18.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
04.11.00 Es geht ums Überleben

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 04. November 2000


Es geht ums Überleben
Kinderarmut: Ein verdrängtes Problem, das sich rächen wird

Es ist bezeichnend für den Verdrängungsmechanismus in Deutschland in Sachen Familie und Kinder: Einen kurzen Tag gab es hier und da eine Schlagzeile oder Meldung. Dann war das Gespenst der Kinderarmut wieder verschwunden. Dabei redet die Politik immer vollmundig von den Kindern als der Zukunft des Landes. Es sind Lippenbekenntnisse. Denn seit mehr als zehn Jahren, nicht erst seit der jüngsten Studie der Arbeiterwohlfahrt, hat die Familien- und Kinderarmut die Altersarmut abgelöst. Der Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats der Studie zog erneut das Fazit: "Kinder und Jugendliche sind die größte von Armut betroffene Gruppe in Deutschland."

Konkret sieht das so aus: Jedes siebte Kind in Deutschland lebt in einem Haushalt von Sozialhilfeempfängern. Sie haben ein gestörtes Sprach- und Spielverhalten. Sie können nicht mit den anderen auf Klassenfahrt gehen. Sie sind häufiger krank. Sie kommen ohne Frühstück in Schule und Kindergarten. Viele Sechsjährige schafften den Sprung in die Schule nicht. Ist das zukunftsträchtig? Geht man so mit der Zukunft um?

Das Verhalten der Politik ist dumm, wenn auch erklärbar. Grob betrachtet stellen die Familien mit Kindern zwei Drittel der Wohnbevölkerung, aber nur ein Drittel der Wahlbevölkerung. Wer also Maßnahmen zugunsten der Familien beschließt, der muß mit dem Widerstand einer Mehrheit der Wähler rechnen. Da die Wahltermine näher liegen als die Zukunft von Staat und Gesellschaft, haben nur solche Maßnahmen Aussicht auf Erfolg, die anderen nicht wehtun. Zum Beispiel die Wohnungsbauförderung in der Ära Kohl/Waigel. Ansonsten herrschte in dieser langen Zeit familienpolitische Stagnation. Mehr noch, der Altkanzler machte auch seine Witzchen über das persönliche generative Verhalten der Deutschen.

Nicht besser machen es die Rotgrünen. Im Gegenteil. Nicht nur, daß Kohls Nachfolger Schröder auch billige Witzchen über "das Kinderkriegen" zum schlechten gibt. Seine Koalition strebt eine gesellschaftspolitische Wende an. Sie will gleichgeschlechtliche Paare auch finanziell fördern, obwohl diese es nicht nötig haben und diese Lebenspartnerschaften auch keine Leistung für die Gesellschaft erbringen. Die Förderung der Familien wird weiter mit zwanzig oder dreißig Silberlingen betrieben. Mit diesem Almosen brüstet man sich. Aber davon kann man noch nicht einmal eine Packung Windeln kaufen.

Der soziale Wandel hat die Familie mit Kindern zu einer Minderheit gemacht. Von dieser Minderheit aber lebt die Gesellschaft. Hier wird das Humankapital ge- schaffen, das Solidarität erst ermöglicht.

Jahrzehntelang hat die Gesellschaft diese Ressource ausgebeutet, ähnlich wie die Umwelt. Heute kann man sagen: Die Familie stirbt wie der Wald. Denn niemand wird gern freiwillig arm. Und wenn Kinder das Armutsrisiko Nummer eins sind, dann leuchtet ein, daß zwar die meisten jungen Deutschen den Wunsch haben, eine Familie zu gründen und mit Kindern zu leben, aber immer weniger sich diesen Herzenswunsch erfüllen. Das Armutsrisiko ist heute der entscheidende Faktor für das Nein zum Kind.

Die Studie der Arbeiterwohlfahrt zeigt nun einige Lösungswege auf, zum Beispiel die Erhöhung des Kindergeldes auf 600 Mark. Es gibt noch andere Möglichkeiten, die Gerechtigkeitslücke zwischen Familien und Kinderlosen, die sich hinter der Armut der Kinder verbirgt, zu überwinden. Etwa ein Erziehungsgehalt, dessen Kosten und Erträge der Deutsche Arbeitskreis für Familienhilfe e.V. hat ausrechnen lassen. Die Restkosten nach Abzug von klar abschätzbaren Einnahmen sind vergleichsweise minimal. Es ginge, es ist nur eine Frage des politischen Willens. Selbst Feministinnen wie Germaine Greer treten jetzt offen dafür ein. Weil, wie sie sagen, wir so viel Mütter brauchen, wie wir kriegen können. Das sei eine Überlebensfrage.

Ein Ergebnis eines solchen Erziehungslohns zum Beispiel wäre, daß Eltern durch diesen Lohn den Kindern wieder Zeit schenken könnten. Schon der große Pädagoge Pestalozzi faßte seine Erkenntnisse und Erfahrungen in den drei großen Z zusammen: Die Kinder brauchen von den Eltern Zeit, Zuwendung, Zärtlichkeit. Wenn beide Eltern arbeiten müssen, um die Familie irgendwie zu ernähren, dann bleibt kaum ein Z übrig.

Die jüngste Studie, übrigens im Ergebnis deckungsgleich mit den Armutsberichten der Kirchen, Banken, Gewerkschaft, Stiftungen und Hilfswerke, heißt "Gute Kindheit – schlechte Kindheit". Sie könnte auch heißen "Gute Zukunft, schlechte Zukunft". Sie belegt, daß in Deutschland die Kurzatmigkeit der Politik in allen großen Parteien zu Verdrängungsmechanismen geführt hat, die selbst die Zukunft am nächsten Wahltermin enden lassen. Diese Visions- und Gedankenarmut ist das Elend, das hinter dem neuen Bericht ahnungsvoll sichtbar wird und das alle betrifft, nicht nur die Kinder. Jürgen Liminski