29.03.2024

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15.07.00 Melancholie im Blut

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 15. Juli 2000


Melancholie im Blut
Von CHARLOTTE BEREND-CORINTH

Als ich Corinth – zuerst den Lehrer, dann den Liebenden – kennenlernte, war er ein leidenschaftlicher, von Kräften strotzender, gegen Anstrengungen unempfindlicher Mann; jedoch die Melancholie lag ihm auch damals im Blut. Fotos aus seiner Jugend, aufgenommen beim Umtrunk mit den Künstlerkollegen, zeigen ihn abgesondert von der frohen Gesellschaft; düster brütet er vor sich hin.

Als wir miteinander vertraut geworden waren und er mir sein Herz ausschüttete, hat er mir gestanden, wie oft er aus Verzweiflung über sich selbst dem Selbstmord nahe gewesen ist. Obwohl mich der Blick in die Abgründe, an denen er gestanden hatte, entsetzte, begriff ich sofort, daß hier eine Leidenserfahrung zu mir sprach, die vom Genie unabtrennbar ist und deshalb getragen und ausgehalten werden muß. Nur der kann bewußt die höchsten Ziele erkämpfen, der von den lauernden Tiefen weiß.

Während der ersten Jahre unserer Liebe überstrahlte ein triumphales Hochgefühl alle Melancholie. In glücklicher Unbeschwertheit schuf Corinth Bild um Bild. Doch dieser Zustand beseligter Daseinsfreude blieb nicht lange ungetrübt. Schon lasteten hie und da wieder Depressionen auf ihm. Nach dem Schlaganfall verstärkten sie sich in bedrohlichem Maß. Corinth war oft auf eine ans Herz greifende Weise gequält, und zugleich – und trotzdem – war er dem Irdischen merkwürdig entrückt. Die späten Selbstbildnisse machen sie evident. Es ist, als hätten diese Augen bereits das andere Ufer erblickt. Und doch, wie seltsam, lassen diese Selbstbildnisse, auch die letzten und erschütterndsten, im Betrachter keine Bedrückung zurück. Die große Schönheit dieser Malerei, die Transparenz des geistigen und die mystische Verinnerlichung Corinths hinterlassen ein unerkennbares Glücksgefühl, wie es allein von den höchsten Meisterwerken der Kunst ausstrahlt.

Ich hatte stets das Gefühl, daß Corinths Leben im Rhythmus der Natur verlief. Es nahm am ewigen Zyklus der Jahreszeiten teil und war ebenso wie diese voller Varietät. Auch da gab es – bildlich gesprochen – Wintertage, so angefüllt mit Sonne und Licht, daß man sich in den erwachenden Frühling versetzt glauben mochte, und Regentage im Sommer, an denen einen ein Frösteln überlief. Er lebte mit der Natur, und es war eine Naturgewalt in ihm, die sein Schaffen bestimmte; sie ließ ihm keine Wahl. Sie beflügelte ihn zum Höhenflug und zwang seine Phantasie, in unzugängliche einsame Tiefen zu tauchen. In solchen Stunden verharrte er schweigsam, gebannt von seinem inneren Gesicht.