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07.10.00 Das historische Kalenderblatt: 10. Oktober 1962

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 07. Oktober 2000


Das historische Kalenderblatt: 10. Oktober 1962
Angriff auf die Pressefreiheit
Die "Spiegel-Affäre" ließ sogar die Regierungskoalition zerbrechen
Von Philipp Hötensleben

Die Titelgeschichte "Bedingt abwehrbereit" des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" sorgt am 10. Oktober 1962 für Aufsehen. Der Artikel über das Nato-Herbstmanöver enthält nach Ansicht des Bundesverteidigungsministeriums streng geheime Informationen. Den Redakteuren wird Landesverrat und aktive Bestechung von Bundeswehroffizieren vorgeworfen. Mit der rechtswidrigen Verhaftung leitender "Spiegel"-Redakteure und des Herausgebers Rudolf Augstein weitet sich die Affäre aus und führt schließlich zum Rücktritt von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß und zum Bruch der Regierungskoalition.

In seiner Ausgabe vom 10. Oktober 1962 befaßt sich das Nachrichtenmagazin mit dem Nato-Großmanöver "Fallex 62" und kritisiert unter der Überschrift "Bedingt abwehrbereit" die Verteidigungspolitik der Bundesregierung. Der Artikel enthält brisante militärische Informationen. Daraufhin wittert das Bundesverteidigungsministerium Landesverrat und erstattet Strafanzeige. Nachdem weitere Anzeigen von privater Seite eingehen, wird ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Das Bundesverteidigungsministerium legt in einem Gutachten dar, daß das Nachrichtenmagazin wichtige Geheimnisse öffentlich gemacht habe. Am 23. Oktober werden zwar Haftbefehle gegen mehrere "Spiegel"-Mitarbeiter erlassen, jedoch zunächst nicht vollstreckt. Auf Anordnung des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof werden in der Nacht zum 27. Oktober dann die Redaktionsräume des "Spiegel" im Hamburger Pressehaus von mehr als 50 Polizisten durchsucht. Rudolf Augstein, die Chefredakteure Claus Jacobi und Johannes K. Engel sowie mehrere Redakteure werden verhaftet. Die Bundesanwaltschaft wirft ihnen publizistischen Landesverrat, landesverräterische Betätigung und aktive Bestechung vor. Die Redaktion wird wochenlang polizeilich besetzt gehalten, um belastendes Material aufzuspüren. Der stellvertretende Chefredakteur Conrad Ahlers, der als Militärexperte der Redaktion für diesen Bericht verantwortlich zeichnet, befindet sich auf einer Urlaubsreise in Spanien. Die Umstände seiner Verhaftung sind zunächst undurchsichtig. Später ergeben die Ermittlungen, daß seine Festnahme auf eine Anweisung von Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß an den deutschen Militärattaché in Madrid, Oberst Achim Oster, in der Nacht vom 26. auf den 27. Oktober zurückgeht. Dieser führt noch in der Nacht ein Telefongespräch mit dem Leiter des deutschen Interpol-Büros in Wiesbaden, das Ahlers’ umgehende Verhaftung veranlaßt. Das Telegramm mit dem Haftbefehl wird allerdings erst am 27. Oktober um 12.00 Uhr vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden aufgegeben. Zum Zeitpunkt des Eintreffens des Telegramms ist Ahlers jedoch bereits mehrere Stunden in Haft. Am folgenden Tag wird er nach Frankfurt geflogen und der deutschen Polizei übergeben. Hier ist also eine vorläufige Festnahme erfolgt, ein Tatbestand, der wegen eines politischen Delikts unzulässig ist. Die Polizeiaktionen in Deutschland und Spanien lösen in der Öffentlichkeit Empörung aus und führen zu erheblichen Zweifeln daran, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel und das Prinzip ihrer Rechtsstaatlichkeit gewahrt wurden. Ganz offensichtlich hat die Regierung die Staatsräson, wie sie sie versteht, über den Schutz der verfassungsmäßigen Rechte gestellt.

Dies führt zu einer Vertrauenskrise gegenüber der Bundesregierung. Doch Bundeskanzler Konrad Adenauer verharmlost die rechtswidrige Verhaftung von Conrad Ahlers und bezichtigt ihn, ohne daß ein gerichtliches Urteil gesprochen wäre, des Landesverrats.

Bundesverteidigungsminister Strauß leugnet gar zwei Wochen lang seine Beteiligung an der Angelegenheit und belügt wiederholt das Parlament. Diese Vorgänge bleiben nicht ohne politische Konsequenzen. Zunächst beantragt die FDP eine mehrtägige Bundestagsdebatte, die sehr emotional geführt wird. Dabei wird die Verhaftung von Conrad Ahlers zu einem Politikum ersten Ranges. Im Mittelpunkt der Debatte steht die Rolle von Franz Josef Strauß in dieser Angelegenheit. Die Opposition wirft ihm unzulässige Eingriffe in die spanische und deutsche Polizeihoheit vor. Da sie hierfür jedoch keine Beweise vorbringen kann, bleibt er strafrechtlich ungeschoren. Ein Antrag der SPD auf Entlassung von Strauß aus seinem Amt wird von der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag einstimmig abgelehnt. Damit will sich der Bundesvorsitzende der FDP, Erich Mende, jedoch nicht abfinden. Er spricht sich für den Rücktritt der FDP-Minister aus, um nach einer Regierungsumbildung ein neues Kabinett präsentieren zu können, das unbelastet von diesen Vorgängen seine Aufgaben wahrnehmen kann. Am 19. November treten die FDP-Minister zurück, denen am folgenden Tag die Minister der Union folgen. Die FDP erklärt sich zu Koalitionsgesprächen mit dem bisherigen Partner unter der Voraussetzung bereit, daß Franz Josef Strauß dem Kabinett nicht wieder angehört. Daraufhin räumt Strauß eigenes Fehlverhalten ein und verzichtet auf sein Amt. Außerdem verlieren zwei beteiligte Staatssekretäre aus dem Verteidigungs- und dem Justizministerium ihre Posten.

Gleichzeitig führt Adenauer erstmals Gespräche mit der SPD über die Bildung einer Großen Koalition. Tatsächlich erzielen die Verhandlungspartner in vielen Punkten eine Annäherung. Da die CDU jedoch weder über die Frage eines neuen Kanzlers noch über die Begrenzung von Adenauers Amtszeit verhandeln will, scheitern die Gespräche schließlich. Nachdem der Bundeskanzler am 7. Dezember dennoch seinen Entschluß bekanntgibt, im Herbst 1963 zurückzutreten, werden die Verhandlungen zwischen CDU/CSU und FDP schnell zu einem erfolgreichen Abschluß gebracht.

Am 14. Dezember wird das fünfte Kabinett unter Bundeskanzler Adenauer vereidigt. Drei Jahre später lehnt der Bundesgerichtshof die Eröffnung eines Hauptverfahrens gegen Augstein und seine Mitarbeiter ab, weil der Inhalt des Artikels nicht der Geheimhaltung unterlegen habe. Die Verfassungsbeschwerde des "Spiegel" scheitert 1966 beim Bundesverfassungsgericht, weil nur die Hälfte der Verfassungsrichter einen Verstoß gegen die Pressefreiheit feststellen kann. Die große innenpolitische Krise, die durch das rechtswidrige Verhalten von Regierungsorganen ausgelöst wurde, ist jedoch lange nicht vergessen.