26.04.2024

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02.12.00 Können wir aus der Geschichte lernen?

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 02. Dezember 2000


Können wir aus der Geschichte lernen?
Der Versuch einer Antwort / Teil II
Von UWE GREVE

Was heute im Amazonasgebiet oder in zentralafrikanischen Staaten mit den tropischen Regenwäldern praktiziert wird, bringt Gefahren für die ganze Menschheit mit sich. Im Mittelmeerraum sind uns solche aus Gewinnsucht, Nach-uns-die-Sintflut-Denken und Bevölkerungsdruck entstehenden Naturzerstörungen, die am Ende immer den Menschen als Besiegten zeigen, schon aus dem Altertum bekannt.

Man denke nur an die griechischen Karstgebiete oder jene trostlosen Zonen Nordafrikas, die durch Menscheneinfluß unwirtlich wurden. Auch in unserem Lebensumkreis finden wir sichtbare Warnungen. Noch im 16. Jahrhundert war die Kurische Nehrung mit Ausnahme der schmalen Stelle bei Sarkau mit einem prächtigen Wald bedeckt. Ortsnamen wie Lattenwalde oder Stangenwalde bestätigen dies ebenso wie alte Aufzeichnungen.

Zur Zeit des Ritterordens waren die Wälder noch von einer solchen Dichte, daß sie den Kampf mit den heidnischen Ureinwohnern stark erschwerten. Die Ordensritter begannen die Wälder zu lichten und befestigten Burgen und Plätze, anfangs aus Holz. Zu Zeiten des Großen Kurfürsten wurden die Wälder, insbesondere für den Aufbau der aufstrebenden Stadt Königsberg, schon stärker genutzt, als es die Regenerationskraft der Natur erlaubte. Katastrophal wirkten die Einflüsse der Russen während des Siebenjährigen Krieges auf die Nehrungswälder. "Aus Übermut", wie es in einer alten Chronik heißt, "setzten sie größere Strecken in Brand oder versuchten, aus dem Fichtenholz Teer zu schwelen." Aber auch die Bewohner selbst verstärkten das Vernichtungswerk. Um 1820 fielen noch viele Hektar Wald der Axt zum Opfer, und was blieb, waren endlich nur jene kümmerlichen Waldoasen bei Rositten, Nidden und Schwarzort, die noch heute vorhanden sind.

Der unbedachte Eingriff der Menschen wurde durch die Natur verstärkt. Als die Waldbestände an der Nehrung unter die Axt kamen und der Vorstrand der schützenden Bäume beraubt war, entstanden durch die Ausrodung der Wurzeln große Lücken in der Narbe des Waldbodens. Der Sturm fegte hinein und blies immer mehr Sandboden frei. Der durch die Wellen am Haff ausgeworfene Sand vereinte sich im Sturm mit dem freigelegten Sand, der früher vom Waldboden festgehalten wurde, zu immer größeren Sanddünen. Über Jahrhunderte entstanden große Dünenbewegungen, die auch jene Waldteile bedrohten, die der Mensch verschont hatte. Unter dem ständigen Aufprall der scharfen Sandkörner starben die Bäume langsam ab, andere wurden allmählich verschüttet. Schließlich verschwanden ganze Dörfer wie Karweiten, Kunzen oder Lattenwalde unter den Dünen. Pillkoppen mußte in 200 Jahren viermal verlegt und neu aufgebaut werden, weil es jeweils von den Dünen bedroht wurde. Von der Frischen Nehrung ist gleiches bekannt.

Ähnliche historische Erfahrungen mit ökologischem Hintergrund – um im deutschen Sprachraum zu bleiben – begegnen uns in der Lüneburger Heide. Die herrlichen Mischwälder dort, von denen uns in vielen alten Sagen und Zeugnissen berichtet wird, wurden in den Jahrhunderten der Salzgewinnung im buchstäblichen Sinne des Wortes verfeuert, und die Aufforstung im 19. Jahrhundert erbrachte jene eintönigen, feuer- und schädlingsanfälligen Kiefern- und Fichtenschonungen, die jetzt diese Region prägen. Wie wenig die heute führenden Politiker in der Bundesrepublik Deutschland solche Erfahrungen in der Lage oder willens sind zu verarbeiten, sehen wir an der hemmungslosen Erschließung der Alpenregion, der das unwiderrufliche ökologische "Aus" droht, wenn die Umgestaltung zur Touristenlandschaft auch nur noch ein Jahrzehnt weiterbetrieben wird.

Zu den wichtigsten Erkenntnissen aus der Geschichte gehört die Notwendigkeit, Utopien daraufhin zu untersuchen, ob sie von einem "neuen Menschen" ausgehen. Alle Versuche in der Vergangenheit, den "neuen Menschen" zu schaffen, endeten in Blut und Tränen. In diesen Utopien lebte der Grundfehler zu glauben, der Mensch wäre nur sehr wenig von seinen Anlagen geprägt. Allein entscheidend für seine Entwicklung sei die Umwelt.

Am erfolgreichsten war unter allen Lehren dieser Art der Marxismus. Nach Millionen und Abermillionen von Opfern, welche die Durchsetzung dieser Lehre im politischen Alltag forderte, kehren die betroffenen Völker derzeit schrittweise zu einer Ordnung zurück, die von einem Bild des Menschen ausgeht, wie er ist, und nicht wie er sein sollte.

Freiheit und absolute Gleichheit ließen sich nicht miteinander verbinden. Die Menschen sind nicht nur ungleich in Geschlecht, Alter und Charaktermerkmalen, sondern auch nach Begabung und Willenskraft. Gleichheit mußte also eine Einschränkung der Freiheit für Millionen bedeuten. Gleicher Lohn für alle, das hieß, daß die Fleißigen begannen, sich an der Arbeitsleistung der Faulen zu orientieren. Wo kein Anreiz zur Leistung mehr war, mußte der Leistungswille sinken. Und auch der Glaube, auf die schöpferische Kraft des Unternehmers verzichten zu können, verstärkte den wirtschaftlichen Abstieg. Unfähige und oft sachunkundige Bürokraten und Ideologen nahmen die Wirtschaftslenkung in die Hand, und ihre Planung hinkte ständig hinter den wirtschaftlichen Notwendigkeiten her. Das Ergebnis war, daß der erzielte Mehrwert, der an das Volk weiterverteilt werden sollte, gar nicht mehr auftauchte. Der ungleichmäßigen Verteilung des Reichtums in der alten Gesellschaft folgte die gleichmäßige Verteilung des Mangels in der neuen. Allein, damit wollten sich die marxistischen Funktionäre nicht abfinden. So gaben sie sich selbst jene materielle Möglichkeiten, die sie an alten Oberklassen für so unmoralisch gehalten hatten.

Herrschaft von Menschen über Menschen hatten die marxistischen Utopisten überwinden wollen. Aus der Sicht historischer Erfahrung eine Absurdität! Herrschaft darf doch nicht nur im Sinne ihres Mißbrauchs bewertet werden. Ihr Sinn und ihr Zweck liegen doch darin, die Bedürfnisse der Menschen im Zusammenleben, insbesondere der Alten, Kranken und Schwachen, befrieden zu helfen. Deshalb sagen Demokraten mit Recht: Herrschaft von Menschen über Menschen kann nicht überwunden werden. Aber sie kann kontrollierbar, ablösbar gestaltet und an Grundrechte gebunden werden. Da eine Gesellschaft ohne Herrschaft zur totalen Unordnung, zur Anarchie führt, schaffen die Marxisten Herrschaft auch nicht ab, sondern nur ihre Kontrolle, ihre Ablösbarkeit und ihre Bindung an die grundlegenden Menschenrechte. So gebar eine Utopie, welche die Freiheit auf ihre Fahnen geschrieben hatte, eine der unfreiesten und unmoralischsten Staats- und Gesellschaftsformen der Weltgeschichte.

Noch mehr an Lehren kann aus der Geschichte für den Aufbau des vereinten Europa gezogen werden. In diesem Jahrhundert starben die großen übernationalen Reiche: das Osmanische Reich, der Vielvölkerstaat der österreich-ungarischen Donau-Monarchie, das britische, französische, belgische, holländische, portugiesische Kolonialreich, die Sowjetunion, schließlich das künstliche Gebilde der Tschechoslowakei und in einem grausamen Bürgerkrieg das ebenso auf dem Reißbrett entstandene Jugoslawien. Deshalb ist es auch ein Irrglaube zu meinen, in Europa sei der Einzelstaat am Ende. Das stimmt nur in dem Sinne, als daß der autarke, völlig selbständige, sich von seinen Nachbarn abgrenzende Nationalstaat überholt ist. Die Nationen, Völkerschaften und Minderheiten kämpfen hingegen stärker als bisher um ihr sprachliches, kulturelles und geistiges Überleben. Sie wenden sich gegen den Einheitsbrei eines Coca-Cola- oder McDonald’s-"Paradieses".

Die Summe der Menschen, besonders auch der Führungsschichten in Europa, möchte eine gegliederte europäische Föderation, in der jeder einzelne Staat und auch die darunter liegenden Regionen, Bezirke und Kreise alle Bereiche in der Hand behalten, die nicht in die Hände der Brüsseler Bürokratie gehören. Diese Idee wird sich um so eher durchsetzen, je mehr Nationen sich um Assoziation oder Mitgliedschaft bemühen.

Ungeschichtlich war immer die Formulierung von den "Vereinigten Staaten von Europa", die aufgebaut werden müßten. Die Vereinigten Staaten von Amerika konnten für Europa niemals Vorbild sein. Denn dort wurden koloniale Verwaltungseinheiten zusammengefügt, ohne gewachsene Völker, Sprachen, Nationalkulturen. Europa war immer Einheit in Vielfalt. Und wenn es heute Politiker gibt, die es am liebsten hätten, daß selbst die Nationalsprachen abgeschafft, eine einheitliche Kultur- und Bildungspolitik verfügt würde, dann laufen solche Männer und Frauen an der europäischen Wirklichkeit vorbei. Die Vielfalt der Strukturen war es, die den europäischen Fortschritt möglich machte. Die gegenseitige Beobachtung, die Übernahme von Bewährtem des Nachbarn, das ständige gegenseitige Nehmen und Geben machte Europa zum führenden Kontinent. Wer diese Vielseitigkeit durch Zentralismus auslöschte, nähme Europa seine Zukunft.

Die Ursachen für die häufige Mißachtung historischer Erfahrungen liegen nicht in erster Linie darin, daß Generationen von Politikern mit ideologischen Scheuklappen gelebt hätten, auch nicht darin, daß ihr politischer Blick von schädlichen Leidenschaften wie Haß oder Neid getrübt gewesen wäre, sondern darin, daß ihnen die Geschichte als Lebenselement fremd blieb. Für alle Berufe wird in den Kulturstaaten, nicht erst seit den letzten Jahrhunderten, den Menschen theoretisches Wissen an die Hand gegeben, wird die Beherrschung des Handwerks zur Ausübung desselben vorausgesetzt. Nur in dem Beruf, der das Ganze entscheidend beeinflußt und lenkt, ist dies in vielen Staaten über die Jahrhunderte, bis zu unserer Gegenwart hin, gar zu oft dem Zufall überlassen worden, wurde selten gefragt, ob Politiker die Grundlagen ihres Handwerks verstehen.

Man schaue sich die Lebenswege vieler Politiker an, vieler "Staatsmänner" aus Vergangenheit und Gegenwart, die diesen Namen kaum verdienen, um zu begreifen, daß sie zwar die Wege zur Erlangung der Macht beherrschten, daß daraus aber noch lange nicht die Fähigkeit, einen Staat zu führen, erwuchs. Freilich gibt es auch in der Politik die Genies, gibt es Idealisten und Autodidakten, die zu staatsmännischem Format gefunden haben.