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14.10.00 Basar der Legenden

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 14. Oktober 2000


Rückschau auf den 3. Oktober:
Basar der Legenden
Wenn die Teilung angedauert hätte, wären Einheitsbefürworter heute "Rechtsradikale"

Von HANS HECKEL

Sie, die Österreicher, erkannten ihre menschliche Pflicht umgehend und handelten. Jetzt wollte ein Kanzler Schröder sie nicht sehen, der bis zuletzt für Abschaffung der Erfassungsstelle Salzgitter eingetreten war. Jener von den Ländern getragenen Institution, die entscheidend dazu beitrug, das schwere Los politischer Gefangener in der DDR zu erleichtern, indem es ihre Fälle dokumentierte und bekanntmachte. Es ist in unzähligen Berichten von Betroffenen belegt, daß sich ihre Haftbedingungen schlagartig besserten, sobald bei den DDR-Behörden ruchbar wurde, daß "Salzgitter" Bescheid wußte.

Gerhard Schröder wollte nicht nur die Einheit nicht, er wollte auch die Instrumente praktischer Humanität zerstören.

Das sind die Geschichten, die heute nicht mehr erzählt werden sollen. Politiker, aus deren Mund unablässig Vokabeln vom "Aufarbeiten der Vergangenheit", von "Verstrickung" und "Schuld" hervorsprudeln, reagieren beim "Aufarbeiten" ihrer historischen Rolle entlarvend gereizt – wie Ertappte eben. Eine Jugend, die politisch gesehen überhaupt noch keine Vergangenheit haben kann, mahnen sie mit der Moralkeule bewaffnet, tagein, tagaus "aus der Geschichte zu lernen" und Scham zu demonstrieren. Auf die eigene Vergangenheit angesprochen vermelden Politiker scharenweise, daß doch schließlich jeder mal Fehler macht, nicht wahr?

Besonders dreist folgt auf derlei Ausflüchte nicht selten die Behauptung, wir hätten doch alle nicht mehr an die Einheit geglaubt. Dies ist schlicht Lüge, indes weiß der Verfasser dieser Zeilen noch allzugut, was Deutsche, die in der 80er Jahren öffentlich an die Einheit "glaubten" und entsprechende Forderungen an die hohe Politik von Bund und Ländern stellten, erleben mußten. Spinner und Träumer waren noch die mildesten Verdikte, die überwiegend aus dem Lager von Union und FDP stammten. Auf der politischen Linken war längst ein Prozeß der Verteufelung von Einheitsbefürwortern in Gang gekommen. Wie hätte sich dieser Trend weiterentwickelt, wenn die Revolution 1989 ausgeblieben wäre, die Teilung noch zehn oder mehr Jahre weiterbestanden hätte? Kein Zweifel: Die Befürwortung der deutschen Einheit hätte eine medial dominierende Linke schon bald als Ausdruck demokratie- und friedensfeindlicher Rechtsradikalität denunziert. Ein Blick auf die derzeitige Kampagne "gegen rechts" (und eben nicht bloß rechtsextrem) nährt überdies die Befürchtung, daß Einheitsbefürworter bald auch von der Union kaum noch Unterstützung hätten erwarten dürfen. Die Absetzbewegungen vom Wiedervereinigungsgebot im Grundgesetz waren in den Reihen der CDU Ende der 80er Jahre bereits unübersehbar. Nicht allein der Name Geißler steht für jenen Irrweg. Altkanzler Kohl hatte recht, als er den Menschen in Mitteldeutschland das Verdienst zuwies, dieser fatalen Entwicklung abrupt ein glückliches Ende gemacht zu haben.

Noch 1987 indes Kohl bügelte den damaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Bernhard Friedmann ab, als dieser neben dem Bemühen um menschliche Erleichterungen auch eine "operative Wiedervereinigungspolitik" einforderte. "Blühender Unsinn" sei das, so Kohl damals. Und weiter: Die deutsche Einheit stehe "nicht auf der Tagesordnung der Weltpolitik", sondern sei bestenfalls "eine Aufgabe für kommende Generationen". So richtig und berechtigt es war, SPD und Grüne auf ihre verheerende Rolle in der Deutschlandpolitik hinzuweisen, so sehr hätte man sich auch über ein wenig Selbstkritik aus dem Munde des Pfälzers gefreut. Solche Worte wären nicht nur der Wahrheit dienlich gewesen, sie hätten auch die hysterischen Vorwürfe von Rot-Grün, Kohl belaste den Tag der Einheit mit kleinlichem Parteiengezänk, glatt entkräftet.

So bleibt erneut eine ehrliche Aufarbeitung der westdeutschen Deutschlandpolitik – von Adenauers Umgang mit den Stalin-Noten, der Brandtschen Ostpolitik und dem Milliardenkredit des Franz Josef Strauß bis hin zu der schmählichen Rolle der Linken oder dem Inhalt der geheimnisvollen "Rosenholz-Akten" über westdeutsche Stasi-Zuarbeiter – bis auf weiteres ein Wunschtraum. Was wir genau kennen, ist in aller Regel nur das oberflächliche Geschehen, und da schneidet Kohl allemal besser ab als seine alten und neuen Widersacher.

Die Zeit um den zehnten Jahrestag der neuen Berliner Republik war angefüllt mit einer Schwemme öffentlicher Diskussionen. Das meiste waren Rechtfertigungen, Selbstglorifizierungen oder der Versuch, die gesamte eigene Politik vor 1989 – nachträglich – zu einem einzigen, gezielten Siegeslauf zur Einheit umzufrisieren. Die Grundthese, unnachahmlich vertreten von Ex-Außenminister Genscher, lautet: Durch Anerkennung, also Stabilisierung des Status quo, erst sei der Weg zu einer friedlichen Vereinigung geebnet worden.

Auch so eine Legende, wie in einer der zahllosen Fernsehdiskussion ausgerechnet der erfahrene Kreml-Berater Valentin Falin durchblicken ließ. Falin beschrieb in einer ZDF-Runde unter Leitung von Guido Knopp seine verzweifelten Versuche, Gorbatschow schon seit 1986 auf die heraufziehende deutsche Einheit aufmerksam zu machen. Seine Grundidee sei damals gewesen: Eine Welt, in der der Frieden unteilbar sei, vertrüge geteilte Nationen. Für eine Welt, in welcher der Frieden in Gefahr gerate, seien geteilte Nationen jedoch eine Bedrohung. Und eine Gefahr für den Frieden habe er seit Beginn der 80er Jahre dämmern gesehen, so Falin, weshalb er die deutsche Frage anders als in den relativ stabilen 70er Jahren für sehr dringlich ansah. Keine Frage: Diese Feststellung steht der Genscherschen Beteuerung, die Stabilisierung des Status quo der Teilung habe nur ihrer Überwindung gedient, diametral entgegen.

Der Russe Falin gab so den Kritikern der "Entspannungspolitik" nachträglich recht, die nie glauben wollten, daß die Stabilisierung der Teilung in Wahrheit einen gewieften Plan zu ihrer Überwindung verdecken sollte, sondern daß die "Anerkennung der Realitäten" durchaus das bezweckte, was sie auf den ersten Blick aussagte: die Verewigung der Teilung.

Egon Bahr, einer der hellsten Köpfe am Hofe Willy Brandts, äußerte im Sommer des Jahres 1990 im Fernsehen, man sei all die Jahre von einem Wettlauf zwischen europäischer Integration und deutscher Einheit ausgegangen, den die deutsche Einheit wohl verlieren würde. Oder sollte?

Noch im Herbst 1989 hagelte es Aufrufe, die DDR ja nicht zu "destabilisieren", kurz darauf hieß es, man dürfe die "Einheit nicht überstürzen". Waren dies womöglich gar die letzten Versuche, der europäischen Integration noch einmal Zeit zu verschaffen, den rasanten deutschen Einigungsprozeß in letzter Minute zu überholen? Damit in einer "Politischen Union" Europas, die nach damaligem Wunsch gleichzeitig mit der Währungsunion kommen sollte (und dann doch nicht kam), Bundesrepublik und DDR nicht enger miteinander verbunden wären als mit Portugal oder Italien? Solche Fragen zu stellen ist legitim. Sie sagen nicht nur einiges über die damalige Lage aus, sondern auch über die innere Verfaßtheit bundesdeutscher Politik insgesamt – bis in unsere Tage. Daß sie von den Verantwortlichen derart hoch emotional zurückgewiesen werden, reizt erst recht zum Nachdenken.

Einer weiteren Legende half Ex-Außenminister Genscher selbst zum Sturz: Die endgültige Abtrennung der Ostgebiete sei "der Preis der Einheit" gewesen, hatte Helmut Kohl den Überlebenden der Vertreibung gegenüber beteuert. Genscher hingegen betonte, daß jene Abtretung absolut freiwillig, ohne jeden Zwang erfolgt sei. Eine Darstellung, welcher der "Kanzler der Einheit" diesmal nicht widersprach.