29.03.2024

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22.07.00 Die ländliche Entwicklung im südlichen Ostpreußen

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. Juli 2000


Perspektiven braucht das Land
Die ländliche Entwicklung im südlichen Ostpreußen
Von Brigitte Jäger-Dabek

Was im südlichen Ostpreu ßen sofort auffällt, ist das sichtbare Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land. Städte wie Lötzen oder Osterode, ganz besonders aber Allenstein boomen. Da wurden ganze Innenstädte restauriert, da wird eine Ladenpassage nach der anderen aus dem Boden gestampft, selbst Plattenbausiedlungen werden verschönert.

Auf dem Land hingegen vielfach Verfall – kein Geld zum Renovieren oder für Investitionen. Abkrümelnder Putz, abblätternde Farbe, ärmliche Bauernhöfe und klapprige, museumsreife Landmaschinen sind die Regel. Viele resignierende  Menschen, schulterzuckendes "Was ist zu machen?"

Da ist immer noch die ostpreußische Idylle, aber den Menschen auf dem Land droht die Zukunft wegzulaufen. Die Frage nach der derzeitigen Lage drängt sich auf.

Was die Wirtschaft betrifft, ist Polen Klassenbester unter den EU-Beitrittskandidaten. Ein beständiges Wachstum des Bruttosozialproduktes von um sechs Prozent, eine unter Kontrolle gehaltene Inflationsrate von 9,8 Prozent und eine Arbeitslosigkeit von 13,6 Prozent im Landesmittel, die kaum schlechter als die Deutschlands ist, all diese Daten beschreiben das polnische Wirtschaftswunder (alle Zahlen Glowny Urzad Statystycni "GUS", Warschau). Mit dem hohen Tempo der polnischen Anpassung an EU-Verhältnisse hält Ostpreußen nicht Schritt und droht zum Armenhaus zu werden.

Zwei große Problemkreise springen ins Auge: die Landwirtschaft und die Arbeitslosigkeit, zwei Kernpunkte der wirtschaftlichen Strukturschwäche, die obendrein auch noch voneinander abhängen.

Zwischen Oder und Bug leben 38 Prozent Einwohner auf dem Land. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung bezieht das Einkommen aus der Landwirtschaft, erwirtschaftet dabei aber nur sechs Prozent des Bruttoinlandproduktes. Immer noch gibt es weit über zwei Millionen Bauernhöfe, die Hälfte davon mit einer Fläche unter zehn Hektar. Der Anpassungsdruck Richtung EU ist gewaltig, man geht davon aus, daß fast drei Millionen Menschen in Polen einen neuen Arbeitsplatz außerhalb der Landwirtschaft brauchen. Bestenfalls 600 000 Bauernhöfe werden überleben.

Im südlichen Ostpreußen, wo 40 Prozent der Einwohner auf dem Land leben und nur ein Drittel der Menschen außerhalb von Landwirtschaft und Lebensmittelverarbeitung tätig ist, werden die Auswirkungen des zu erwartenden Höfesterbens besonders drastisch sein. Im Gegensatz zu anderen Landesteilen war die Zahl der Staatsgüter "PGR" hier verhältnismäßig hoch. Noch heute hat Südostpreußen den höchsten Anteil von Staatsland am anbaufähigen Boden. Der Bevölkerungsaustausch nach dem Krieg brachte es mit sich, daß hier relativ problemlos und ohne große Proteste Boden verstaatlicht werden konnte.

Nach dem Ende des Sozialismus sitzt man jetzt da mit der Altlast, die Staatsgüter sind geschlossen, die Arbeitsplätze ersatzlos weggefallen, und nur selten gelang es, wenigstens ein paar Hektar zu verpachten, da den Privatbauern das Geld fehlt. So ist es nicht verwunderlich, daß Südostpreußen auch den höchsten Anteil an Brach- und Ödland im polnischen Staatsgebiet hat.

Auch die meisten der von den PGRs betriebenen Lebensmittel verarbeitenden Betriebe sind geschlossen und nicht an den Investor zu bringen. Ein großer Teil der freigesetzten Arbeitskräfte ist auf dem Arbeitsmarkt kaum vermittelbar. Arbeit findet sich fast ausschließlich im Dunstkreis der Städte, die Wege sind weit, das Verkehrsnetz nicht eben dicht, denn Ostpreußen ist ein dünn besiedeltes Gebiet mit gerade mal sechzig Einwohnern pro Quadratkilometer.

Viele Kleinbauern, die früher nebenher erwerbstätig waren, haben sich inzwischen ganz in die eigene Landwirtschaft zurückgezogen. Wenn sie überhaupt noch Arbeit hatten, war der Weg so weit, daß der niedrige Lohn die Fahrtkosten kaum deckte.

Aber selbst wenn es in erreichbarer Nähe Arbeit gibt, kommen meist nur die mies bezahlten, unqualifizierten Jobs in Frage, denn das Bildungsniveau ist niedrig auf dem Land, jeder zweite Landbewohner hat keine Berufsschule von innen gesehen und nur einen Grundschulabschluß, jeder Zehnte nicht einmal das.

Fatal daran ist, daß vom Bildungsstandard das erzielte Einkommen direkt abhängt. Der Qualifikationsbedarf ist riesig, denn das niedrige Bildungsniveau verhindert obendrein viele Modernisierungsbestrebungen.

Von den ostpreußischen Privatbauern leben nicht einmal 40 Prozent ausschließlich von der Landwirtschaft, der Rest bezieht meist Rente, Arbeitslosengeld oder Sozialunterstützung.

Auch in Ostpreußen kommt so zur gemeldeten noch diese latente Arbeitslosigkeit in der Landwirtschaft hinzu, die nach Schätzungen des Landwirtschaftsministeriums insgesamt etwa eine Million Menschen betrifft, mindestens 100 000 davon in Ostpreußen.

Obendrein gehen die Realeinkommen in der Landwirtschaft durch heftig steigende Produktionskosten immer schneller zurück. Das führt zu Kaufkraftverlusten, die sich sofort auf die ganze Wirtschaft niederschlagen. Die Unheilskette "kein Einkommen – keine Kaufkraft – kein Konsum – kein Handel – keine Arbeitsplätze – keine Steuerzahlungen" ist in Gang gesetzt. Kein Wunder, daß die EU-Begeisterung sich auf dem Dorf in Grenzen hält und radikale Wortführer wie Andrzej Lepper von der Bauernpartei große Anhängerscharen für Blockadeaktionen finden.

In einer Region, in der sogar 35 Prozent der von der Industrie erzielten Wertschöpfung aus der Lebensmittelverarbeitung stammen, muß das Höfesterben durch die EU-Anpassung zu Endzeitstimmung führen.

Ökologische Landwirtschaft und Agrotourismus sowie weiterer Ausbau spezialisierter Produktionen wie der Geflügelherstellung sind zwar Wege in eine rentable Zukunft der ostpreußischen Landwirtschaft, aber eben nur für wenige Bauern.

Für die Mehrheit der Menschen in den Dörfern werden die vom polnischen Landwirtschaftsministerium endlich angedachten Umstrukturierungsmaßnahmen dann hoffentlich greifen: Schaffung von Arbeitsplätzen außerhalb der Landwirtschaft, Hebung des Bildungsniveaus und Modernisierung der verbleibenden Betriebe, insgesamt also Schaffung von Existenzgrundlagen für die Menschen auch in Ostpreußens Dörfern.

Sieht man das alles, ist es kein Wunder, daß das südliche Ostpreußen die weitaus höchste Arbeitslosenzahl hat, 23,6 Prozent gegenüber einem Landesdurchschnitt von 13,6 Prozent (GUS April 2000), das heißt, 150 000 Menschen haben dort keine Arbeit, die Hälfte von ihnen lebt auf dem Land. Im Vergleich zum Vorjahr sind in Ostpreußen schon wieder 13 000 Arbeitslose dazugekommen (Wojewodschafts-Arbeitsamt Alleinstein). Zwar ist die Arbeitslosenzahl im Mai um 2000 gefallen, hierbei handelt es sich aber ausschließlich um Saisonarbeitsplätze in den Bereichen Bau und Tourismus.

Gerade was den Tourismus betrifft, zeigt sich hier ein weiterer Schwachpunkt Ostpreußens. Die Perspektiven sind da, das Potential ist groß, aber zur Zeit gibt es viel zu wenig Ganzjahresangebote und damit fast nur Arbeitsplätze für die Sommermonate. Nicht nur die Arbeitnehmer leiden darunter, auf Dauer kann kein Unternehmen dieser Branche ausschließlich mit Einnahmen aus der Sommersaison wirtschaftlich überleben.

So wird zum Herbst im Allensteiner Raum ein weiteres Anwachsen der Arbeitslosigkeit erwartet, erklärt das Wojewodschafts-Arbeitsamt der polnischen Presse gegenüber. Eine tendenzielle Wende sieht man nicht. Im Gegenteil, der Beginn der Entlassungen im Bildungsbereich steht demnächst an. Demografischer Effekt und Bildungsreform werden etliche Lehrer und Schulangestellte treffen. Auch die fortschreitende Gesundheitsreform sieht man in Alleinstein als Jobkiller an.

Ein besonders beunruhigendes Signal ist für das Arbeitsamt aber die Tatsache, daß Massenentlassungen (in Polen ab 10 Prozent der Beschäftigten eines Betriebes) zunehmend auch den privatwirtschaftlichen Sektor treffen. Immer wieder sorgen angekündigte Entlassungswellen wie jüngst bei der Fleischfabrik Mörlen bei Osterode für Aufregung. Das Arbeitsamt sieht in dieser Entwicklung ein alarmierendes Zeichen für ein weiterhin flaues Investitionsklima.

Es gibt kaum größer Unternehmen in der Region, die viele Arbeitsplätze geschaffen haben. Nur ABB Zamech Elbing (Asea Brown Boveri-Gruppe), Somit Allenstein (Michelin-Konzern) und Mazurski Meble Intern. Allenstein (Rolf Demuth-Gruppe) brachten jeweils mehr als 3000 Arbeitsplätze. Die Mörlener Fleischfabrik mit ihren etwa 2000 Beschäftigten steht schon auf Platz fünf der Liste der 15 größten Unternehmen der Region. Jeweils fünf dieser Firmen haben sich in den Ballungsräumen um Elbing und Allenstein angesiedelt. Auf dem flachen Land fehlen derzeit sowohl die Infrastruktur als auch die gut ausgebildeten Arbeitskräfte, wie sie in Produktion und Dienstleistung gebraucht werden und anderswo in Polen zu finden sind.

Entwicklung tut also not, damit Ostpreußen den Anschluß nicht vollends verpaßt.

Bisher war Warschau weit weg in diesem ländlichen Raum. Besonders die einst deutschen Landesteile fühlten sich immer stiefmütterlich behandelt, waren aber bei jeder Kleinigkeit auf die Hauptstadt angewiesen, denn Polen wurde zentralistisch regiert. Der Instanzenweg war nach Jahrzehnten kommunistischer Regierung noch um ein Vielfaches schwerfälliger als im ähnlich strukturierten Frankreich. Da nimmt es nicht wunder, daß nach der politischen Wende die Bürgermeister ostpreußischer Städte sich eher an ihre deutschen Partnerstädte wandten, als daß sie in Warschau Hilfe suchten. Ein Schritt in die richtige Richtung wurde mit der Verwaltungsreform von 1999 getan. Aus 49 Bezirken machte man 16 große Wojewodschaften, führte als untere Verwaltungsebene die Kreise (powiat) wieder ein und darunter die Gminas, die etwa unseren Samtgemeinen entsprechen, wobei sämtliche Ebenen direkt gewählte Parlamente bekamen.

Die neuen Wojewodschaften kommen nun eher unseren Bundesländern nahe, haben eigene Haushalte und können eine eigene Wirtschaftspolitik gestalten. Als viertgrößten von allen umfaßt die Allensteiner Wojewodschaft das ganze südliche Ostpreußen. Nun wo die regionalen Kompetenzen gestärkt sind, kann man wenigstens auf Besserung hoffen, auch wenn das Erbe schwer ist.

Entwicklungstrategien sind gerade landesweit in Mode, jede Gemeinde, die auf sich hält, hat so einen hübsch formulierten Plan im Internet stehen, wenn auch fast immer die Finanzierungspläne zur Realisierung fehlen. Im vom Gesichtskreis des eigenen Kirchturms begrenzten örtlichen Rahmen wird das aber nicht gehen. Dort können weder gesellschaftliche noch bildungspolitische, auch nicht wirtschaftliche oder die Infrastruktur der Region nachhaltig verbessernde Maßnahmen durchgesetzt werden. Integration ist nötig, nur in einem gemeinsamen Entwicklungsplan auf Ebene der Region kann das Heil liegen. Daher ist es höchste Zeit, daß am 24. Juli der Entwicklungsplan der Wojewodschaft endlich verabschiedet wird. Die Region kann nur vorankommen, wenn das Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land abgebaut wird und den Menschen auch in den entlegensten Dörfern Lebensperspektiven geboten werden, um den drohenden Kollaps zu vermeiden, wenn das große Höfesterben kommt, das so elegant Anpassung der polnischen Landwirtschaft an den EU-Standard genannt wird.