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30.09.00 Gemeinschaft durch Unterwerfung?

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 30. September 2000


Ökumene:
Gemeinschaft durch Unterwerfung?
Die "Dominus Jesus"-Erklärung des katholischen Kardinals Joseph Ratzinger
von WALTER BODENSTEIN

Eine am 3. September 2000 veröffentlichte Erklärung der katholischen Kirche, wie sie von der vatikanischen Glaubenskongregation durch Kardinal Joseph Ratzinger unter der Überschrift "Dominus Jesus" (Der Herr Jesus") formuliert worden ist, hat für erhebliches Aufsehen, besonders auf evangelischer Seite, gesorgt. Durch die schroffe Behauptung allein der katholischen als der einzigen von Jesus gestifteten Kirche sind alle anderen kirchlichen Gemeinschaften abgewertet worden. Die ökumenische Zusammenarbeit der letzten Jahrzehnte schien damit in Frage gestellt zu sein. Mit der Formel "versöhnte Verschiedenheit" schien ein erstes wesentliches Ziel erreicht. Aber jetzt tritt die Verschiedenheit ganz unversöhnt hervor.

Die durchaus bekannte Grundthese der vatikanischen Erklärung lautet: "Christus hat die Kirche gegründet, und das kann eben nur eine sein."Dehalb muß "…. die Einzigartigkeit der von ihm gestifteten Kirche als Wahrheit des katholischen Glaubens fest geglaubt werden; d. h. daß die Kirche weiterbesteht, und auf der anderen Seite, daß außerhalb ihres sichtbaren Gefüges Elemente der Heiligkeit und der Wahrheit zu finden sind, nämlich in den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen."(IV, 16)

Da die katholische Kirche das Vorhandensein anderer Kirchen nicht bestreiten kann, ist sie bereit, neben ihrem Alleinvertretungsanspruch dort zumindest "Elemente der Heiligkeit und der Wahrheit" anzuerkennen. Da sie infolge der geschichtlichen Entwicklung älter ist als diese, vergißt sie auch nicht zu betonen, daß diese ihren religiösen Besitz von der älteren Schwester übernommen haben. Daher sind sie im Grunde eigentlich überflüssig, denn die von ihnen vermittelten Heilsgüter sind nur unvollständig in ihnen vorhanden, während die katholische Kirche sie in ihrer urspünglichen Fülle besitzt.

"(Diese) kirchlichen Gemeinschaften hingegen sind nicht Kirchen im ursprünglichen Sinne. In Wirklichkeit existieren die Elemente dieser bereits gegebenen Kirchen in ihrer ganzen Fülle in der katholischen Kirche und noch nicht in dieser Fülle in den anderen Gemeinschaften." (IV, 17)

Das sind auf jeden Fall klare Worte; diese Urteile sind jedoch nicht neu. Sie sind im Gegenteil immer wieder von der katholischen Kirche vertreten worden; nur hat die evangelische Kirche sie ignoriert, weil sie jede ernsthafte Verständigung zwischen den Konfessionen unmöglich macht. Inzwischen ist der Widerspruch auch von katholischer Seite gekommen. Bischof Kaspar hat am 15. September scharfe Kritik an der vatikanischen Verlautbarung geübt, weil sie die bisherige ökumenische Zusammenarbeit der katholischen Kirche völlig ignoriere. Auf den ersten Blick scheint das auf zwei Lager im deutschen Katholizismus hinzudeuten. Allein bei näherer Prüfung ergibt sich, daß durchaus beide Seiten dort ihren Platz haben. Denn kurz vorher hat die Seligsprechung von zwei Päpsten stattgefunden, in der nicht nur Pius IX. als Papst des I. Vatikanischen Konzils 1869/70 mit der berüchtigten Unfehlbarkeitserklärung geehrt wurde, sondern auch Johannes XXIII., der im II. Vatikanischen Konzil 1963 bis 1965 die Verständigung mit den anderen Kirchen erstrebte. Es gehört zu der außerordentlich geschickten Propaganda des Vatikans, stets beide Tendenzen zu pflegen. Wobei für jeden Kenner diese Strategie deutlich ist, welches die eigentlichen Ziele der päpstlichen Politik sind.

Aus vatikanischer Perspektive schien es angebracht, jetzt angesichts der allgemeinen ökumenischen Euphorie die eigentliche Beurteilung der gegenwärtigen Situation noch einmal klar und unmißverständlich auszusprechen. Daß das auch auf katholischer Seite vorhandene ökumenische Interesse dabei entsprechend kritisch reagieren würde, war miteinkalkuliert. Die Gedanken in Ratzingers Erklärung sind nicht neu. Sie gehören zum eisernen, unaufgebbaren Grundbestand der katholischen Kirche, werden aber nicht immer in dieser Schärfe formuliert und vertreten. Eine Gemeinschaft mit ihr gibt es nur durch Unterwerfung. Dabei kommt es im wesentlichen auf die Anerkennung des römischen Primats an, wobei die dazu bereite Kirche alle Selbständigkeit in Lehre, Gottesdienst und Verfassung behalten kann.

Der Schwachpunkt der katholischen Argumentation ist die Mißachtung der historischen Forschung, denn die Geschichte widerlegt diese Sicht der Dinge vollständig. Das ist bereits während des I. Vatikanischen Konzils ausgerechnet durch einen katholischen Theologen, Ignaz von Döllinger, in seinem während des I. Vatikanischen Konzils 1869/70 unter dem Pseudonym "Janus" veröffentlichten Werk in aller Ausführlichkeit ausgesprochen, später nach seinem Tod als Papstgeschichte "Das Papsttum" 1881 erschienen. Döllinger beschreibt die Entwicklung des päpstlichen Primats mit äußerst fragwürdigen Praktiken und Fälschungen mit dem Ziel der Unfehlbarkeit, ohne auf die Begründung in Matth. 16, 17–19 einzugehen. Hier indessen liegt das eigentliche historische Problem: Hat Jesus die Kirche gestiftet und den Apostel Petrus mit ihrer Leitung beauftragt, wie die angeführte Stelle berichtet? Die protestantische neutestamentliche Forschung hat das, wenn auch nicht ganz einhellig, entschieden verneint. Jesus hat keine Kirche gestiftet, sondern das Reich Gottes verkündet. Das griechische Wort ecclesia erscheint sonst nur noch Matthäus 18, 17 und bedeutet ursprünglich im Profangriechisch die ordnungsmäßig berufene Versammlung einer politischen Gemeinde, der Polis, und ist im Urchristentum auf die Organisation der durch die Mission entstandenen christlichen Gemeinden übertragen worden und auf diese Weise in den kirchlichen Sprachgebrauch übernommen. Das Wort erscheint noch einmal bei Matthäus 18, 17 und bezeichnet die später entstandene christliche Gemeindeordnung.

Nun fehlt diese für die katholische Kirche so wichtige Stelle Matthäus 16, 17–19 ausgerechnet im älteren Markus-Evangelium, das nach urchristlicher Tradition noch dazu auf Petrus zurückgeht. Es enthält zudem einen so unerhörten Kontrast, daß es in diesem Zusammenhang so unmöglich von Jesus gesprochen sein kann: Petrus der tragende Fels der Kirche und gleichzeitig "Satan", das ist nicht gut vorstellbar.

Die gleiche Szene wird auch in den anderen zwei Evangelien erzählt, allerdings ohne Jesu Wort an Petrus. Es handelt sich um die Enthüllung des Messiasgeheimnisses. Jesus bejaht zwar das Bekenntnis des Petrus, daß er der Messias sei, gibt ihm allerdings einen aller Erwartung widersprechenden Sinn, indem er seine Verwerfung und seinen Tod durch die Hohenpriester und Schriftgelehrten voraussagt. Wenn ihm Petrus hierin kräftig widerspricht, dann zeigt das deutlich, daß er nicht in der Lage ist, die Verwerfung Jesu zu akzeptieren, weil sie dem überlieferten Messiasbild total widerspricht.

Was der Evangelist Matthäus daraufhin berichtet, verdient höchstes Interesse, denn es zeigt, daß Jesus ein leidenschaftlicher Mensch war. In der Tat ist das Bild eines leidenden Messias für jüdisches Empfinden unerträglich. Daher ist der lebhafte Protest des Jüngers durchaus verständlich. Dementsprechend flohen später alle Jünger bei der Gefangennahme Jesu in Jerusalem nach Galiläa, nachdem Petrus ihn noch dazu verleugnet hatte. Es wiederholt sich in der konkreten Wirklichkeit, was Jesus vorausgesagt hatte. Daß Jesus ein leidenschaftlicher Mensch war, zeigt seine Bezeichnung des Petrus als "Satan", was an Schärfe wohl nicht zu überbieten ist. Jesus hatte es nun einmal gesagt, und es konnte nicht mehr beseitigt werden. Möglich wäre es, daß die spätere Kirche mit den Versen Matthäus 18, 17–19 einen Nachtrag zu dem unerträglich harten Wort Jesu bildete, der sozusagen eine Art Ausgleich darstellen sollte.

Die Verwendung des Wortes ecclesia durch Jesus ist auch deshalb unwahrscheinlich, weil er eschatologisch denkt, d. h., daß er mit seiner unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft rechnet, wie er selbst das mit unmißverständlicher Deutlichkeit ausgesprochen hat: "Wahrlich, ich sage euch. Es stehen hier, die werden den Tod nicht schmecken, als daß die sehen des Menschen Sohn mit Kraft kommen". (Mark. 9, 1)

Dasselbe hat er bei seinem Verhör vor dem Hohenrat ausgesprochen: "Von nun an wird’s geschehen, daß ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels." (Matth. 26, 64)

Jesus hat also nicht mit dem historischen Prozeß einer Kirchenbildung gerechnet. Das Ausbleiben der Parusie (der unmittelbaren und endzeitlichen Wiederkunft Jesu) hat dem christlichen Glauben später erhebliche Schwierigkeiten bereitet (II. Petr. 3, 8 f.)

Und schließlich ist auch das Wort von Petrus als dem Grundstein nicht ohne Widerspruch geblieben. Paulus hat (1. Kor 3, 1) als ausschließlichen Grund für den christlichen Glauben allein Christus genannt: "Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus." Fast klingt es wie eine leise Polemik gegen Matth. 16, 18, was hier mit großem Nachdruck ausgesprochen wird.

Damit nicht genug spricht Paulus (Gal. 2, 11) von einem offenen Gegensatz zu Petrus, der zur Christengemeinde nach Antiochien kommt und dort auf Weisung aus Jerusalem die zunächst geübte Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen verläßt, um zu den strengen jüdischen Speisevorschriften zurückzukehren, was Paulus offen als Heuchelei bezeichnet. Die Stelle zeigt, daß der Felsenapostel der Hilfe des apostolischen "Kollegen" bedurfte und von Unfehlbarkeit weit entfernt war, dafür den schweren Vorwurf der Heuchelei entgegennehmen muß.

Zum Schluß scheint ein Wort über das Verhältnis von Reich Gottes und Kirche notwendig. Die vatikanische Erklärung betont die Einheit mit großem Nachdruck: "Sie (die Kirche) ist darum Zeichen und Werkzeug für das Reich, sie ist berufen, es zu verkünden und zu begründen …" "In Wirklichkeit kann das Reich Gottes, wie wir es von der Offenbarung her kennen, weder von Christus noch von der Kirche losgelöst werden …" "In der Erörterung der Beziehungen zwischen Reich Gottes, Reich Christi und Kirche ist es indes notwendig, einseitige Akzentuierungen zu vermeiden. (V 18, 19)

Ratzinger weiß um die Schwierigkeiten dieser Behauptung, die der Geschichte nicht gerecht wird, denn diese hat bereits einseitig akzentuiert. Was er mit aller Rhetorik zu überwinden sich bemüht, ist der unüberwindliche Gegensatz zwischen zwei widersprüchlichen Auffassungen des Christentums. Es ist der Gegensatz von Institution und Gesinnung, der in beiden Begriffen zum Ausdruck kommt. Was Jesus fordert, ist eine Erneuerung der Gesinnung, wie sie in der Bergpredigt (Matth. 5–7) und in den Gleichnissen sichtbar wird. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Luk. 10, 30–37) zeigt Jesus das totale Versagen der religiösen Institution, die doch mit Eifer das Gesetz lehrt: Priester und Levit gehen vorüber, und erst der im heidnischen Samaria ohne Tempel und Lehre lebende Mann leistet Hilfe. Um auch den letzten Zweifel auszuräumen, erklärt Jesus (Luk. 17, 20) "Das Reich Gottes ist inwendig in euch." Man kann Ratzingers Eifer verstehen, aber er ändert nichts an der historischen Wirklichkeit, die der französische katholische Theologe A. Loisy (1857–1940) auf die pointierte, aber treffende Formel "Jesus hat das Reich Gottes verkündet; gekommen ist die Kirche" gebracht hat. Kein Wunder, daß er 1908 exkommuniziert worden ist.

Gleichwohl müßte es doch eine letzte Gemeinsamkeit zwischen den Konfessionen geben. Und sie ist in der Tat vorhanden, jenseits aller Formulierungskünste vatikanischer Behörden. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem katholischen Priester über Kirchenmusik, in dem er erklärte: "Streng genommen beginnt die Musikgeschichte bei mir erst bei J. S. Bach, und, offen gestanden, hört sie eigentlich mit ihm auf." – "Bach ist Lutheraner" entgegnete ich. – "Na, und?" erwiderte er lachend. In der Tat, wenn Bach aufspielt, kommen alle: Lutheraner, Katholiken und Atheisten. Nietzsche hörte die Matthäus-Passion mehrmals hintereinander. Und schließlich hat Bach in der h-Moll-Messe den offiziellen lateinischen Text des Miassale Romanum verwendet. In dem Sanctus dieser Messe hört man die Stimmen der himmlischen Seraphen sich selber gegenseitig "Sanctus, sanctus, sanctus" zurufen (Jesaja 6, 3). Und dagegen könnte selbst die vatikanische Eminenz des Kardinals Ratzinger nichts einzuwenden haben.