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18.11.00 Ein neudeutscher Kulturkampf

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 18. November 2000


Ein neudeutscher Kulturkampf
Über dem Feuer des Begriffs "Leitkultur" kochen alle Parteien ihre Süppchen
Anmerkungen von Jürgen Liminski

Man redet von den Deutschen gern als einem großen Kulturvolk. Mit Recht: Schon ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt, wie viele Dichter und Denker, Musiker, Künstler und Wissenschaftler aus diesem Volk hervorgegangen sind. Aber ist die Kultur der Deutschen eine deutsche Kultur, sozusagen nationales Eigentum? Wer sich die Werke der Dichter und Denker anschaut, wird rasch feststellen, daß sie oft deshalb so genial sind, weil sie über die Grenzen von Raum und Geschichte hinweggehen. Sie sind universal. Beethoven gehört allen, seine Hymne an die Freude nicht einmal nur den Europäern, Kants ewiger Friede, Goethes Faust oder Wernher von Brauns Weltraumforschung auch. Wer es wagte zu sagen, Doktor Faustus sei vor allem ein Deutscher oder Hesse, weil Goethe in Frankfurt lebte, der erntete Spott und Gelächter. Das für alle Menschen Gültige hat kein Vaterland. Dennoch gibt es Lebensweisen, "manieres de vivre" sagen die Franzosen, "lifestyle" die Angelsachsen, die nicht mit allen, allenfalls mit vielen zu machen oder zu leben sind. Zwischen diesen Lebensweisen bewegt sich die Diskussion um die Leitkultur. Nicht nur in der CDU, auch bei den Grünen ist die Debatte darüber voll im Gange. Die Grünen quälen sich sogar damit. Denn seit ihre neue Co-Vorsitzende, Renate Künast, es wagte, das Dogma von der Multikulturalität anzutasten, herrscht Tumulti-Kulti bei den Grünen. Auch das darf nicht verwundern. Nach dem Verzicht auf den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie und dem Wandel der Partei von einer pazifistischen Anti-Nato-Partei zu einer dem Bündnis verpflichteten und nahezu bei jedem Krieg mitlaufenden Partei blieb nur noch dieses eine Identitätsmerkmal der frühen Bewegung übrig, die Multi-Kulti-These.

Damit ist es nun vorbei. Reinhard Bütikofer, Bundesgeschäftsführer der Grünen/Bündnis 90, hat fünf Thesen aufgestellt, die die Mehrheitsmeinung in der Partei wiedergeben. Darin formuliert er: "Die "Würde des Menschen", auf die unsere Verfassung gegründet ist, hat keine Nationalität. Sie ist nicht deutsch, nicht türkisch, sie gilt für alle. Gültiger Maßstab sind die demokratischen Werte, die uns mit allen freiheitlich denkenden Menschen verbinden." Mit "deutschem Wesen" und "deutschen Sonderwegen" hätten Deutschland und die Welt genug schlechte Erfahrungen gemacht. Wer in sprachlicher Anlehnung an solche Unheilworte allem Fremden mit "deutscher Leitkultur" drohe, so Bütikofer selber drohend, "leidet an Gedächtnisschwund. Meine Antwort steht in den Sprüchen Salomos: Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden, und Hochmut kommt vor dem Fall". In seiner dritten These befaßt sich der Bundesgeschäftsführer mit den "Ängsten in Deutschland bezüglich der Probleme Zuwanderung, Asyl, Flüchtlinge" Die gebe es wohl, aber auch bei den Asylanten und Flüchtlingen selbst. Fast täglich lese man, "wie Menschen Ängste haben müssen und gejagt werden, weil sie anders sind. Das abzustellen ist erste Bürgerpflicht!" Der CDU wirft der Grünen-Geschäftsführer vor, Ängste zu schüren. Wer mit dem Spruch "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein" eine Parole rassistischer Skins aufgreife, betreibe "geistige Brandstiftung". Schließlich kommt Bütikofer zu dem Schluß und der eigentlichen These: "Multikulti-Beliebigkeit war falsch. ,Deutsche Leitkultur‘ ist falsch. Warum bleiben wir nicht einfach weltoffene Verfassungspatrioten?"

Es ist natürlich fraglich, ob der Verfassungspatriotismus emotional binden kann. Schon der Vater des Begriffs, Dolf Sternberger, hatte da seine Zweifel. Der Begriff war ein Notbehelf zur Selbstfindung in schwieriger Zeit. Indem die Grünen das Wort "Leitkultur" nur als Kampfbegriff abtun wollen, machen sie es sich zu einfach. Und mit dem emotional-fragenden Appel zum "einig Volk von weltoffenen Verfassungspatrioten" stehen die Grünen außerdem den beiden Großparteien ziemlich nahe. Auch sie geben als heutiges Definitionsmerkmal der deutschen Kultur die Verfassung an. Hinzu kommt noch die Sprache. Nachdem die CDU-Kommission unter Vorsitz des saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller diese beiden Punkte auch als Bedingungen für die Integration, mithin für die Zuwanderung genannt hatte, zog Bundeskanzler Schröder nach. Auch er nannte diese beiden Elemente, warf aber gleichzeitig der Union vor, mit den Begriffen leichtfertig umzugehen und Fremdenhaß zu schüren. Damit schuf er eine Gemeinsamkeit mit den Gewerkschaften, immerhin mischte er sich mit einer Rede auf dem Gewerkschaftskongreß der ÖTV, die gegen seine Rentenpläne Front macht, in die Debatte ein. Die Taktik war durchsichtig. Je lauter und empörter man sich im übrigen als Gutmensch aufführt, umso größer wird die Polarisierung zwischen den Guten und den vermeintlich Bösen, die man rechts von der Mitte verorten will, und umso weniger redet man von der Liebe zum Vaterland, die ja hinter dieser Debatte steht und womit die SPD unter Schröder in der Tat ihre Schwierigkeiten hat. Vaterland und Globalisierung, diese Gleichung muß der Kanzler erst noch ausrechnen. Taktik aber auch in der CDU. Die Parteivorsitzende Angela Merkel wirft der SPD vor, ein gestörtes Verhältnis zum Vaterland zu haben, und zieht als Zeugnis die komplizenhafte Haltung der SPD gegenüber der SED und die Zweifel an der Wiedervereinigung heran, insbesondere bei Gerhard Schröder. Und dennoch: Wenn man diese Wortgefechte einmal beiseite lässt, wird deutlich, in welche Richtung die künftigen Zuwanderungsbestimmungen gehen werden. In der einen oder anderen Form wird man eine Meinung zur Verfassung verlangen, das Einhalten der Landesgesetze einfordern und Sprachkenntnisse fördern oder sogar als Bedingung setzen. Von den christlichen Elementen der Kultur, die man natürlich nicht auf den Katalog der Bedingungen setzen, deren Anerkennung in den Ländern der Zuwanderer man aber durchaus fordern kann – Religionsfreiheit ist in den meisten islamischen Ländern, auch in der Türkei, nicht viel mehr als eine Idee –, ist auch in den meisten CDU-Papieren nicht die Rede. Hier greifen Merkel und Müller ziemlich kurz.

Trotz der inhaltlichen Übereinstimmungen wird das Parteiengezänk freilich weitergehen. Übrigens auch in der rotgrünen Koalition. Der Spruch des Bundesinnenministers Otto Schily: "Das Boot ist voll", wird von den Grünen weiter attackiert werden. Der Vorsitzende der den Grünen nahestehenden Heinrich-Böll-Stiftung, Ralph Fücks, meinte dazu in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, dieser Spruch sei "töricht. Das Gegenteil stimmt: Die Besatzung schrumpft. Wir brauchen wegen der demographischen Defizite Zuwanderung, wenn wir das wirtschaftliche Niveau halten wollen". Die Frage sei allerdings, wie man die Integrationskraft erhöhen könne. Fücks und andere plädieren für mehr Bildung und Weiterbildung, an der auch die Wirtschaft sich beteiligen solle. Die Bosse und ihre Institute dagegen fordern schlicht Arbeitskräfte, das Institut der deutschen Wirtschaft beziffert den Bedarf auf 250 000 Zuwanderer pro Jahr, andere Institute schätzen die notwendige Zahl auf 460 000 Einwanderer.

Aber das Parteiengezänk hat auch seinen Sinn, gerade in Deutschland. Das Identitätsbewußtsein der Deutschen ist gestört, es kann sich auf Dauer nicht nur negativ definieren. Kultur kommt von cultura – Bebauung, Bildung – und meint das Bearbeiten der Wirklichkeit, der physischen wie geistigen. Das Ergebnis über die Jahrhunderte hinweg ist eine bestimmte Geistesverfassung, eine Wertewelt, die das Denken und Handeln beeinflußt und natürlich auch regionale Ausprägungen kennt, weil jede Region ihre besonderen Umstände hat. Es geht hier allerdings weniger um regionale Eigenheiten. Das ist eine Frage der Austarierung zwischen Vielfalt und Einheit, der Abgrenzung von Kompetenzen, der Präzisierung des Prinzips der Subsidiarität, der Minderheitenrechte und Autonomieregelungen innerhalb eines großen Kulturkreises. Die Deutschen gehören zum abendländischen, also jüdisch-hellenistisch-christlich geprägten Kulturkreis. Zur aktuellen Summe dieses abendländischen Denkens zählt die Lebensform der partnerschaftlichen Ehe und Familie, zählt nicht erst seit Aufklärung und Renaissance das personale Menschenbild, zählen Toleranz, Gewissensfreiheit, Primat des Rechts und Verantwortung. Das ist im asiatischen und erst recht im orientalischen Kulturkreis anders.

Der CSU-Politiker Bernd Posselt, Präsident der Sudetendeutschen und Abgeordneter im Europäischen Parlament, hält den Begriff der "deutschen Leitkultur" für historisch schief. Er begründet das mit den Worten: "Man kann nur von einer europäischen Kultur reden. Es hat nie reine Nationalkulturen in Europa gegeben, wohl aber verschiedene Facetten der gemeinsamen europäischen Kultur."

Wie immer man nun den deutschen Anteil an der gemeinsamen europäischen Kultur definieren will, entscheidend ist, ob die Zuwanderer sich integrieren wollen oder nicht. Dafür wird es Kriterien geben, und man darf vermuten, daß sie ziemlich allgemein gehalten bleiben. Keine Partei wird sich an dem emotional so heißen Thema die Finger verbrennen wollen. Der saarländische Regierungschef Müller plädiert deshalb auch für einen Volksentscheid über ein neues Einwanderungsgesetz. Damit aber gibt er eigentlich zu, daß er die Frage nicht eindeutig beantworten kann oder will. Um eine Definition der Integrationsziele, mithin also auch der kulturellen Vorgaben, wird die Politik sich kaum drücken können. Die Alternative wäre eine unkontrollierte und nur nach wirtschaftlichen Maßstäben geregelte Zuwanderung. Über deren soziale Folgen und Konflikte geht man schweigend hinweg. Das spürt man offenbar in der Bevölkerung. 82 Prozent sprechen sich für eine baldige Regelung der Zuwanderung, also noch in dieser Legislaturperiode aus, und 55 Prozent der Deutschen glauben, daß die Ausländer sich hierzulande nicht gut angepaßt hätten. Der Druck auf die Politik wächst, und damit auch die Neigung, in dieser Frage zu polarisieren, zumal im kommenden Frühjahr zwei Landtagswahlen anstehen.

Die Erwartung der Bevölkerung ist normal. In einer Informations-und Mediengesellschaft muß Politik auch definieren können. "Wer lehrt, herrscht", schrieb Schelsky schon vor Jahrzehnten. Heute könnte man präzisieren: Wer volkstümlich definiert, laviert. Wer nach der Definitionsmacht in der Wissensgesellschaft greift und somit den Anspruch auf das Regieren erhebt, der muß definieren können und darf sich auch vor Bekenntnissen nicht scheuen. Das ist das Risiko der Politik. Im Fall der Union hieße das zum Beispiel, daß man sich auch zu den christlichen Elementen der europäischen Kultur bekennt. Sonst wird aus der Leitkultur ein Schlagwort, ein beliebiger Konsumartikel, ein geschmäcklerisches Abziehbild früherer Originale, eine "Light"-Kultur. Damit lassen sich weder Stammtische noch Wahlen gewinnen. Denn Kulturbegriffe entfalten ihre Wirkung erst dann, wenn man sie glaubwürdig vertritt.