne liegt. "Hoch, Faulpelz", sagte die Königin, "bring die junge Dame hier zur Schildkröte." Und so geschieht es. Alsbald lehren Greif und Schildkröte der kleinen Alice die Krebsquadrille tanzen …

Wo das Urbild des Greifs entstand, ist unbekannt wie jeder Mythos. Doch um 3000 v. Chr. waren Greife in künstlerischer Darstellung bereits in Ägypten und Mesopotamien bekannt. Über Syrien, Palästina, Anatolien traten sie ihren Flug nach Europa an. Wie sahen sie aus? Um es kurz zu sagen: Schrecken erregend. Ihr Bild unterlag jedoch Wandlungen. In grauer Vorzeit hatte der Greif den Körper eines Löwen, die Schwingen und den Kopf eines Adlers mit hochstehenden spitzen Ohren. Spätere und bleibende Vorstellung zeigt ihn noch fürchterlicher. Der Leib und die Hinterbeine waren mit dem Löwen identisch geblieben, die krallenbewehrten Vorderbeine wiesen auf den Adler hin, ebenso der Kopf, der riesige Hakenschnabel. Überproportioniert waren nun die Flügel und die steilen Ohren.

Als Mischwesen verkörperte er den "König der Tiere" und den "König der Lüfte". Konnte es da noch wundern, daß er zum heraldischen Symbol der Fürsten und Reichen dieser Welt avancierte? Zweifellos ein selbstverräterischer Wappenschmuck, denn von den Charaktereigenschaften des Greifs ist Bekümmerliches zu melden. Gold hatte es ihm angetan. Eine der ältesten Überlieferungen erzählt vom Kampf um Gold zwischen Greifen und den angeblich einäugigen, im Norden Europas siedelnden Arimaspen. Es muß sich – dem Geschichtsschreiber Herodot zufolge – um unermeßliche Goldhorte gehandelt haben. Doch egal ob viel oder wenig, wo immer der Greif einen Goldschatz aufspürte, kratzte er ihn aus der Erde; Edelsteine, kostbare Erze waren vor seinen Raubklauen nicht sicher. Er polsterte die Nester seiner Brut damit. Näherten sich ihm Menschen, riß er sie in Stücke. Sein Instinkt ließ ihn wittern, daß diese jämmerliche Gattung zweibeiniger Aufrechtgänger raffgierig wie er selbst sei. Die Furcht vor Besitzverlust machte den Greif menschlich, weshalb er auch am Ende aller Greuel-Legenden, die sich um ihn als gefürchtete "wilde Kreatur" rankten, zum Wächter irdischer und sakraler Güter erhoben wurde. Und dabei blieb es.

Durch die Jahrhunderte wurden Greife meist zu zweit dargestellt. Sie flankierten Grabmäler und Urnen als Wächter der Toten. Sogar Altäre, Kandelaber, Weihgefäße waren ihrer Obhut anvertraut. Im 18. und 19. Jahrhundert dekorierten sie öffentliche Gebäude, schmückten Fassaden, Friese, Gesimse, waren auf wertvollen Bucheinbänden, Textilien zu finden. Sie wurden sogar zum Firmenzeichen einer Automarke, einer Brauerei, selbst Wirtshausschilder zeigten den Greif. Zunftzeichen der Friseure wurde er in London. Noch 1988 kreierte Wolf Olins für die Midland Bank ein Greif-Signet. Flüchtig betrachtet erinnert das abgebildete Vogeltier an einen Geier, der sich über die Werteinlagen hermachen will.

In einem Essay über Greife weist Peter Armour darauf hin, daß die Menschen des Mittelalters den Greif als reales Lebewesen sahen, ungeachtet der Tatsache, daß sie nie einen Greif vor Augen gehabt hatten. Die stets wirtschaftlich orientierten Briten gelangten zu einem erstaunlichen Gedankenschluß. Armour: "Um 1200 begannen, jedenfalls in England, einige Menschen die Greife mit der habgierigen Aristokratie zu vergleichen." Das rief die Verteidiger der Greife in die Arena. Einer war Alexander Neckam: "Sein Argument war, Greife seien Tiere und könnten deshalb nicht bewußt Sünden begehen; ihre Freude am gleißenden Gold sei rein natürlich und instinktiv. Die Habgier des Adels hingegen sei bewußt."

Die Ansichten über das mythische Flugtier unterlagen Veränderungen, überwiegend aber wurde der Greif verherrlicht, auch mit Menschen in Verbindung gebracht, die als außergewöhnlich galten und mit ebensolchen Taten Ruhm ernteten. Einer von ihnen war Alexander der Große, der im 4. Jahrhundert v. Chr. Beherrscher der Hälfte der damals bekannten Welt war. Eine Buchmalerei im "Alexanderroman", einer Sammlung von Forschungsreisen und Abenteuern aus dem frühen 14. Jahrhundert, zeigt den Mazedonier in einem Flugkäfig, der von vier Greifen in die Lüfte über Indien getragen wird. Der Himmel sollte erforscht werden. Einfälle muß man haben und die hatte der tollkühne Alexander. Die unglaubliche Kunde lautete, daß er die Greife fangen und mit Tauen an den Käfig binden ließ. Während des Flugs hielt Alexander mit Fleisch bestückte Spieße aus den Käfigfenstern und die Greife flogen, eifrig kauend, durchs Himmelsblau. In dem ironischen Ritterepos vom "Rasenden Roland" von Ludovico Ariosto (1474 bis 1533) rettet der Sarazene Ruggiero die an einen Felsen gefesselte Angelica vor einem Seeungeheuer. Dessen Schwanz streckt sich den Beinen der Schönen entgegen – da sprengt der Befreier auf einem Hippogryph, einer Kreuzung aus Greif und Stute heran und sticht seine Lanze in den Rachen des Ungetüms. Erleichtert atmet Angelica auf.

Der Engländer John Ruskin (1819 bis 1900) lieferte eine eigentümlich wehmütige Zeichnung von Greifen. Er skizzierte den brüchigen Portikus der mittelalterlichen Kathedrale von Verona; das Gemäuer wird von ruhenden Greifen gestützt. Vergänglichkeit weht. Und vergänglich war der Glaube an das Vorhandensein von Greifen in freier Natur. Bereits Mitte des 13. Jahrhunderts hatte der Theologe und Naturforscher Albertus Magnus geäußert, "daß niemand einen Greifen entdeckt oder aus eigener Anschauung beschrieben habe". Sir Thomas Browne schrieb 1646 in seiner "Pseudodoxia Epidemica" ("Von verbreiteten Irrtümern"), die Existenz von Greifen sei auszuschließen, denn "wenn sie nach dem Gesetz der Tierkunde betrachtet werden, erweist sich die Erfindung als monströs, um weniges geringer als die Erdichtung von Sphinxen, Chimären und Harpyien".

Der Streit um die Existenz der Greife dauerte dennoch eine Weile an. Phantasie mochte sich nicht von ihnen trennen. "Eine heutige Theorie geht davon aus, der antike Glaube an Greife sei durch die Entdeckung von Dinosaurier-Überresten und -Eiern in der Wüste Gobi entstanden." Der Greif könnte also ursprünglich ein Flugsaurier gewesen sein, den menschliche Vorstellungskraft zum Fabeltier verwandelte. Wie es auch sei, im Volksglauben geriet der Greif allmählich in Vergessenheit, geraume Zeit tummelte er sich noch in Romanen und Gedichten herum, und schließlich entschwand er. Aber ist er deshalb tot? Keineswegs! Mit den Science-Fiction-Monstren ferner Planeten feierte er Auferstehung, Wiederkehr. Peter Armour: "Diese sind heute so lebendig, wie es der Greif einst war." Warum? Weil unsere Tageswirklichkeit genau so farbentrist vertröpfelt wie in ehemaligen Zeiten. Mirakulöse Wesen zaubern Glanz hinein.