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19.08.00 Das Werk des Philosophen im Spiegel der Staatskultur der DDR

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 19. August 2000


Friedrich Nietzsche: "Zerstörer der Vernunft"
Das Werk des Philosophen im Spiegel der Staatskultur der DDR

Das zerstörte, geteilte und besetzte Deutschland stellte 1945 den "weitreichenden Giganten der nachgoetheschen Epoche" (Benn), den "Letzten der großen abendländischen Denker" (Heidegger) vor Gericht. Friedrich Nietzsche wurde politisch-moralisch angeklagt: Antihumanismus, Immoralität, Gottlosigkeit, Relativismus. Doch sogar in der Ostzone gab es zunächst Verteidiger. Ob Nietzsche ein "Präfaschist" oder vielleicht doch "erbefähig" sei, das war "scheinbar" noch nicht entschieden.

Ist es möglich, Nietzsche mißzuverstehen? Es gibt selbst innerhalb der engen weltanschaulichen Auslegung einige Verwirrung. War Nietzsche ein unbürgerlicher Kulturkritiker oder der Ideologe der bürgerlichen Klasse? War er ein aufgeklärter Freigeist, wie Theodor W. Adorno ihn sah, oder gar Wegbereiter des deutschen Imperialismus? Offensichtlich kann man Nietzsches Haltung zum Humanismus als präfaschistisch oder als unbürgerlich im linken Sinn deuten. Seine Polemik gegen Metaphysik und Idealismus, gegen Philister und Kapitalismus ließ sozialistische Exegese durchaus zu. Und tatsächlich hatte und hat die links inspirierte Philosophie in Frankreich keine ideologischen Schwierigkeiten mit Nietzsche. In der DDR dagegen hieß es: Nietzsche sei ein "bedeutender Philosoph der deutschen Bourgeoisie in der Periode des Übergangs zum Imperialismus, Vertreter eines extremen Subjektivismus, Irrationalismus und Voluntarismus". Der Verfasser des Nietzsche-Stichworts in dem 1987 im Ostberliner Dietz Verlag erschienenen "Philosophen-Lexikon", Heinz Malorny, belehrt weiter: "Bedrängt von der Einsicht in die Brüchigkeit der bürgerlichen Gesellschaft und von der Ahnung nahender Katastrophen, erfüllt von Furcht vor den Volksmassen und ihren Emanzipationsbestrebungen und besonders vor dem Erstarken der revolutionären Arbeiterbewegung [...], übte Nietzsche scharfe Kritik an der liberalen Bourgeoisie seiner Zeit." Wenngleich die Kritik partiell richtig gewesen sei, so "war es doch eine Kritik von rechts".

Aus dem politischen Nietzsche-Wirrwarr bietet sich ein Ausweg an: Man nenne jede politische Deutung "Verhunzung" (Thomas Mann) und suche den philosophischen Zugang. "Nietzsche ist das, was er eigentlich ist, zuerst und langehin für die Wenigen, die im Denken es mit der Philosophie und nur damit ernst nehmen", bestimmte Heidegger (gegen Alfred Baeumler). Unbestritten, Nietzsche ist allererst Philosoph. Er hat die Schwierigkeiten formuliert, vor denen das moderne Denken steht. Von diesem Standpunkt aus darf man auf die Zusammenhänge von Zitaten, den Status der Texte, die Entwicklungsphasen verweisen. Aber wird so das Problem gelöst? Nietzsche hat Perspektiven eröffne, aber welche?

Welcher Art ist der Zusammenhang von Nietzsches Denken? Was heißt "sachliche" Auseinandersetzung? Sicher, die schlimmsten Vereinnahmungen können berichtigt werden, aber kann man ein "korrektes" Bild dagegenstellen? Nietzsche wollte "genau" gelesen werden. Hat er denn "genau" geschrieben? Nietzsche wurde immer wieder neu entdeckt: als Dichter, als Heros, als Musiker, als Amoralist, als Religionskritiker, als Verrückter, als Philosoph, als politischer Visionär und fast immer mit Grund. Jeder hat seinen Nietzsche, jede Interpretation findet ihr Belegzitat. Es gibt allenfalls Grade der Verfälschung.

Nietzsche war ein Mensch mit höchster Sensitivität für Krisen. Er war jemand, der dogmatisch festgefahrene Denk- und Darstellungsformen auflöste. Ihn deshalb auf eine negative Offenheit zu reduzieren wird ihm nicht gerecht. Jede Isolation von Zitaten ist Verstellung, und jedes klar erkannte "innere Wesensgefüge" (Eugen Fink) ebenfalls. Es gibt eine Unvereinbarkeit in fundamentalen Äußerungen Nietzsches. Man wird diese aushalten müssen: Und also auch widerstrebende Deutungen.

Es gibt keinen Nietzscheanismus ohne Philosophie. Aber Nietzsche existiert auch nicht jenseits politischer Wirkungsabsicht. Das Allzutägliche, das Anstößige, das Verschrobene ignorieren hieße eine Verkürzung durch eine andere "wenngleich geistreichere" zu beseitigen. Nietzsches Werk geriet nicht unversehens in den europäischen Bürgerkrieg. Er hatte den Kampf vorhergesehen und Position bezogen, freilich eher verdeckt, zumindest nicht eindeutig. Und so kann der These, Nietzsche sei eigentlich der "gute Europäer" (Manfred Riedel), eine Unmenge von Zitaten entgegengestellt werden: Belege voller Ressentiments, infantiler Gereiztheiten, Verbalexzessen, Plattheiten. Allzuoft trifft man auf den martialischen Krampf, den Edelkitsch, die Albernheiten des Asozialen. Man muß Nietzsche nicht wörtlich nehmen, darf manches auf die Fälschungen der Schwester schieben, aber das bedenkliche Wort Masse stammt tatsächlich von ihm. Die Kategorien Herrenmensch, höherer Typus, Züchtung, Bestie, Instinkt, das Biologische lassen sich philosophisch mildern, von wissenschaftstheoretischen Subtilitäten umstellen, auf "die Sprache der Zeit" oder die Migräne schieben, aber nicht völlig tilgen. Die "Umwertung der Werte" war für Nietzsche nichts Unverbindliches.

Das "parodistische Element" in Nietzsches Texten (Hans-Georg Gadamer) führt notwendig zur Verkennung. Nietzsche denkt in Bildern. Sein exzentrisches Denken ist Provokation. Er zerstört den überkommenen Wahrheitsbegriff radikal. Darin liegt seine Besonderheit. Wahrheit ist ihm nichts als "ein bewegliches Heer von Metaphern". Nietzsche bezieht sich auf keine Substanz. Das macht ihn philosophisch und ästhetisch so anregend, aber politisch so labil "und nutzbar für vielerlei. Das Gewirr ständiger Relativierungen, Umformulierungen, Aufhebungen ... Nietzsches Wirkungsgeschichte ist das Bestreben, in den Widersprüchen einen Sinn zu finden.

Die heimgekehrten "Westemigranten" vor allem verteidigen Nietzsche 1945 in der SBZ: Man möge Nietzsche nicht mit Baeumler oder Rosenberg verwechseln. Zu den Apologeten gehört auch der junge Wolfgang Harich. Harich stellt 1946 im Westberliner "Kurier" fest, Nietzsche habe nie die "Trompete des Patriotismus" geblasen, und deshalb sei er kein "Verhängnis". Ähnlich argumentiert Ewa Siebert 1947 in der "Weltbühne": Sie spricht den Delinquenten vom Verdacht, ein geistiger Brandstifter gewesen zu sein, frei, weil Nietzsche den deutschen Nationalstaat angegriffen habe. Doch die Verteidigung scheitert. Die stalinistischen Kulturfunktionäre bestimmen längst das Verfahren.

Johannes R. Becher, einst glühender Nietzscheaner, eiferte schon im Moskauer Exil (im Essay "Deutsche Lehre", 1943) gegen Nietzsche: Dessen Denken sei der Keim zur Idee eines "germanischen Europa" unter Führung des preußischen Militarismus. Nietzsche wird einflußreich zum Urheber des Nationalsozialismus erklärt. Ernst Niekisch dämonisiert Nietzsche ähnlich: "Im Vorraum des Faschismus" (1946 in der Zeitschrift "Aufbau"). Niekisch meint, die "bestialische Philosophie", die "unteren Mächte" kündigten in Nietzsches Werk ihre Herrschaft an. Und Otto Grotewohl, der die SPD in die SED geführt hat, nennt auf der "I. Kulturkonferenz der SED" 1948 die SS "Söhne Zarathustras".

Die Linien der dominierenden antifaschistischen Deutung, vorgezeichnet im sowjetischen Exil, sind gerade. Wiederholt wird, was Mussolini und Hitler über Nietzsche dachten, aber nicht, was der Denker selbst geäußert hatte. Begriffe wie Übermensch, "blonde Bestie", Rasse, Nihilismus reizen die roten "Humanisten". Nietzsche wird zum Staatsfeind erklärt. Die russischen Besatzer präjudizierten diese Linie: 1945 muß Hans-Georg Gadamer, Rektor in Leipzig, auf Befehl den Namen Nietzsche aus dem Ehrenverzeichnis der Universität streichen. In Weimar schließt die Sowjetische Militäradministration (SMA) das Nietzsche-Archiv. Der 70jährige Vetter Nietzsches Max Oehler wird 1945 verhaftet und verhungert in einem Gefängniskeller. Jede Nietzsche-Würdigung in Weimar wird untersagt. Der Nachlaß verschwindet allerdings "eher zufällig" nicht in Rußland, sondern wird dem Goethe-und-Schiller-Archiv (GSA) unterstellt. Dessen Leiter Hans Wahl hat sogar das Ansinnen, Nietzsches Sterbezimmer in "den alten Zustand" zu bringen. Mit Wahls Tod 1949 finden solche Anachronismen ein Ende. 1953 werden die "Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten in Weimar" (NFG) gegründet. Deren Direktor, der Kulturfunktionär Helmut Holtzhauer, zerstreut den Nietzsche-Nachlaß. Die Handschriften bleiben aber im GSA.

Nietzsche hat im "Arbeiter- und Bauern-Staat" keinen Platz. Neben Becher stammt das intellektuelle Rüstzeug der Nietzsche-Feme vor allem von Georg Lukacs (1885–1971), einem ungarischen Kommunisten, der in Deutschland Philosophie studiert hatte. 1934 noch hebt Lukacs Nietzsche als "geistreichen" Denker gegen braune Verzerrungen ab. Im stalinistischen Exil vollzieht er die Wende: die politische und ästhetische Abkehr von der Moderne. In Bechers Emigranten-Zeitschrift Internationale Literatur erscheint 1943 der Angriff "Der deutsche Faschismus und Nietzsche". Lukacs’ "Geschichte der deutschen Literatur im Zeitalter des Imperialismus" (1945) teilt Literatur in "fortschrittliche" und "reaktionäre". Die "Erbepolitik" in der DDR erhält ihren Kanon. Nietzsche ist der Reaktionär schlechthin. Das Buch "Die Zerstörung der Vernunft" (1955) wirkt unsäglich. Von Schellings "intellektueller Anschauung" verlaufe ein direkter Weg über Schopenhauer und Nietzsche zum Faschismus. Nietzsche sei der Begründer des imperialistischen Irrationalismus. Lukacs ideologisiert Nietzsche vollständig, entwertet sein Denken zur Machtergreifungslehre. Zwar attackiert Ernst Bloch im Herbst 1956 an der Universität Leipzig das Nietzsche-Bild von Lukacs, sieht darin etwas "ungeheuer Schädliches", weil es Hitler in eine "vornehme Gegend" bringe, auch betont Bloch Nietzsches Ablehnung des deutschen Nationalismus und stellt Nietzsches "Lebensform des Vornehmen" gegen den Nationalsozialismus. Aber diese ebenso selbstvergessene wie deplazierte Exegese hat keine Chance. Bloch verläßt die DDR. In der Ost-Berliner Zeitschrift für Philosophie erscheint bis in die achtziger Jahre kein Beitrag mehr über Nietzsche.

Einige "wissenschaftliche" Elaborate wollen die Kontinuität des Faschismus im "Westen" anhand der Nietzsche-Rezeption nachweisen: Zu nennen ist Wolfgang Heises "Aufbruch in die Illusion" (1964) und Stepan F. Odujevs "Auf den Spuren Zarathustras" (1977). Odujevs Buch ist die einzige Nietzsche-Monographie, die in der DDR erscheint. Die offizielle Nietzsche-Rezeption ist erstarrt, sie ist primitiv. Nietzsches Werk wird von den SED-Philosophen banalisiert: Es verachte die Vernunft und die Dialektik, verneine den Sozialismus, predige das Erobern.

Nietzsche-Stätten in Mitteldeutschland verfallen. Das Grab in Röcken wird von einer einfachen, aber herzensguten und rührend bemühten Küsterin gegen den stillen Widerstand des Pastors gepflegt. Kunstführer verschweigen, daß in Weimar Nietzsches Nachlaß liegt. Es herrscht ein rigides Publikationsverbot. Veröffentlicht von Nietzsche wird nur das Gedicht "An den Mistral" in Hermlins "Deutschem Lesebuch" (1976) und wenige Briefe in der Sammlung "Deutsche Briefe aus Italien" (1965). In den siebziger Jahren allerdings bekommt der Italiener Mazzino Montinari, ein Kommunist, uneingeschränkten Zugang zum Nachlaß. An DDR-Universitäten entstehen über Nietzsche eine Habilitation und zwei Dissertationen (beide in Jena). "Ecce homo" erscheint 1985 in einer bibliophilen Faksimile-Ausgabe. Angesehene DDR-Verlage, voran Reclam, planen, Nietzsche-Schriften zu publizieren. Renate Reschke schreibt 1983 in den Weimarer Beiträgen einen unorthodoxen Aufsatz zu "Tendenzen moderner bürgerlicher Nietzsche-Rezeption" und der Leipziger Literaturwissenschaftler Eike Middell geht 1985 ebendort kritisch auf Lukacs’ Auseinandersetzung mit Nietzsche ein. Seine Studie "Totalität und Dekadenz" wirft Lukacs vor, auf die "faschistische Funktionalisierung" Nietzsches hereingefallen zu sein. Ein Nietzsche-Buch von Middell soll 1986 im Akademie-Verlag erscheinen. Dazu kommt es nicht.

1986 rechnet eine "Nietzsche-Konferenz" der Universität Halle-Wittenberg auf Weisung der SED-Bezirksleitung mit Nietzsche ab. Hans-Martin Gerlach gibt die Ergebnisse 1988 in der Zeitschrift für Philosophie preis. Gerlach bekräftigt Nietzsches Schuld am Nationalsozialismus, beschwört seine anhaltende Gefährlichkeit. Zuvor allerdings hatte es eine erstaunliche Kontroverse in der Zeitschrift "Sinn und Form" gegeben: Der Philosoph Heinz Pepperle fragt 1986: "Revision des marxistischen Nietzsche-Bildes?" und sucht den "inneren Zusammenhang einer fragmentarischen Philosophie". Die Idee, Nietzsche dem "Kulturerbe" der DDR zuzuschlagen, ruft den einstigen Nietzsche-Apologeten Wolfgang Harich (1923–1995) auf den Plan. Er beginnt einen wüsten Feldzug gegen alle Versuche, das Werk Nietzsches überhaupt zu diskutieren. Der ehemalige Ulbricht-Gegner und Bautzen-Häftling war bereits alarmiert von der Offerte der SED-Kulturbürokratie an ihn, ein "ausgewogenes" Nietzsche-Buch zu schreiben. Er lehnte brüsk ab. In einem Beitrag in "Sinn und Form" fordert er nun (1987), auf Pepperle eingehend, ein Zitierverbot Nietzsches als Maßnahme "geistiger Hygiene". Nietzsches Werk sei eine "Kloake". Das Pamphlet findet Widerspruch, so von Gerd Irrlitz, der rät, vor einem Urteil die Texte zu lesen (was ihre Veröffentlichung voraussetzt), und von Stephan Hermlin. Hermlin bestreitet auf dem X. DDR-Schriftstellerkongreß den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Marx und Nietzsche. Die Debatte droht außer Kontrolle zu geraten. Nietzsche ist in der DDR mehr als bloß ein Denker, er ist ideologisches "Dynamit". Manfred Buhr, Professor an der Akademie der Wissenschaften, mischt sich ex cathedra ein. Zwar bezeichnet er Harichs Text als "inquisitorisch", gibt dem Autor aber in der Sache recht. "Wer über Nietzsche schreibt, der redet politisch." Buhr weist jeden "klassenneutralen" Standpunkt zurück. "Das Denken Nietzsches und seine Wirkungsgeschichte gehören zusammen." Und die Wirkung Nietzsches sei unabweisbar: "Spuren schrecken ... Sie sollen auch schrecken, weil es mindestens nach Auschwitz keine unschuldige Weltanschauung und Kunst mehr geben kann."

Anfang der achtziger Jahre wird der Begriff des "nationalen Kulturerbes" erweitert, nun passen sogar Bismarck und Friedrich der Große hinein. Die Romantik wird angemessener zur Kenntnis genommen, Surrealismus, Psychoanalyse, Ortega y Gasset werden vorsichtig rezipiert. Der Weimarer NFG-Chef Walter Dietze, der in der Klassik-Deutung "harmonisierende, kanonisierende Auffassungen" überwinden will, beschließt, die abgewohnte Nietzsche-Villa als Gästehaus herzurichten. Jürgen Teller (1927–1999), Blochs letzter Assistent in Leipzig, ein Gnadenbrot bei den NFG in Weimar kauend, versucht im Zuge der Renovierung, Nietzsches Bibliothek und Möbel aus den Verliesen zu holen, Vortragssaal und Bibliothek wieder im Van-de-Velde-Stil herzustellen. Er will sogar in der Villa am Silberblick eine Dokumentation errichten. Teller und Dietze werden von Hermlin unterstützt, auch von Kulturminister Hoffmann. Doch Harich bekommt Wind von der Sache. Er protestiert beim Minister. Ein Nietzsche-Gedenkzimmer diene nicht den Interessen der Bürger der DDR. "Mir scheint dies eine äußerst problematische Konzession bestenfalls an das Sensationsbedürfnis, schlimmstenfalls an subversive Bestrebungen von Touristen, ausländischen Missionsmitgliedern, westlichen Journalisten usw. zu sein [...]. Mir ist es schon passiert, daß ich von einem Ausländer bei einem Spaziergang nach dem Grab von Horst Wessel gefragt wurde. Auch dieses in Berlin wiederherzurichten und beliebigen Besuchern zugänglich zu machen, läge auf der Linie des Weimarer Vorhabens [...]." Harich wendet sich auch an Ministerpräsident Stoph, und in Gesprächen an der Akademie der Wissenschaften soll er die Einebnung des Nietzsche-Grabes gefordert haben. SED-Kulturchef Hager gibt nach: Alle Pläne für das Nietzsche-Haus werden gestoppt. Dem Andenken an die Kämpfer gegen den Faschismus könne man eine Stätte für Nietzsche nicht zumuten.

Sie haben es ertragen: Den Staats-Schriftstellern, den SED-Philosophen ..., ihnen fehlte Nietzsche nicht. In der DDR herrschte eine stupide ideokratische Diktatur, die überall den Boden bereitete "für geistigen Inzest großen Stils" (Sebastian Kleinschmidt). Die SED fand nie zu einer "produktiven Rezeption" Nietzsches. Aber natürlich wurde Nietzsche in der DDR gelesen und diskutiert. Der Dichter Rolf Schilling hielt 1976 vor illustrer Schar eine Rede "Zum Nietzsche-Tag" auf dem Kirchhof zu Röcken: "Hier vollendete sich der Weg jenes großen Deutschen, der, von Mit- und Nachwelt gleich verkannt, uns, den Spätgeborenen, den vielleicht letzten Begriff von der erhabenen Vagabondage des Geistes und Gefühls, von ausschweifend-enthusiastischem Künstlertum gegeben hat." Die DDR kommt in diesem Panegyrikus nicht vor. Adrian Grau