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15.07.00 Erbe der Sowjetzeit: Der einst reiche Agrarexporteur kauft seine Nahrung nun im Ausland

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 15. Juli 2000


Estland: Land der verlassenen Höfe
Erbe der Sowjetzeit: Der einst reiche Agrarexporteur kauft seine Nahrung nun im Ausland
Von HERBERT PLOETZ

Der Blick aus dem Flugzeug vermittelt dem Besucher eine Vorstellung von Estland mit seinen Wäldern, Wiesen und Feldern wie auch dem Anteil der Gewässer in ihrem noch ursprünglichen Lauf. Wer nach der Landung weiter im Wagen nach Pernau, Dorpat oder Narwa fährt, wird von der Landschaft in sattem Grün gefesselt, deren gesunden Zustand nicht zuletzt die zahlreichen Störche beweisen. Längere Beobachtung weckt aber zwangsläufig Fragen zu den vielen verfallenen bäuerlichen Anwesen und den weiten Flächen, die nicht mehr genutzt werden.

Spätestens, wenn beim Frühstück im Hotel deutsche Kaffeesahne und Joghurt wie in der Fernsehwerbung auf dem Tisch stehen, fragt der Gast vom anderen Ende der Ostsee nach den Zusammenhängen in einem Land, in dem eigentlich Milch und Honig fließen könnten. Die aktuelle Lage überschrieb ein englischer Autor treffend: "Land of milk but no money." Das estnische Wort für Landwirtschaft põllumajandus ist zusammengesetzt aus põld – Acker, Feld (wir hören hier die deutsche Wurzel) und majandus – Wirtschaft.

Estland, der nördliche der drei baltischen Staaten, war im 20. Jahrhundert mehrfach tiefem und hartem Wandel unterworfen. Nach der Bildung der selbständigen Republik im Jahre 1918 aus der früheren Provinz Estland sowie dem nördlichen Teil Livlands führte das Agrarreformgesetz vom 10. Oktober 1919 zu einem fundamentalen Eingriff in die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen. Sämtliche Rittergüter, Landgüter und Pastoratsländereien wurden enteignet. Neben der Entmachtung der deutschbaltischen Oberschicht war damit das Ziel verbunden, bisher landlosen Landarbeitern zu eigenem Besitz zu verhelfen und so einen weitgestreuten bodenständigen Grundbesitz als Abwehr gegen die kommunistischen Einflußversuche des drohend benachbarten Sowjetrußland zu schaffen.

Bis Mitte der 20er Jahre war die Landreform im wesentlichen abgeschlossen. Es bestanden damals mehr als 120 000 Höfe. Estland wurde damit ein Land des Kleingrundbesitzes. Aber es entstand ein für europäische Vorkriegsverhältnisse relativ wohlhabender Staat mit einer Landwirtschaft, die nicht nur den Eigenbedarf sicherstellen, sondern Exportüberschüsse erzielen konnte.

Die Eingliederung Estlands in die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg war von vielen Gewaltakten begleitet – nicht zuletzt um die Kollektivierung der Agrarbetriebe zu erzwingen, der sich die Bevölkerung mit allen Mitteln widersetzte. Die Deportationen des Jahres 1949 zerstörten die ländlichen Strukturen. Auf diese Weise wollte Moskau auch dem von den"Waldbrüdern" gegen die sowjetische Besatzungsmacht im Untergrund geführten Kampf die Stütze entziehen, die er auf dem Lande fand.

Nach der landwirtschaftlichen Kollektivierung und der Einführung der Planwirtschaft gaben Parteifunktionäre Aussaat und Ernte vor. Dies führte dazu, daß Mitte der 50er Jahre die Produktivität auf die Hälfte des Wertes vor der Sowjetbesetzung gesunken war. Noch heute sind die unansehnlichen Mehrfamilienhäuser aus vorgefertigten Betonteilen in den ländlichen Siedlungen steinerne Zeugen dieses Niedergangs.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 90er Jahre brachte Estland die erneute Unabhängigkeit. Als einer der ersten Schritte zu wirtschaftlicher Selbständigkeit wurde nach 1991 die Landwirtschaft radikal reformiert. Im Gegensatz zu Lettland und Litauen führte Estland einen vollkommen offenen Agrarmarkt ein. Lebte im Jahre 1925 nur jeder vierte Este in den Städten, so hat sich das Verhältnis inzwischen umgekehrt. Weniger als dreißig Prozent der 1,45 Millionen Einwohner wohnen auf dem Lande. Was das für die Zahl der Beschäftigten bedeutet, verdeutlichen folgende Zahlen: 1925 waren 60 Prozent aller Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig, 1993 noch 17 Prozent und zur Zeit nur gar jeder Zehnte. Diese zehn Prozent erwirtschaften sieben Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Demgegenüber umfaßt der Dienstleistungssektor 57 Prozent der Beschäftigten mit einem BIP-Anteil von 65 Prozent.

Die in der Gesamtstruktur der Wirtschaft also recht unbedeutende Landwirtschaft mußte 1999 weitere Einbußen hinnehmen, wie der Jahresbericht des estnischen Landwirtschaftsministeriums hervorhebt. Ein langer kalter Frühling und ein trockener Sommer waren ungünstig für die Viehwirtschaft. Nur die Getreideproduktion wuchs, vor allem wegen des ausgeweiteten Anbaus von Flachs und Raps sowie höherer Erträge pro Hektar. Auch die Kartoffelernte war besser als 1998. Der im Jahre 1998 begonnene Verfall des Milchpreises hielt indessen an und beeinflußte das Ergebnis der Viehwirtschaft.

Im Jahre 1999 importierte Estland landwirtschaftliche Produkte im Wert von 675 Millionen Mark. Der Wert der Agrarausfuhren lag gerade bei der Hälfte und nahm gegenüber 1998 noch um zwölf Prozent ab, während die Einfuhr um 25 Prozent zugelegt hatte.

An der Spitze des Exports stand Fisch mit 38 Prozent, gefolgt von Molkereiprodukten mit 23 Prozent, davon ein Drittel in die EU mit steigender Tendenz. Demgegenüber nahm der traditionelle Export dieser Produkte in das benachbarte Rußland um zwei Drittel ab. Die wichtigsten Exportpartner für die estnische Landwirtschaft waren die EU mit 30 Prozent, gefolgt von Lettland mit 20 Prozent. Rußland erscheint nur noch mit 8,7 Prozent in der Statistik. Bei der Einfuhr steht die EU mit 59 Prozent an der Spitze, gefolgt von der Ukraine mit elf Prozent.

Billige Importe aus dem Westen trugen zum Preisverfall bei. Ein Beispiel: Der um 50 Prozent gesteigerte Import von Schweinefleisch verringerte den Absatz estnischer Schweine um zehn Prozent und verursachte entsprechende Verluste. Die komplexen Zusammenhänge zeigen sich auch darin, daß verringerte Einnahmen den Zukauf von Futter verhinderten, woraus eine Verminderung des Bestandes folgte , was zu weiter sinkenden Einnahmen führte. 1999 schloß mit einem Verlust von 20 Prozent gegenüber 1998. Wohin man blickt: Die estnischen Bauern kämpfen ums Überleben.

Aus dieser ungünstigen finanziellen Lage ergab sich, daß 1999 nur noch umgerechnet 32,5 Millionen Mark investiert wurden. Um die estnische Landwirtschaft für die Aufnahme in die EU reif zu machen, wären nach Expertenschätzung jedoch 750 Millionen Mark nötig, insbesondere für Investitionen für Milchwirtschaft und die Ausstattung mit Landmaschinen. Die Regierung in Reval versucht mit ihren bescheidenen Mitteln gegenzusteuern durch direkte Zahlungen, Zuschüsse, Zinsverbilligungen und Steuernachlässe. Diese Maßnahmen wurden aber 1999 um 33 Prozent gegenüber 1998 zurückgefahren.

Angesichts der finanziellen Schwierigkeiten gewährt allerdings noch eine Stiftung "Landwirtschaft und Ländliches Leben" kleinen und mittleren Unternehmen Kredite. Weiterhin gibt es einen "Ländlichen Kreditgarantiefonds" zur Absicherung von Anleihen.

Für das Jahr 2000 erwarten die Agrarfachleute des Landes zwar eine Zunahme des Wertes der Agrarproduktion. Doch auch die Produktionskosten steigen, wie es heißt: Insbesondere Dünger und Kraftstoff würden noch teurer. Das Unternehmereinkommen werde dennoch um zwölf Prozent steigen. Weiter abnehmen indes werde die Zahl der Beschäftigten, weil die niedrigen Löhne die Abwanderung weiter forcierten.

Der Zusammenbruch von Unternehmen wird die regionale Arbeitslosigkeit anschwellen lassen. Weitere zehn Prozent der Anbaufläche werden stillgelegt, was zu einem Steuerausfall für den Staat führt.

In den abgelegenen ländlichen Gebieten herrscht ohnehin hohe Arbeitslosigkeit: da es nur für ein Jahr ein niedriges Arbeitslosengeld gibt, ist die genaue Zahl der Erwerbslosen allerdings kaum zu ermitteln. Die Landwirtschaft liegt am Ende der Lohnskala. Die amtliche Statistik weist für 1999 310 Mark als Monatslohn aus. Dahinter folgt nur noch das Gastgewerbe mit 281 Mark. Diese Stellung zeigt auch die Statistik der ausländischen Investitionen: nur drei Prozent des Kapitals fließen dem Agrarsektor zu. Ein Grund dafür sind die häufig ungeklärten Eigentumsverhältnisse am Boden, deren Ursache wie in Deutschland die Zerstörung der bäuerlichen Landwirtschaft durch das sowjetische Regime ist. Privatisierung des in Staatseigentum stehenden Bodens bleibt eine Aufgabe hoher Priorität, um die Landwirtschaft zu stabilisieren.

Reval sieht die Entwicklung der dünnbesiedelten ländlichen Regionen des kleinen Staates mit Sorge. Experten des Landwirtschaftsministeriums arbeiten noch an einem Plan zur Entwicklung des Hinterlandes, der als Gesetzesvorlage dem Parlament zugeleitet werden soll.

Hoffnungen für ein tragfähiges Zukunftskonzept ruhen auf der Landwirtschaftsuniversität in Dorpat. Deren Forscher sollen, so heißt es, einen Plan zum nachhaltigen Gebrauch der natürlichen Ressourcen erarbeiten und die ländliche Entwicklung fördern. Schon der Gründer der Universität von Dorpat, der Schwede Johan Skytte, hatte 1632 – wohl mit Blick auf die Besitz- und Einflußerteilung – geäußert: "… auch die Bauern dieses Landes sollen ihren Anteil an den Quellen der Erziehung erhalten."

Nach wiedergewonnener staatlicher Unabhängigkeit wurde 1991 die Estnische Landwirtschaftliche Universität – Eesti Põllumajandus Ülikool – gegründet. Dort wirken 1450 Mitarbeiter, darunter 520 Wissenschaftler und rund 3000 Studenten in den Fakultäten Landbau, Agrartechnik, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Forstwesen, Veterinärwesen sowie Landwirtschaftliches Ingenieurwesen. Die letztere Fakultät stellt eine Besonderheit dar, weil sie Schwerpunktaufgaben gewidmet ist, die aus dem negativen Erbe der Sowjetzeit herrühren. Hauptforschungsgebiete sind: Methoden der Planung für Bodenverwaltung (hier geht es um Flächenstrukturen und Katasterwesen) und Bodenreform, Erfassen und Bewerten landwirtschaftlicher Liegenschaften und Bauten einschließlich der Umweltschäden.

Die dramatischen Veränderungen in der Landwirtschaft bestimmen einen ehrgeizigen Entwicklungsplan für die Universität bis zum Jahre 2006. Hierfür werden die Lehrpläne modernen Erfordernissen angepaßt, strenge Qualitätskontrollen in der Lehre eingeführt und die interdisziplinäre Zusammenarbeit gefördert. Auch die Wirtschaft soll einbezogen werden, um den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes flexibel Rechnung tragen zu können.

Die Betrachtung der estnischen Landwirtschaft kann sich nicht auf die quantifizierbaren Elemente beschränken. Die Seele eines Volkes mit tiefverwurzelter bäuerlicher Vergangenheit muß ebenso verstanden werden. Die brutalen Eingriffe der Sowjets in das estnische Leben vernichteten nicht nur den das Land tragenden Kleinbauernstand, sondern erstreckten sich auf weite Bereiche der überlieferten Lebensform.

Die Erinnerung daran war eine der Kraftquellen des Überlebens während der langen Fremdherrschaft. Fast jeder Este hat sich seine Bindung an die bäuerliche Herkunft bewahrt. Der Kleingarten als Teil des Lebens in der Sowjetunion ist heute zwar keine zwingende Lebensvoraussetzung mehr, als Bindung an den Boden aber sehr lebendig und trägt im übrigen mit stolzen 30 Prozent zur landwirtschaftlichen Produktion bei.

Was sich aus dem Verfall der Landwirtschaft über die ungleichgewichtige Entwicklung zwischen dem Nordraum um die Hauptstadt und dem übrigen Land hinaus für Folgen ergeben, kann heute noch nicht beurteilt werden.

Wie hält man die junge Generation auf dem Lande, wenn in der Stadt um ein Vielfaches höhere Löhne bei sehr viel angenehmeren Lebensbedingungen locken, ist eine der großen Fragen der Zeit. Die estnische Politik hat den Ernst der Lage offenbar erkannt.