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02.09.00 Frankreich: Ein Fall wie viele zeigt den ungleichen Umgang mit Kriegsverbrechen

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 02. September 2000


Angoulême: "Erschießt die Gefangenen!"
Frankreich: Ein Fall wie viele zeigt den ungleichen Umgang mit Kriegsverbrechen
Von HANS-JOACHIM v. LEESEN

Ist ein Krieg vorbei, dann stehen beide Seiten, ob Sieger oder Besiegte, vor den Trümmern, seien es die materiellen wie Haus und Hof, seien es moralische und ethische. Wie mit zerstörten Häusern umzugehen ist, darüber ist man sich weithin einig: sie sind wieder aufzubauen. Was mit zerstörten Wertmaßstäben, den Verbrechen und jenen geschehen soll, die Verbrechen begangen haben, darüber gibt es grundverschiedene Ansichten.

Als nach dem fürchterlichen Dreißigjährigen Kriege vor über 350 Jahren jene Mächte, die weite Teile Deutschlands verwüstet hatten, sich in Münster und Osnabrück trafen, um Frieden zu schließen, kamen sie überein, über die von allen Parteien verübten Verbrechen den Mantel des Vergessens zu breiten. Es galt die allgemeine Generalamnestie. In der weisen Erkenntnis, daß die Ahndung der Verbrechen die Völker auf Jahrzehnte hinaus zerreißen würde, stellte man sogar unter Strafe, wenn jemand Beschuldigungen erhob und damit die langsam vernarbenden Wunden wieder aufriß.

So gingen in praxi auch die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges mit den von ihnen begangenen Verbrechen um. In keinem einzigen Land, ob in Frankreich oder Großbritannien, den USA oder der Sowjetunion, ob in Polen, der Tschechei oder Jugoslawien und Griechenland – in keinem dieser Länder wurde auch nur eines der Verbrechen, das von Bürgern des eigenen Landes zwischen 1939 und 1945 Menschen gegnerischer Staaten zugefügt worden war, geahndet. Das ließ im Laufe der Jahrzehnte die Legende aufkommen, daß diese Länder mit reiner Weste aus der Vergangenheit hervorgegangen seien, eine Legende, die von jedem Historiker widerlegt werden kann.

Ganz anders verhielt sich das geschlagene Deutschland. Die Kräfte, in deren Hände nach der militärischen Niederlage die Macht in Deutschland gelangte, vertraten die Meinung, es müßten die von Deutschen begangenen Kriegsverbrechen in möglichst exzessiver Weise an den Pranger gestellt und verfolgt werden. Sie gaben vor, diese Forderung zu erheben, weil dadurch das deutsche Volk moralisch geläutert werde. Außerdem würde die öffentliche Ausbreitung der von Deutschen begangenen Verfehlungen dazu führen, daß dergleichen auf der ganzen Welt nie wieder geschehe. Es wurde verboten, und dieses Verbot wird bis heute von publizistischen "Instanzen" bis zum Bundespräsidenten immer wiederholt, deutsche angebliche oder wirkliche Untaten zu vergessen. Solche Appelle und dementsprechende Handlungen wurden um so rabiater, je weiter man sich vom Kriegsgeschehen entfernte. Das Erstaunliche: die deutsche politische Klasse machte weitgehend mit, so als würde es ihr behagen, die Wunden nicht vernarben zu lassen.

Wie andere Nationen mit Kriegsverbrechen umgehen, die von ihren Bürgern begangen worden sind, dafür findet der aufmerksame Betrachter immer wieder erstaunliche Beispiele. Ein solches geriet durch Zufall der Redaktion dieser Zeitung zur Kenntnis.

Am 20. September 1996 veröffentlichte die französische Tageszeitung "Courrier Francais de Charente" eine beinahe ganzseitige Geschichte unter dem Titel "Le fusillé rescapé de 1944". In Wort und Bild berichtete das Blatt von dem Besuch des nunmehr 71jährigen ehemaligen deutschen Soldaten Helmut Dressel in Angoulême, einer Stadt etwa hundert Kilometer nördlich von Bordeaux. Dressel war am 31. August 1944 zusammen mit weiteren Kameraden in Angoulême in die Gefangenschaft der französischen Widerstandsbewegung geraten und eine Stunde nach der Gefangennahme von einem Kommando nierdergeschossen worden. Seine ebenso wehrlosen Kameraden fanden ausnahmslos den Tod durch die Hand der Partisanen. Nun wollte er den Ort seiner nur durch unglaubliches Glück gescheiterten Ermordung noch einmal besuchen, was die Aufmerksamkeit der örtlichen Zeitungsredakteure erregte, die sachlich und unaufgeregt über die damaligen Ereignisse berichteten. Dabei stützten sie sich nicht nur auf die Erzählungen des deutschen Zeitzeugen, sondern konnten auch auf Fotografien zurückgreifen, auf denen das damalige grausige Geschehen festgehalten war.

Am 16. August 1944 gab Hitler den Befehl zur schrittweisen Räumung Südfrankreichs. Drei Tage später begann der Rückzug der Heeresgruppe G von der spanischen Grenze und der Atlantikküste. Zu den zurückgehenden Soldaten gehörte auch Helmut Dressel. Er war 19 Jahre alt und noch niemals in Kampfhandlungen verwickelt gewesen. Der geborene Thüringer, aus einer kommunistisch gesinnten Familie stammend, wurde nach seiner Dienstzeit im Reichs- arbeitsdienst zur Wehrmacht eingezogen und im Frühjahr 1944 mit seiner Einheit an die Atlantikküste verlegt. Er tat Dienst an der spanischen Grenze. Beim Rückzug der Heeresgruppe G wurde Dressel versprengt und machte sich gemeinsam mit vier Kameraden auf den Weg in Richtung Dijon. Über Bordeaux geriet er in die heute 50 000 Einwohner zählende Stadt Angoulême, dem Verwaltungssitz des Departements Charente, besonders bekannt durch die in seiner Gegend angebauten Weine.

Die Gruppe hatte einen Lkw auftreiben können, der bei der Durchfahrt durch Angoulême durch ein Kommando der Resistance, sogenannten FFI-Leuten, gestoppt wurde. Die Deutschen, allein auf weiter Flur, ergaben sich kampflos und wurden entwaffnet. Sie beobachteten, daß offenbar ein in einen Ledermantel gekleideter Fotograf mit einer Pistole in der Hand das Kommando über die Freischärler hatte. Dieser Fotograf machte auch einige Aufnahmen und wird einige Jahrzehnte später ein Buch über die Geschichte der französischen Widerstandsbewegung schreiben, in dem er aus seiner Sicht die Ereignisse am 31. August 1944 in Angoulême schildert, allerdings in einer Weise, die einigen Zweifel an der Rolle entstehen läßt, die er in seiner Selbstdarstellung schilderte. Tatsächlich hatte er wohl eine wesentlich aktivere und bestimmendere Aufgabe in dem Kommando der Partisanen gehabt, als von ihm heute zugegeben wird.

Die Freischärler befehlen den deutschen Gefangenen, sich an einer Mauer niederzusetzen, da sie für die Zeitung fotografiert werden sollen. Man unterhält sich; offenbar können einige der Partisanen deutsch. Plötzlich wird den Gefangenen befohlen, sich zu erheben. Sie müssen sich mit dem Rücken zur Wand vor eine Mauer stellen am Place Bourbonnaise an der Einmündung der Rue de Moulin des Dames. Die Resistance-Partisanen formieren sich offenkundig zu einem Erschießungskommando. Unter ihnen fällt ein sehr junger Mann auf, von dem später aus dem Buch des Fotografen zu erfahren ist, daß er 16 Jahre alt war. Einige der deutschen Gefangenen, die begreifen, daß man sie ermorden will, rufen nach ihrer Mutter, einer schreit "Pardon". Es nützt nichts. Unter den beobachtenden Blicken von Anwohnern, die aus den Fenstern gucken, bringen die Franzosen ihre Karabiner in Anschlag und strecken mit einer Salve die deutsche Kriegsgefangenen nieder.

Die Salve war auf den Unterleib gezielt und riß bei den meisten Deutschen schreckliche Wunden. Sie wälzten sich schreiend am Boden, wie später der Fotograf in seinem Buch beschrieb. Die Partisanen traten auf die sich am Boden Krümmenden zu und gaben einem nach dem anderen den Fangschuß.

Den heute noch lebenden Helmut Dressel traf der Pistolenschuß im Genick. Heute noch sitzt das Projektil bei ihm zwischen Wirbelsäule und Unterkiefer. Zwar verlor er das Bewußtsein, doch lebte er. Nach den Schilderungen im Buch des Fotografen wurden daraufhin die Leichen oder die vermeintlichen Leichen geplündert. Man zog ihnen die Stiefel aus, entleerte ihre Taschen, stahl ihnen die Uhren.

Helmut Dressel wachte in der Nacht aus seiner Bewußtlosigkeit auf, weil er Feuchtigkeit im Gesicht verspürte. Er bemerkte, daß jemand auf die toten Deutschen seine Notdurft verrichtete. Wieder verlor Dressel das Bewußtsein. Erneut wurde er wach, als er an Armen und Beinen weggetragen werden sollte. Er machte sich, so gut es ging, bemerkbar. Offenbar mußten deutsche Kriegsgefangene die toten Kameraden wegschaffen. Einer von ihnen bestand darauf, daß Dressel ärztlich versorgt werde. Eine Französin leistete Erste Hilfe; eine Familie nahm sich seiner an. Die übrigen Leichen wurden zusammengetragen – es erwies sich, daß an anderen Stellen der Stadt noch weitere tote deutsche Soldaten lagen – und vor einem noch heute existierenden Haus am Place Bourbonnaise an der Einmündung der Rue de Bordeaux niedergelegt.

Dressel wurde am nächsten Tag ins Hospital Beaulieu geschafft, wo er zwar noch einmal von Widerstandskämpfern beschimpft wurde, man ihn im übrigen aber ärztlich versorgte. So überlebte Helmut Dressel und konnte 52 Jahre später den Ort des Verbrechens wieder besuchen.

Bezeichnend für den Umgang mit eigenen Kriegsverbrechern ist in Frankreich die Schilderung, die der damalige Fotograf in seinem Buch über die Geschichte der Resistance abliefert. Autor ist Louis Boye, der seinem Buch den Titel gab "Un jour, le grand bateau viendra – Chroniques de la Resistance". Es erschien im Verlag L’Harmattan, Paris, Anfang des Jahres 1996. Boye gibt sich darin als Fotograf aus, der in der Nähe des Tatortes wohnte und durch Zufall Zeuge wurde. Tatsächlich gab er den Partisanen die Anweisung, den Lkw, mit dem die deutschen Soldaten in den Ort gekommen waren, wegzuschaffen. Er behauptet, zu der Gruppe sei ein Melder mit einem Brief gekommen, der den Befehl enthielt: "Erschießt die Gefangenen!", mit der Begründung, es sei eine Vergeltungsmaßnahme. Helmut Dressel hat davon nichts beobachten können. Der französische Buchautor bezweifelt selbst die Begründung.

Die Gefangenen werden angewiesen, sich an die Mauer zu stellen. Einer versucht zu fliehen. Der Fotograf und spätere Buchautor beschreibt, wie er mit dem Revolver in der Hand hinter dem Flüchtenden herläuft. Der Gefangene stürzt in eine Art Baugrube und bleibt betäubt auf ihrem Grund liegen. Dazu der französische Buchautor: "Endlich kommt einer der FFIs (Partisanen), der weit hinter mir war. Ich zeige ihm, wie man in die Grube hinabsteigen kann ... Er geht hin und macht dem Deutschen kalten Blutes mit einer Kugel in den Kopf den Garaus." Zurückgekehrt zu der Gruppe der inzwischen erschossenen Gefangenen, stellt der Fotograf fest, daß sich die erschossenen Soldaten noch bewegen. "Sie bewegen sich noch, verkrampfen sich, kriechen auf dem Boden wie Würmer ... Ich bücke mich zu einem der Sterbenden, den ich umdrehe. Seine Augen sind geöffnet, der Blick ist leer und verschleiert. Ich starre in diese Augen, die mich nicht mehr sehen. Was sehen sie wohl jetzt jenseits des Lebens? Ich mache ein Experiment: ich schieße neben seinen Ohren in die Luft. Der Deutsche zuckt, sein Mund verzieht sich, die Augenlider zucken. Die Bewegungen werden langsamer. Dann ist es aus."

Das Sterberegister der Gemeinde nennt unter dem (falschen) Datum des Todes 27. August 1944 (tatsächlich: 31. August) 14 unbekannte deutsche Soldaten. Man begräbt die ermordeten deutschen Soldaten auf dem Friedhof Bardines in Angoulême, von wo aus sie 1963 vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge umgebettet werden auf den deutschen Soldatenfriedhof Berneuil. Dort ruhen sie zusammen mit anderen unbekannten deutschen Soldaten.

Es ist nicht bekannt, daß die französischen Behörden gegen die Urheber des Verbrechens ermittelt hätten, geschweige denn, daß sie bestraft worden wären, wie es in Deutschland in einem ähnlichen Fall, in dem Deutsche Täter gewesen wären, unter großer publizistischer Anteilnahme aller Medien mit Sicherheit geschehen wäre.

Den deutschen Vergangenheitsbewältigern müßte sich eigentlich die Frage stellen, ob nun die Franzosen, die sich hartnäckig weigern, Vergangenheitsbewältigung in deutschem Stil zu betreiben, moralisch minderwertiger sind als die Deutschen. Merkwürdigerweise nimmt sich kein deutscher Vergangenheitsbewältiger die Einstellung der Sieger zum Vorbild, wie es sonst in diesen Kreisen die Regel ist. Und so hat sich denn in der Öffentlichkeit die Ansicht durchgesetzt, daß es nur Deutsche gewesen seien, die sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben. Und dafür müssen sie bis heute büßen.