27.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
09.09.00 Klaus Rainer Röhl: Gegen das Vergessen

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 09. September 2000


Klaus Rainer Röhl: Gegen das Vergessen

Sind Vertriebene Nazis? Für ein paar autonome Schreier, die jeden noch so friedlichen Vertriebenen-Kongreß mit Parolen und Störversuchen begleiten, ja. Ostpreußen, Schlesier, Sudetendeutsche und Pommern, die gekommen sind, um einmal im Jahr die Erinnerung an ihre Heimat wachzuhalten, aus der sie einst – völkerrechtswidrig – vertrieben worden sind, sehen sich plötzlich Sprechchören "Faschisten raus!" ausgesetzt.

Das sind natürlich nur ein paar psychisch gestörte Krawallmacher, will man uns weismachen. Doch Vorsicht. Vieles, was in den Patientenkollektiven der armen (Halb-)Irren erdacht wird, landet ein paar Jahre später als Redesplitter bei der Bundestagspräsidentin, mindestens aber beim Altbundespräsidenten. Und neuerdings bei Rau. So zum Beispiel, daß alle Deutschen von Haus besonders gefährlich sind. Gerade wir als Deutsche. Sind aufgerufen. Müßten, sollten, dürfen nicht. Heimatrecht? Das ist ein heißes Eisen.

Nicht für Tibeter, Kurden, Bosnier, Kosowo-Albaner, Hutus und Tutsis. Besonders für Kosovo-Albaner nicht. Da ist unser Außenminister sehr streng. Der Verteidigungsminister auch. Besonders diese beiden konnten sich während des Kosovo-Krieges gar nicht mehr einkriegen vor lauter Empörung über die Vertreibung und die "ethnische Säuberung". Vertreibungsverbrechen. Ethnische Säuberung. Buchstäblich alle fünf Minuten tönten diese Worte aus dem Mund der Politiker und Pressesprecher, in allen Fernseh- und Rundfunksendungen, in Talk- showrunden und Zeitungskommentaren: Ethnische Säuberung und Vertreibung. Die Worte kommen plötzlich 1999 so selbstverständlich daher wie das Wort Wolken und Sprühregen. Oder – Krieg. Gegen die Vertreibung.

Ethnische Säuberung heißt, einen Landstrich oder ein ganzes Land von Angehörigen eines bestimmten Volkes (einer Ethnie) zu "säubern" wie eine Wohnung von Kakerlaken oder einen Keller von Ratten. Alle Bewohner des Landes, die sich durch Sprache und ihre Kultur von den anderen unterscheiden, werden vertrieben, viele getötet. Das Ergebnis ist ein Landstrich oder ein Land, in dem nur noch Angehörige eines Volkes leben. Das Land ist jetzt ethnisch "sauber".

Vertreibungsverbrechen meint sowohl die Verbrechen, die während der Vertreibung der Bewohner des Landes begangen werden: Raub, Brandstiftung, Folter, Verstümmelung, massenhafte Vergewaltigung und Mord als auch das völkerrechtliche Verbrechen der Vertreibung selbst.

Vertreibung und ethnische Säuberung sind ein Bruch des Völkerrechts und ein schweres Verbrechen. So steht es in der Resolution der Uno-Menschenrechtskommission und auch im Bundestagsbeschluß vom 13. April 1994. Das gilt für alle Völker, jedenfalls für Kurden, Tibeter, Äthiopier, Hutus und Tutus, Serben, Bosnier und Albaner aus dem Kosovo.

Gilt es auch für Deutsche?

13 Millionen Deutsche wurden nach 1945 aus ihrer Heimat vertrieben, viele Hunderttausende deutscher Frauen vergewaltigt. 2,2 Millionen Deutsche in ganz Europa fanden bei den ethnischen Säuberungen den Tod. Die Zahlen werden inzwischen von niemandem mehr bestritten. Eigentum wurde zerstört oder enteignet, Milliardenwerte. Die Länder Polen und Tschechei sind seitdem, was die Deutschen anbetrifft, ethnisch sauber.

Doch die Millionen Toten, Vergewaltigten, aus ihrer Heimat Vertriebenen und Enteigneten wurden von grünen und sozialdemokratischen Politikern, auch von der Mehrheit der linksliberalen Medien bisher als eine Art Sühneopfer für die einmaligen Verbrechen Hitlers angesehen. Warum gerade sie? Ja – Pech gehabt.

Vertreibungsverbrechen sind zu verdammen. Gut so, Rudolf Scharping und Joschka Fischer. Aber wo ist die Empörung über die ethnische Säuberung von Pommern, Ostpreußen, Danzig, Schlesien und dem Sudetenland, der Vertreibung – und Ermordung von Millionen Landsleuten. Die Vergewaltigungen von rund zwei Millionen deutscher Frauen und Mädchen – zum Teil noch Kindern – war kein einmaliger spontaner Akt unmittelbar nach der Hitze des Gefechts, sie wurde von den Propagandisten wie dem Dichter Ilja Ehrenburg ausdrücklich gefordert, von den Militärbehörden geduldet. Über ein halbes Jahr lang wurden Hundertausende Frauen Tag für Tag und Nacht für Nacht vergewaltigt!

Und dennoch reichten die deutschen Vertriebenen die Hand zur Versöhnung. Zuerst waren es kirchliche Gruppen, Katholiken aus meiner Heimatstadt Danzig.

Und dennoch haben die deutschen Vertriebenen, vertreten durch ihre Organisationen, fünf Jahre nach dem Krieg, am 5. August 1950, die Charta der Vertriebenen veröffentlicht.

Doch in den Augen der Ostblockstaaten, ebenso wie in den Augen der deutschen Linken und Liberalen, blieben die Vertriebenen Revanchisten und Kriegshetzer, wenn nicht Schlimmeres. Heute, mehr als 50 Jahre nach der Charta, fragen sich manche Vertriebene, haben wir damals etwas falsch gemacht, waren wir zu schüchtern, haben wir uns vielleicht nicht deutlich genug ausgedrückt? War der "Verzicht auf Rache und Vergeltung" gleichbedeutend mit dem Verzicht auf das Gedächtnis? Vergessen? Vergessen das Leid, die Todesopfer und die erlittenen Demütigungen, der Lebenszeit und der erlittenen materiellen Verluste? Wird nicht nahezu an jedem Tag, unaufhörlich in allen Medien das deutsche Volk gemahnt, das maßlose Leid der unschuldigen Opfer des Hitler-Regimes nicht zu vergessen? Sind die Millionen ostpreußischer, pommerscher, schlesischer und sudetendeutscher Frauen und Kinder weniger unschuldig, nur weil sie Deutsche waren? Gibt es zweierlei Sorten von unschuldig Ermordeten und Zwangsarbeitern? Wird es nicht Zeit, daß auch von seiten der Tschechen und Polen ein Wort des Bedauerns fällt, die Menschenwürde der Vertriebenen und ihr Recht auf Heimat anerkannt wird? Gegen das Vergessen: Ist es nicht langsam Zeit, an die deutschen Vertriebenen zu denken, die Ermordeten, die Gequälten und Geschundenen, die oft in Lagern jahrelang Zwangsarbeit leisteten, von denen die meisten krank und gebrechlich geworden sind, viele schon gestorben sind und in den nächsten Jahren sterben werden, ohne daß auch nur ein Wort des Bedauerns fällt, auch nur eine Geste der Wiedergutmachung, geschweige denn eine Entschädigung überhaupt zur Diskussion gestellt wird? – Oder sollen nur jene Opfer entschädigt werden, die von New Yorker Anwälten wie Ed Fagan vertreten werden?

Ist nicht allmählich auch für die deutschen Opfer der Gewalt das Ende der Bescheidenheit angesagt?

Die Forderungen der Vertriebenen, die sich der Ministerpräsident von Bayern und die prominente CDU-Politikerin Erika Steinbach zu eigen gemacht haben, lauten: Anerkennung ihres Rechts auf Heimat, einschließlich des Anspruchs auf Entschädigung für die erlittenen Enteignungen. Und – das ist der neueste, praktische Schritt der Sudetendeutschen Landsmannschaft in diesen Tagen des Mai, die Entschädigung der deutschen Zwangsarbeiter aus dem Zukunftsfonds, einem Gemeinschaftsfonds der deutschen und tschechischen Regierung. Die Landsmannschaft hat 2000 Härtefälle ermittelt, die mit je 4000 Mark entschädigt werden sollen, eine symbolische Geste, nicht mehr, das fordern auch Frau Steinbach und der bayerische Ministerpräsident Stoiber.

Selbst die tschechische Zeitung "Mlada fronta" unterstützt die Forderung der Landsmannschaft, den deutschen Opfern tschechischer Gewalt eine symbolische Entschädigung zukommen zu lassen, aber die Linken und die Grünen befürchten eine schwere Verärgerung der Tschechen, und die Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne) behauptet (frech), Ziel des Antrages sei das "Hervorrufen schwerer außenpolitischer Verstimmung zwischen Berlin und Prag". ("FAZ" 20. Mai 2000).

Vielleicht hätten die deutschen Heimatvertriebenen 1950 und in den vielen Jahren danach sich nicht immer nur entschuldigen sollen. Sondern auch um Entschuldigung der anderen Seite bitten. Die andere Seite, das waren damals Kommunisten, Anhänger eines Terrorregimes, Stalinisten. Warum sollten sich die heute in der Tschechei und Polen herrschenden Demokraten nicht entschuldigen für die Verbrechen bei der Vertreibung? Für die 2,2 Millionen Toten. Wäre das nur eine symbolische Geste ohne Bedeutung? Warum denn war der Kniefall Willy Brandts vor den Opfern deutscher Gewalt von solcher herausragenden Bedeutung? Wäre nicht nach diesem vielbewunderten Kniefall auch ein kleiner, verschämter Knicks vor den Millionen ermordeter deutscher Zivilisten angebracht? "Wer eine friedliche und auch freundschaftliche Nachbarschaft will, muß die Wunden säubern", sagt Frau Steinbach und fordert die Bundesregierung auf, darüber zu verhandeln.

Ein sehr realistischer Gedanke, mit großer Aussicht auf Erfolg, wenn die gewichtige Stimme Deutschlands in der Europäischen Union in die Waagschale geworfen wird. Denn der Wunsch der osteuropäischen Staaten, Mitglied im gelobten Euroland zu werden, ist außerordentlich, ihr Interesse daran, eines Tages am westeuropäischen Wirtschaftswunder und seiner neuen Währung (an die sie womöglich übertriebene Hoffnungen knüpfen!) teilzunehmen, schier unermeßlich. Ungarn hat auch bereits bescheidene Entschädigungsleistungen für die vertriebenen Ungarndeutschen beschlossen und damit ein Signal gesetzt, übrigens auch Rumänien und vor allem die baltischen Staaten Lettland und Estland, die sogar die Ansiedlung der ehemals deutschen Bewohner nicht nur erlauben, sondern auch fördern. Polen und die Tschechei aber mauern. Frau Steinbach: "Die Osterweiterung der EU ist eine nicht wiederkehrende Möglichkeit, Vertreibungsunrecht zu heilen."

Doch bei manchen bundesdeutschen Politikern heißt es frisch-fröhlich und darwinistisch, das Problem löse sich bald von selber. Die Alten sterben ja weg. Ihre Kinder und Erben sollten, dank 68er Schulreformern, von Ostpreußen und Schlesien eigentlich gar nichts mehr wissen, und auch vom Sudetenland nichts. Ewiggestrige, Opas, die langsam aussterben, werden die Vertriebenen gern von ihren politischen Gegnern genannt. Doch das biologische Argument schlägt längst zurück. Alle werden alt. Eigentlich machen die sudetendeutschen Opas und Omas und die Oldies aus Ostpreußen vom Jahrgang 1928/29 im Fernsehen immer einen ganz passablen Eindruck – im Vergleich zu den medizinisch stark vorgealterten 68ern, meist mit Stirnglatze und wenigen strähnig-grauen Haarresten, die hinten einen Zopf andeuten sollen. Trau keinem über dreißig! Erst mit dem Molotow-Cocktail in der Hand und dann mit dem Cocktailglas in der Regierung. Noch kürzlich zeigte sich Ministerpräsident Schröder im Gespräch mit seinem tschechischen Ministerpräsidenten Zeman betont gelassen, wenn nicht unempfindlich gegenüber den Forderungen der Sudetendeutschen. Alles halb so wild, beruhigte er seine Gesprächspartner.

Doch niemand ist wild. Ihr sollt nicht gut sein, sondern nur vernünftig, liebe Rot-Grüne!

Vertreibungsverbrechen und ethnische Säuberung eines ganzen Landes durch die Soldaten und Söldner des serbischen Diktators Milosevic‘ haben in unserem Land Erkenntnisse und Einsichten gefördert, für die früher dreißig Jahre benötigt wurden.

Vielleicht sehen unsere rot-grünen Regierenden, die in wenigen Tagen gelernt haben, was sie seit 1968 verdrängen wollten, nun, nachdem sie so unendlich viel Leid der Opfer einer ethnischen Säuberung mitangesehen haben, am Ende auch das Schicksal von 13 Millionen vertriebenen Deutschen mit anderen Augen: Greise, Frauen und Kinder, die nach 1945 Opfer einer ethnischen Säuberung, also Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes wurden. Vielleicht sollten diese Opfer auch durch ein Mahnmal geehrt werden, wie das Holocaust-Denkmal.

Da die Auslober des großen Berliner Denkmals alle nichtjüdischen Opfer des Nationalsozialismus von ihrem Mahnmal ausschlossen, fordern die anderen Opfer jetzt eigene Mahnmale.

Wenn möglich ebenfalls riesengroß und in der Nähe des Reichstages. Neben dem Mahnmal für Sinti und Roma (6000 Quadratmeter im Tiergarten) hätten auch die Opfergruppen wie die Homosexuellen oder die Wehrmachtsdeserteure Anspruch auf eine eigene Gedenkstätte, sagte der rechtspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Volker Beck. Bald will er ein Stiftungskonzept vorlegen. Sogar für den anarchistischen Reichstags-Brandstifter van der Lubbe soll ein Denkmal gebaut werden – am Reichstag! Weitere Mahnmale sind denkbar. Der Phantasie – und der großflächigen Bebauung sind keine Grenzen gesetzt.

Wo aber soll das Denkmal für die 2,2 Millionen, durch die Vertreibung ermordeten Ostpreußen, Danziger, Pommern, Schlesier und Sudetendeutschen stehen, Frauen, Kinder und Greise, unschuldig auch sie?

Werden deutsche Opfer beim Bundestag die Errichtung eines Mahnmals für die ermordeten Vertriebenen beantragen? Die Gruppe um Lea Rosh wird es nicht tun. In einer Fernsehdiskussion des Bayerischen Rundfunks stellte ich Frau Rosh die Frage: "Würden Sie auch ein Mahnmal für die mehr als zwei Millionen toten Vertriebenen unterstützen?" Die Antwort kam kurz und wie aus der Pistole geschossen: Nein.

Glücklicherweise gibt es auch andere Stellungnahmen. Unter dem Eindruck, der massenhaften ethnischen Vertreibung der Kosovo-Albaner ist auch bei den Linken das Verständnis für das millionenfache Unrecht gewachsen, das die deutschen Vertriebenen erlitten haben. So erklärte Innenminister Otto Schily sich kürzlich bereit, den Plan Erika Steinbachs zu unterstützen, in Berlin ein "Haus der Vertreibung" zu errichten.

Nehmen wir ihn beim Wort. Ein Mahnmal für 2,2 Millionen ermordeter deutscher Flüchtlinge. Nicht noch eine gigantomanische Bebauung auf dem Reichstagsgelände. Keine Aufrechnung von Millionen Toten gegen andere Millionen. Eine würdige Stätte der Erinnerung, des Gedenkens – und der Forschung – als die bessere Alternative zu den zementenen und stählernen Monstern, Mahnmalen und Brandmalen.

Am Eingang des Hauses der Vertreibung: die Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950.