29.03.2024

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22.07.00 Glacis des Westens oder russische Wirtschaftsfiliale 

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. Juli 2000


Ukraine: Gefährliche Schaukelpolitik
Glacis des Westens oder russische Wirtschaftsfiliale 
Von Philipp Pachomow

Fast zehn Jahre sind nach dem Zerfall der Sowjetunion vergangen. Für die meisten der Nachfolgerepubliken der UdSSR zeichnet sich ein mehr oder weniger deutlicher Entwicklungsweg ab: Die baltischen Länder zieht es mit aller Macht in die EU und die NATO, die mittelasiatischen Staaten versuchen gemeinsam mit Georgien und Aserbaidschan – mit tatkräftiger Hilfe der USA und der Türkei –, eine neue, NATO-freundliche Seidenstraße aufzubauen. Dabei soll sich der Einfluß Rußlands und Chinas in engen Grenzen halten.

Die Russische Föderation wiederum ist auf Integrationskurs mit Weißrußland und setzt im Kaukasus auf Armenien. Moldawien schließlich sucht über seinen strategischen Partner Rumänien den Anschluß an den Westen.

Auf den ersten Blick mag auch für die Ukraine eine Orientierung auf West- und Mitteleuropa und die Vereinigten Staaten zu erkennen sein. Tatsächlich befindet sich das Land aber in einem gefährlichen Zwischenstadium: Es wendet sich so weit es geht von Rußland ab, obwohl die Hoffnungen auf eine europäische Integration mittelfristig irreal sind.

Mit ihrem ersten Präsidenten Leonid Krawtschuk an der Spitze hatte sich das Land ganz der Westintegration verschrieben. Das Interesse der Wunschpartner war damals groß, galt aber vor allem den ukrainischen Nuklearwaffen sowie dem Unglücksreaktor von Tschernobyl. Entsprechend geht es zurück, je weiter die Lösung dieser Fragen vorankommt, sprich: schließlich die letzten Kernwaffen auf ukrainischem Boden verschrottet oder nach Rußland verlegt sind.

Schnell bekam Kiew die enorme wirtschaftliche Abhängigkeit von Rußland zu spüren. Energielieferungen mußten zu Weltmarktpreisen bezogen werden, wozu aber die notwendigen Mittel fehlten.

In der sozialistischen Arbeitsteilung ist die Ukraine insbesondere Lieferant von industriellen Komponenten und Landwirtschaftserzeugnissen gewesen. Mit der Unabhängigkeit brach dann der russische Markt weg, auf dem überwiegend die Endfertigung angesiedelt war. Rußland konnte anders als die Ukraine die durch den Zerfall entstandenen Produktionslücken relativ schnell schließen.

Parallel zum wirtschaftlichen Niedergang des Landes vertiefte sich der Graben zwischen der traditionell zur Mitte des Kontinents hin ausgerichteten Westukraine und dem rußlandorientierten Osten immer mehr; eine Zeitlang drohten gar eine Spaltung und die Sezession der Krim.

Der heutige Präsident Leonid Kutschma kam im Juli 1994 vor allem mit den Stimmen des russischsprachigen Ostens an die Macht und verfolgte nach seinem Amtsantritt einen Gleichgewichtskurs zwischen GUS- und Westintegration. Er stabilisierte das Land politisch, in seiner Amtszeit wurden die ukrainische Verfassung angenommen und eine eigene Währung, die "Hryvna", eingeführt.

Wie in Rußland unter Jelzin wechselten in der Ukraine unter Kutschma die Regierungen ein ums andere Mal, sobald die Ministerpräsidenten dem Staatsoberhaupt zu mächtig wurden. Allmählich baute Kutschma jedoch ein nach Westen orientiertes Kabinett auf, an dessen Spitze nun Ex-Zentralbankchef Viktor Juschenko steht.

Heute stellt sich für die Ukraine mehr denn je die Frage nach ihrer Entwicklungsrichtung. Überspitzt formuliert sieht die ukrainische Politik der letzten Jahre so aus: Mit Rußland will sie nicht, muß aber noch, mit dem Westen will sie, kann aber noch nicht.

Tatsache ist, daß die Handelsbilanz der Ukraine seit Jahren ein großes Defizit aufweist: Insbesondere aus der EU, den Nachbarstaaten Polen und Ungarn sowie der Türkei werden Fertigerzeugnisse importiert, aus Rußland die lebensnotwendigen Güter Öl und Gas.

Auf der Exportseite steht dem wenig entgegen. Die Ausfuhr in die EU ist mangels konkurrenzfähiger Erzeugnisse, aber auch aufgrund von Importbeschränkungen auf Rohstoffe oder Halbfertigerzeugnisse beschränkt. Die Aufnahme wichtiger Handelspartner wie Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei in die EU wird diese Tendenz noch verstärken. Auf der anderen Seite macht Rußland seinen Markt dicht, um die einheimischen Produzenten zu schützen.

In Kiew scheint man nicht realisieren zu wollen, daß Rußland immer weniger mit der Ukraine zu tun haben will. Auch als Transitland im Ost-West-Handel droht zunehmender Bedeutungsverlust. Die Handelsströme verlaufen meist über Weißrußland oder das Baltikum. Versuche, ein Bindeglied zwischen Polen und Mittelasien zu werden, dürften auf absehbare Zeit an den zu geringen und damit unrentablen Transportmengen scheitern.

Die Ukraine hat es versäumt, einer aktiven Ost-Isolation eine entsprechend aktive West-Integration entgegenzusetzen. Weder wurden in fast zehn Jahren Unabhängigkeit die nötigen rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen für ausländische Investitionen geschaffen noch das Krebsübel der Korruption wirksam bekämpft.

Auf dem Weg zur EU-Integration steht das Land heute formell mit Rußland auf einer Stufe. Mit Brüs-sel wurde ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PAK) unterzeichnet, das im Februar 1997 in Kraft trat. Beide Seiten haben diesem bis jetzt allerdings nur wenig Leben eingehaucht.

Auf politischem Gebiet ist man etwas weiter: Immerhin hat Kiew mit der NATO, ähnlich wie Rußland, einen Grundlagenvertrag ausgehandelt. Mit allen Nachbarstaaten – einschließlich dem "Großen Bruder" im Osten – wurden Nachbarschaftsverträge unterzeichnet, die nicht zuletzt Grenzstreitigkeiten ausräumen sollten.

Formell ist dies bereits eine Voraussetzung für einen NATO-Beitritt, über den in Kiew immer offener gesprochen wird. Die Ukraine gehört jedoch nicht zu den Kandidaten einer neuen Erweiterung, die ohnehin in weite Ferne gerückt ist.

Für die Zukunft des Landes bieten sich zwei Extremszenarien an: Zunächst läuft es Gefahr, zu einem Anhängsel der russischen Ökonomie abzusteigen. Die russischen Wirtschaftsakteure werden versuchen, das Land durch den bereits stattfindenden Aufkauf der wenigen profitablen Industriezweige, vor allem im Metallurgiebereich, in eine minderwertige "Produktionsfiliale" zu verwandeln. Den Willen der russischen Oligarchen vorausgesetzt, wird auch die politische Abhängigkeit zunehmen.

Das zweite Szenario setzt glaubwürdige Reformbemühungen aus eigener Kraft bei gleichzeitiger, auf Eigennutz beruhender Hilfe durch die westlichen Industrieländer voraus. Erste Schritte sind gemacht, und die Widerstände des von Kommunisten und Sozialisten lange beherrschten Parlaments werden Zug um Zug ausgeräumt. Seit Jahresanfang hat sich in vielen Wirtschaftszweigen ein deutliches Wachstum eingestellt, das seine Dauerhaftigkeit aber noch beweisen muß.

Letztlich wird die Entwicklung irgendwo zwischen beiden Extremszenarien ablaufen. Wo genau, das sollte die politische Führung der Ukraine selbst weisen.

Der Verfasser dieses mit freundlicher Genehmigung der "Moskauer Deutschen Zeitung" entnommenen Artikels ist Mitarbeiter der Körber-Arbeitsstelle der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.