29.03.2024

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04.11.00 Mitteleuropäisches Mosaik

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 04. November 2000


Deutschland und seine östlichen Nachbarn:
Mitteleuropäisches Mosaik
Vertriebene sind die Vorhut eines neuen Geschichtsbewußtseins / Von Martin Schmidt

Ein altes Sprichwort lautet: "Die letzten werden die ersten sein!" Bis heute erfreut sich diese Redensart großer Beliebtheit. Daß sie auch auf die aktuelle Situation der deutschen Vertriebenen und all jener passen könnte, die sich eine bewußt gesamtdeutsche und mitteleuropäische Politik der "Berliner Republik" wünschen, soll im folgenden verdeutlicht werden.

Nicht wenige Flüchtlinge bzw. Aussiedler aus Ostpreußen, Schlesien, Pommern, dem Sudetenland, dem Banat, der Batschka, aus Syrmien oder Siebenbürgen empfinden ihre persönliche Existenz und die Lage ihrer zersprengten Volksgruppe in der Bundesrepublik Deutschland als eine Art Nachlaßverwaltung. Man gehört, so der weit verbreitete Glaube, einer aussterbenden Spielart deutscher Kultur an, die nur noch für die Erlebnisgeneration selbst und für Historiker von Bedeutung ist.

Sogar den eigenen Kindern konnte im Regelfall keine engere Beziehung zur Heimat der Vorfahren vermittelt werden. Meist wurde dies nicht mal versucht: Der alltägliche Überlebenskampf der Nachkriegszeit und die gewollte Anpassung an die alteingesessenen Deutschen hatten die Vertriebenen im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos gemacht. Später waren alle Energien ins neue "Wirtschaftswunder" investiert worden.

Wie hoch der Preis ist, der dafür auf der immateriellen Ebene gezahlt wurde, wird vielen Betroffenen erst jetzt bewußt, da sie am Ende ihres Lebens Bilanz ziehen. Für die Zukunft der alten Heimat und die dortige Präsenz deutscher Kultur fällt solch ein Fazit fast immer vernichtend aus. Eine Bankrotterklärung sozusagen, die angesichts des Desinteresses bzw. der teils negativen Haltung deutscher Politiker unabänderlich erscheint.

Daß diese Resignation in vielerlei Hinsicht unbegründet ist und sich nicht zuletzt durch die geschichtslose Dauerberieselung in den Massenmedien erklären läßt, zeigt ein Blick auf die seit dem europäischen "Völkerfrühling" von 1989 zu beobachtenden Umbrüche.

In Deutschland selbst fällt die epochale Zäsur des ausklingenden Ideologie- und beginnenden Kulturzeitalters am undeutlichsten ins Auge. In der Presse ist an die Stelle der Terminologie des Kalten Krieges, die alle östlich der Bundesrepublik Deutschland gelegenen Staaten als "Ostblock" deklarierte, lediglich der nicht minder unscharfe Ausdruck "Osteuropa" getreten.

Der Polen-Spezialist Joachim Rogall stellte fest, daß dieser Sprachgebrauch symptomatisch ist für die fortwirkende "geistige Distanz" der im Schatten des Eisernen Vorhangs aufgewachsenen Generationen gegenüber unseren östlichen Nachbarn, die "historisch, geographisch und nach ihrem Selbstverständnis ebenso wie Deutschland zu Mitteleuropa gehören".

Andererseits zeichnet sich ab, daß die sogenannten "68er" den Höhepunkt an Machtentfaltung überschritten haben. Was in der jüngeren Generation nachkommt, ist angesichts des vorherrschenden politischen Desinteresses und des oft erschreckenden Nichtwissens zwar reine Spekulation. Von einer Fortsetzung linksideologischer Denkschemata, die u. a. eine Gleichsetzung der deutschen Flüchtlinge des Zweiten Weltkrieges mit bösen "Revanchisten" und "Nationalisten" beinhalten, kann aber sicherlich nicht die Rede sein.

In kleinen Teilen der Enkel- und Urenkelgeneration ist sogar ein aufkeimendes Interesse an den Erzählungen der Heimatvertriebenen zu spüren, und die neuen Exportmärkte der bundesdeutschen Wirtschaft im Osten bedürfen zwangsläufig einer Horizonterweiterung.

Viel prägnanter läßt sich der Vorzeichenwechsel in den Reformstaaten beobachten. An die Stelle der massiv antideutschen Politik aus kommunistischer Zeit ist vom Baltikum bis nach Rumänien eine deutlich positive Ausrichtung auf Deutschland auszumachen. Dabei spielt selbstverständlich die Wirtschaftskraft der EU-Zentralmacht eine große Rolle, aber auch die Erinnerung an historische Gemeinsamkeiten und die mit neuer Wertschätzung bedachten Einflüsse vertriebener bzw. heimatverbliebener deutscher Bewohner.

Bezeichnend für die Verhältnisse im Baltikum ist die Einladung des estnischen Präsidenten Meri an die Adresse der Deutschbalten, in ihre Heimat zurückzukehren (ähnliches war aus Rumänien zu hören). Meri forderte die Deutschen insgesamt auf, sich von ihrem Selbsthaß zu befreien – zum eigenen Nutzen und dem der Nachbarn. Praktische

Aufbruchssignale gab es zuhauf. An dieser Stelle sei nur die 1989 per Bürgerentscheid beschlossene Wiederaufstellung des Denkmals von Ännchen von Tharau im heute zum litauischen Staatsgebiet gehörenden Memel erwähnt.

In bezug auf Polen gibt es zwar eine verständliche Ernüchterung unter vielen Ostdeutschen über den anhaltenden Stillstand in den brisanten Fragen des Heimatrechts und der Eigentumsrestitution. Aber diese sollte nicht den Blick dafür trüben, daß sich insbesondere in der geistigen Führungsschicht Polens das Deutschlandbild grundlegend verbessert hat.

Kazimierz Woycicki, der Leiter des Düsseldorfer Poleninstituts, wies am Rande der jüngsten Buchmesse in Frankfurt darauf hin, daß in seinem Land mehr Wissenschaftler über die Vertreibung der Deutschen forschten, als dies hierzulande der Fall sei. Tatsächlich gehören Seminare zu diesem Themenbereich mittlerweile zum Alltag polnischer Universitäten und finden anders als unter bundesdeutschen Studenten reges Echo.

In Schlesien vergeht kein Monat, in dem nicht irgendein altes Kulturdenkmal fertig restauriert wird oder zweisprachige Gedenktafeln für bedeutende Schlesier oder ostdeutsche Kriegsopfer feierlich der Öffentlichkeit übergeben werden.

Bundesdeutsche Medien ignorieren solcherart symbolische Wiedergutmachung und Wiederaufnahme von Traditionen allerdings ebenso wie die deutschen Familienwurzeln von gleich drei amtierenden ostmitteleuropäischen Staatsoberhäuptern.

Wenigstens am Rande wird über die karpatendeutsche Herkunft des slowakischen Präsidenten Rudolf Schuster berichtet, während praktisch niemand weiß, daß ein Teil der Familie Constantinescus ebenso deutsch ist wie die Eltern des am 4. August ins Amt eingeführten ungarischen Präsidenten Ferenc (Franz) Mádl. Eine deutschfreundliche Einstellung wurde diesen Politikern somit in die Wiege gelegt und hat zweifellos Folgen für die Einstellung gegenüber Berlin und Wien sowie hinsichtlich deutscher Minderheiten vor der eigenen Haustür.

Wie wichtig die letzteren für die Beziehungen ihrer jeweiligen Staaten zu Deutschland sind, läßt sich etwa daran absehen, daß genau in den Hauptsiedlungsgebieten der deutschen Volksgruppe in Südungarn das Deutsche bis heute quer durch alle Ethnien seine Vorrangstellung als Fremsprache gegenüber dem Englischen bewahren konnte.

In Rumänien hat das Schulwesen der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben trotz deren Massenexodus von 1990/91 nicht nur überlebt, sondern wurde wegen des riesigen Interesses rumänischer Eltern sogar ausgebaut. Heute wächst am Hermannstädter Brukenthal-Lyzeum oder am Honterus-Lyzeum in Kronstadt eine oft aus Oberschichtsfamilien stammende rumänische Jugend mit guten Deutschkenntnissen und einem sehr positiven Deutschenbild heran.

Das Bedauern der aus jahrzehntelanger Fehlentwicklung resultierenden Massenausaussiedlung der "eigenen" Deutschen ist inzwischen nicht nur für rumänische Intellektuellenkreise typisch, sondern gibt eine Grundstimmung in den betroffenen Regionen wieder.

Sorin Preda hat diese Reue im August 1999 in der Bukarester Zeitschrift "Formula AS" in folgende Worte gefaßt: "Ein Jahrtausend sächsischer Geschichte geht dramatisch zu Ende; in völliger Indifferenz läßt man das Erlöschen der zivilisatorischen Prägungen zu, denen die siebenbürgischen Rumänen enorm viel zu verdanken haben. Friedliche Weggefährten unserer Geschichte, lassen die Sachsen eine schmerzliche Leere zurück. Ihr Weggehen ist in erster Linie eine rumänische Niederlage."

Selbst in dem neben Tschechien einzigen tendenziell deutschfeindlichen Staat mit (teils) mitteleuropäischer Prägung – nämlich in Jugoslawien – bahnt sich eine Klimaverbesserung an, die in der Wojwodina die Erinnerung an die einst große (und sich in ihren Resten nun wieder formierende) deutsche Bevölkerungsgruppe einschließt.

Bezeichnenderweise avancierte Nenad Stefanovic, seines Zeichens Herausgeber des serbischen Donauschwaben-Buches "Volk an der Donau" (siehe OB 32 und 33/00), zum Pressesprecher des nunmehr an die Macht gelangten Oppositionsführers Zoran Djindjic.

Solche Mosaiksteine des neuen Mitteleuropas lassen sich unzählige finden. In ihrer Gesamtheit zeigen sie vor allem eines: Es wird für die deutsche Politik immer schwerer werden, sich aus weiten Teilen der eigenen Geschichte davonzustehlen und das kulturelle Erbe der vertriebenen Landsleute der Vergessenheit anheimzustellen. Die Berliner Republik muß endlich erkennen, daß die vermeintlich "letzten von gestern" in Wahrheit die "ersten von morgen" sind.