23.04.2024

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09.12.00 Der "zweite Mann" mit dem zweiten Gesicht

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 09. Dezember 2000


Professor Dr. Werner Maser veröffentlichte eine neue politische Biographie über Hermann Göring:
Der "zweite Mann" mit dem zweiten Gesicht
Exklusiv-Interview mit dem renommierten Historiker / Von Peter Fischer

Herr Professor Maser, die Bücher, die über die Zeit des Nationalsozialismus geschrieben wurden, sind Legion. Warum nun ein weiteres, und zwar über Hermann Göring?

Maser: Göring war bis 1943 – neben oder nach Hitler – der mächtigste Mann des NS-Regimes, was oberflächlich bereits die zahlreichen Ämter und Positionen exemplifizieren, die er innehatte. Bis 1943 gab es – bis auf Hitlers Entscheidung im Zusammenhang mit dem deutsch-sowjetischen Krieg – keine oder kaum eine politische und militärische Maßnahme Hitlers, die er zuvor nicht mit Göring besprochen hatte.

Zudem konnte Göring auf eine Vita verweisen, die sich von den Lebensläufen und Karrieren der anderen maßgeblichen Funktionsträgern des Dritten Reiches wesentlich unterschied. Sein Vater, der kaiserliche Resident im Ministerrang Dr. Heinrich Göring, verkehrte mit Cecil Rhodes und Joseph Chamberlain und verfügte über persönliche Beziehungen zu Otto von Bismarck. Zu seinen Vorfahren gehörten eine Reihe sowohl kleinadeliger als auch hochadeliger Ahnen, die mit fast allen Herrscherhäusern des Mittelalters versippt waren. Ein preußischer Regierungspräsident und eine Metternich zu Gracht gehörten zu Urgroßeltern väterlicherseits. Daß einer seiner Vorväter, der im 15. Jahrhundert vom Judentum zum Christentum übergetretene Baseler Geldwechsler Eberle oder Eberlin ebenfalls zu seinen Vorfahren gehörte, war angesichts der Weltanschauung der überzeugten Nationalsozialisten mehr als pikant.

Göring verfügte über eine außergewöhnlich hohe Intelligenz und Beredsamkeit – auch in mehreren Sprachen. Und er verstand es meisterhaft, sich volkstümlich-landesväterlich zu geben, und war im Grunde die einzige Führungs-Figur, die das NS-Regime so zu repräsentieren vermochte, daß es dem deutschen Großbürgertum und Adel ebenso wählbar erschien wie der Mittelschicht und den Arbeitern, unterschied er sich doch bereits rein äußerlich von den Hoheitsträgern, die im Gegensatz zu ihm stereotyp von der germanischen Rasse redeten – und selbst allerdings, wie Heinrich Himmler, Josef Goebbels und Fritz Sauckel, um nur sie zu nennen, das Gegenteil verkörperten.

Nicht nur durch sein Verhältnis zum Judentum setzte er, der Patensohn eines geadelten, österreichischen jüdischen Arztes und Weltmannes, sich in gravierender Hinsicht von Goebbels, Himmler, Alfred Rosenberg, Hans Frank, Julius Streicher und anderen Exponenten des Dritten Reiches ab. Noch während des Krieges erreichte er beispielsweise bei Hitler, daß der Mieterschutz für Juden zumindest formell garantiert wurde, deren Auswanderung er bis zu den maß- geblichen Einflußmöglichkeiten Himmlers, Reinhard Heydrichs, Joachim von Ribbentrops und Albert Speers noch während des Krieges durch zum Teil krasse und von der NS-Weltanschauung abweichende Weisungen forcierte. Nicht nur dem Scheine nach galt sein viel zitiertes Wort "Wer Jude ist, bestimme ich". Als preußischer Ministerpräsident ließ er durch eine Fachkommission festlegen, wer als Jude bezeichnet werden dürfe. Luftwaffensoldaten jüdischer Herkunft waren keine Seltenheit. Seine öffentlichen antisemitischen Äußerungen dienten der Absicherung seiner Existenz und Positionen, waren durchsichtige Loyalitätsbekundungen und kalkulierte Opportunismus-Reflexionen. Gegen Göring sprach, daß er trotz seiner von Hitlers Vorstellungen abweichenden Auffassungen, seiner großen Machtfülle und ungebrochenen Popularität Hitler im Zusammenhang mit dessen Judenpolitik niemals energisch in die Arme gefallen ist.

Im Gegensatz zu Hitler, der ihn 1939 zu seinem Nachfolger ernannte, war er gegen den Krieg, den er jedoch gewinnen wollte, nachdem er gegen seine Interventionen bei Hitler am 1. September 1939 ausgebrochen war. Uneingeschränkt stimmte er mit Hitler, dessen Buch "Mein Kampf" er nicht gelesen hat, lediglich hinsichtlich der Beurteilung des Versailler Vertrages und des Bolschewismus überein.

Daß Göring seit 1922 zeitweise aus purem Opportunismus mit den Wölfen heulte, obwohl er anders dachte und in der NSDAP niemals seine politische Heimat sah, ist ein weiterer Punkt, der eine historisch fundierte Analyse fordert.

Ich denke, daß bereits diese stichwortartigen Hinweise mehr als nur ausreichen, Hermann Göring zum Objekt der Darstellung im Rahmen einer politischen Biographie zu machen.

Die Talsohle der Vergangenheitsbewältigung scheint offenbar noch nicht durchschritten zu sein, wenn man an die denkwürdigen Filmsequenzen des Herrn Knopp im ZDF denkt. Bestärken solche Beiträge nicht eher antiaufklärerische und ahistorische Tendenzen, wenn die Forderung "Sagen, wie es war" entschieden zu kurz kommt?

Maser: Das trifft leider zu, ist angesichts der Geschichtsfremdheit vieler Deutscher eine zwangsläufige Konsequenz. Wäre es anders, das heißt, wäre Geschichte bei uns bewußtseinsmäßig das, was sie bei Amerikanern, Engländern, Franzosen, Russen und Polen ist, soweit es ihre Geschichte betrifft, hätten visuelle und nachträglich auch noch in Büchern kolportierte Darstellungen, wie Guido Knopp sie im Zweiten Deutschen Fernsehen als zutreffenden Nachvollzug der Vergangenheit darbietet, keine Chance, Gehör zu finden.

Während die Bevölkerung des einstigen Ostblocks die geistige Drangsalierung durch den ohne Berechtigung als exakte "Wissenschaft" definierten Marxismus-Leninismus infolge des Konkurses des Sowjetimperiums hinter sich lassen konnte, geriet sie zumindest in Deutschland vom Regen in die Traufe. Die vom ZDF zum Nachvollzug authentischer Geschichte stilisierten Zeitgeschichtssendungen unterschieden sich in ihrer Substanz, Qualität und grobschlächtigen Instrumentalisierung der Geschichte durchaus nicht von den krassen Geschichtsmanipulationen der unbelehrbaren Marxismus-Exegeten. Daß sie nicht nur von den 13 Prozent der Fernsehzuschauer, die nach einer Statistik nie ein Buch lesen, für bare Münze genommen werden, bestätigt die keineswegs neue Erkenntnis, daß bestimmte Fernsehsendungen nicht den Verstand ansprechen, sondern Emotionen spontan wach werden lassen. Die "Clipschule vom Lerchenberg", wie der "Spiegel" die peinlich banalen und von Wissenschaft weit entfernten Geschichtsdeutungen des ZDF zutreffend nannte, nahm einen Teil der Deutschen so aggressiv in Beschlag, daß sich beispielsweise auch die "Süddeutsche Zeitung" veranlaßt sah, dem Leiter der "Geschichts"-Sendungen zu attestieren: "Guido Knopps Reihe ,Hitlers Helfer‘ hat mit ernsthafter Zeitgeschichte nichts mehr zu tun." Knopps Ausrede, Sendungen nicht nur für Professoren, sondern auch für den Mann auf der Straße zu produzieren, verriet angesichts der von ihm geleiteten Sendungen, daß die Maxime Leopold von Rankes, Geschichte so darzustellen, wie sie wirklich gewesen ist, nicht zu seinen Richtlinien gehört. Den Deutschen wird durch die Gleichsetzung von Meinungen und individuellen Erlebnissen mit tatsächlich Geschichte konstituierenden Details und Zusammenhängen weithin der Boden entzogen, auf dem ein normales Verhältnis zur Geschichte gedeihen kann. Daß unsere Historie in einer nicht so fernen Phase leider mit ungeheuerlichen Hypotheken belastet ist, bietet keinen zwingenden Anlaß, sie weiterhin zu verhunzen.

Mit einer modischen, extrem emotionalisiert und personalisiert agierenden Geschichtsaufklärung wird in der Tat das Gegenteil von dem erreicht, was eigentlich bewirkt werden soll. Wo Nuancen zu Ausnahmen gehören, historische Vorgänge und Figuren effektvoll dramatisiert und instrumentalisiert werden, kann kritisches Bewußtsein nicht gefördert werden. Oscar Wildes Rat an seine Kollegen, "laßt nie Fakten einer guten Story in die Quere kommen", könnte als Richtlinie auf Knopps Methoden gemünzt sein.

Sie schreiben Geschichte so, wie Ranke es einst gefordert hat. Betrübt es Sie da nicht, daß ausgerechnet Sie es waren, der Knopp seinerzeit dem ZDF andiente?

Maser: Ja, natürlich! Das war mein damals nicht voraussehbarer Sündenfall. Der Historiker kennt eben nur die Vergangenheit, die Zukunft dagegen bleibt auch ihm ein Rätsel. Welches Unheil die Büchse der Pandora enthält, weiß auch er nicht, bevor sie geöffnet worden ist.

Kommen wir zur Person Ihres neuesten Werkes mit dem Untertitel "Hitlers janusköpfiger Paladin": Janus, der römische Gott der Zeit, vermochte in die Vergangenheit und in die Zukunft zu sehen. Nährte Görings politische Existenz sich eher aus der Vergangenheit, also der Zeit der Pariser Vorortverträge, der Feindschaft der Westmächte und der Sicht eines brot- und ziellosen Frontkämpfers oder aus den Zukunftsmöglichkeiten, die zumindest theoretisch im Nationalsozialismus lagen?

Maser: Hermann Göring war, als er 1922 in München zu Hitler stieß, keineswegs "ziellos". Im Gegenteil. Er war engagiert bestrebt, abzuwenden oder zu annullieren, was er als Bedrohung für Deutschland empfand. Wie Hitler, so protestierte er – wie allerdings der weitaus größte Teil der deutschen Bevölkerung auch – gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrages und sah im Bolschewismus eine Existenzgefährdung Deutschlands, was hier allerdings nicht gerade als originell definiert werden kann, soweit es seine Haltung betraf. Daß er keinen Beruf gehabt habe, wie immer wieder kolportiert wird, stimmt nicht mit dem Sachverhalt überein. Er war Pilot und flog bald auch als Zivilist in Skandinavien, wo er seinen Lebensunterhalt zeitweilig als waghalsiger Kunstflieger verdiente.

Janus, der von den Römern unmittelbar nach ihrem Hauptgott Zeus in die Mythologie eingeordnet wurde, sah und wußte mehr als alle anderen Götter, weil er es war, der die Tür zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft öffnete und schloß und so registrieren konnte, was geschah und geschehen würde. Eine entsprechende Position nahm Hermann Göring schließlich auch bei und neben Hitler ein, was ihm 1945 und 1946 im Rahmen des Nürnberger Prozesses gegen die als Hauptkriegsverbrecher angeklagten und verurteilten Deutschen vor allem zum Verhängnis wurde. Er war der "zweite Mann" im Staat gewesen, und als solcher hat er, wie das Tribunal befand, jederzeit gewußt, welche Verbrechen im Dritten Reich begangen wurden. Er, über den als einzigen Exponenten des NS-Regimes anerkennend artikulierte Witze und Anekdoten kursierten, ließ sich allerdings tatsächlich von Hitler in Geschehnisse einspannen und mißbrauchen – und half so entscheidend mit, Ereignissen und Maßnahmen den Weg zu bahnen, die seinen persönlichen Vorstellungen nicht entsprachen.

Kein anderer Hoheitsträger des Dritten Reiches war so zweigesichtig wie er. Nahezu alle anderen, einschließlich Hitler, waren a priori ausrechenbar, Göring nicht.

Von Hitler mit Aufgaben betraut, die er innerlich ablehnte, delegierte er meist die Weisungen und ließ zu, daß sie umgesetzt wurden. Wie Janus, so sah auch er, was sich ereignete, und wie der Gott der Römer, so behielt auch er für sich, was er sah.

Frühe Fronterfahrungen führen oft dazu, das Leben, insbesondere auch das politische, nur aus dieser ersten Perspektive wahrzunehmen. Gilt dies auch für Göring?

Maser: Teils, teils! Von 1922 bis Ende 1923 und von 1928 bis kurz nach der Machtübernahme und Machtergreifung agierte er im Stile eines preußischen Offiziers, der die Durchsetzung von Befehlen unter allen Umständen erwartete, selbst wenn sie nicht unbedingt den Richtlinien entsprachen, die von "oben" oder den weltanschaulichen Grundsätzen der NSDAP vorgegeben waren. Das änderte sich im Laufe der Zeit jedoch zunehmend, obwohl die stete Zunahme seiner Machtbefugnisse gerade das Gegenteil hätte erwarten lassen. Nachdem Hitler, der Görings Machtausweitung nicht tatenlos hinnehmen wollte, ihn zunächst weder zum Außenminister noch 1938 nach dem Ausscheiden Werner von Blombergs zum Reichswehrminister ernannt hatte, was Göring sehr gern geworden wäre, gab er sich zunehmend jovial staatsmännisch und ließ nicht erkennen, daß er enttäuscht war.

Nachdem er am 19. Juni 1940 zum Reichsmarschall ernannt worden war, was ihm, dem unentwegten Kunstsammler, eine zusätzliche monatliche Dotation von 20 000 Mark eintrug, engagierte er sich im Rahmen seiner eineinhalb Dutzend Ämter und im Bewußtsein, der nach Hitler mächtigste Mann im Reich zu sein. Er gab sich nicht mehr so soldatisch, wie es in den ersten Jahren nach der Machtübernahme als preußischer Ministerpräsident, oberster Chef der Luftwaffe und diplomatischer Zuarbeiter Hitlers in Italien und in Südosteuropa der Fall gewesen war. "Fronterfahrungen" aus dem Ersten Weltkrieg, aus dem er als Hauptmann und Träger des Pour le Mérite nach Deutschland zurückgekehrt war, waren für ihn bald nur noch Geschichte.

Göring besaß eine Überfülle an Ämtern, wobei jedes für sich wahrscheinlich schon ganzen Einsatz abverlangte; man denke nur an die Verantwortung für den Vierjahresplan. Hielt er sich für unersetzlich?

Maser: Er selbst nicht, zumindest seit 1943 nicht, seit er davon ausging, daß Hitler "verrückt" geworden sei. Doch Hitler war bis dahin der Ansicht, daß er ihn infolge seiner vorausgegangenen herausragenden Leistungen nicht entbehren zu können meinte, was sich in bestimmten Situationen, wie zum Beispiel nach dem Stauffenberg-Attentat, zeigte, als der kaltgestellte Göring durch seinen von Hitler verfügten öffentlichen Auftritt die angebliche Ungebrochenheit des Regimes repräsentieren mußte. Nicht nur einmal hat Hitler zugegeben, daß er Göring 1943 nicht einfach für jedermann erkennbar in die Wüste schicken könnte, ohne im In- und Ausland Konsequenzen auszulösen, die er sich in zunehmendem Maße nicht leisten konnte.

Umgekehrt war Göring durch seine Verwundung morphiumsüchtig geworden. Wie sehr schränkt diese Sucht eine Tätigkeit mit öffentlicher Verantwortung ein ?

Maser: Die Frage sollte allgemein ein Mediziner beantworten. Soweit sie Göring betrifft, zeigt sein Verhalten, daß die Morphiumsucht seine Entscheidungen nicht so beeinflußte, daß sie von jedermann als Ursache für bestimmte Maßnahmen definiert werden konnte. Morphiumsüchtig war er nach dem Hitler-Putsch im November 1923 geworden, nachdem befreundete jüdische Ärzte ihn wegen seiner schweren Verwundung mit Morphium behandelt und ihn heimlich nach Österreich gebracht hatten. In Schweden war er drei Jahre später wegen der Sucht von seiner späteren Ehefrau, der Gräfin von Kantzow, für einige Woche sogar in eine Irrenanstalt eingeliefert worden.

Görings Sachverstand für die Luftwaffe nährte sich aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges. Fachleute, auch ausländische, beurteilten seine strategischen und rüstungstechnischen Leistungen im Zweiten Weltkrieg eher als mäßig. Teilen Sie diese Auffassung?

Maser: Das trifft weithin zu, wobei jedoch in Rechnung gestellt werden muß, daß beispielsweise sein im November 1941 durch Selbstmord aus dem Leben geschiedener Weltkriegs-Kamerad Ernst Udet, der von ihm beauftragt worden war, die Luftrüstung zu organisieren, ihn serienweise mit falschen Daten und Fakten getäuscht hat. Und Erhard Milch, Görings Staatssekretär jüdischer Abstammung, Feldmarschall und glänzender Luftwaffen-Fachmann, kam infolge der Entscheidungen Görings nicht so zum Zuge, wie es angemessen gewesen wäre. Göring duldete nicht, daß andere besser als er wußten, was zu tun sei.

Hitler, der ihn lange für den besten Sachkenner hielt, gaukelte er seit 1937 vor, daß die deutsche Flugzeug-Industrie in der Lage sein würde, die geplante Vergrößerung und Revolutionierung der Luftwaffe rechtzeitig zu schaffen. Er, der Hitlers aggressive Kriegsvorstellungen kannte, rechnete mit einem Krieg nicht vor 1943, was hierbei nicht übersehen werden darf. Infolge des Rohstoffmangels, für den er seit seiner Berufung zum allmächtigen Beauftragten für den Vierjahresplan nicht unerheblich verantwortlich zeichnete, war die Flugzeug-Industrie nicht in der Lage, die Vorgaben zu erfüllen. Für Göring kam der Krieg vier Jahre zu früh, was zur Folge hatte, daß auch die deutschen Flugzeugbesatzungen nicht rechtzeitig ausreichend ausgebildet waren, was sich angesichts der zahlenmäßig überwältigenden Übermacht der Alliierten sehr nachteilig auswirkte. Um es auf eine knappe Formel zu bringen: Göring war Generalist, nicht Spezialist. Infolge der ihm von Hitler übertragenen zahlreichen Ämter, Positionen und Sondermissionen, die seine Kraft überfordern mußten, konnte es einfach nicht anders sein.

Erklärt sich daraus auch Hitlers zunehmende Distanz zu ihm?

Maser: Ab Mai 1943 ja! Hitler, der an sich mehr als jeder andere glaubte, war nicht bereit, die Tatsache zu akzeptieren, daß er durch seine Vorgaben eine erhebliche Mitschuld daran trug, daß zum Besipiel die Luftabwehr so ungenügend war. Im Juni 1945, als sowjetische NKWD-Offiziere Göring unter der Aufsicht amerikanischer Offiziere befragten, verwies er unter Anführung exemplarischer Beispiele auf Hitlers wesentliche Mitschuld an der Lage.

Die Ämterhäufung brachte es mit sich, daß Göring auch in das Geschehen der Wannsee-Konferenz geriet. Was haben Sie, Herr Prof. Maser, zu diesem Komplex herausgefunden?

Maser: Zu dem Komplex ist zu sagen, daß die bisherigen Darstellungen die dokumentarisch nachweisbaren Tatsachen meist grob verzeichnen. Die Angelegenheit "Wannsee-Konferenz", die einen wesentlichen Einfluß auf die Judenpolitik des NS-Regimes hatte, kann im Rahmen eines Interviews keineswegs plausibel dargestellt werden, zumal im Nachvollzug, vor allem im Nürnberger Prozeß der alliierten Siegermächte, gefälschte Dokumente eine wesentliche Rolle spielten. In meiner Göring-Biographie findet der Leser die durch bislang nirgendwo ausgewertete Dokumente gestützte Antwort auf diese Frage.

Göring verfügte auch während des Krieges über zahlreiche ausländische Kontakte, die ihn vor, während und nach dem deutsch-polnischen Krieg von 1939 auch in die Friedensbemühungen im Zusammenhang mit dem schwedischen Geschäftsmann Birger Dahlerus führten. Es soll englische Kreise gegeben haben, die sich eine Reichsregierung unter Hermann Göring vorstellen konnten ...

Maser: Einer, der dies aus unmittelbarer Erfahrung und Kenntnis übermittelte, war der britische Diplomat John Colville, der seit 1939 im persönlichen Büro Chamberlains in Downing Street 10 und danach bei Winston Churchill arbeitete. Am 28. November 1939 notierte er in seinem Tagebuch, daß namhafte britische und amerikanische Politiker noch drei Monate nach dem Beginn des Krieges hofften, daß Göring Hitler stürzen und sich an seiner Stelle als Staatsoberhaupt etablieren könnte, was nach ihrer Überzeugung ein sofortiges Ende des Krieges zur Folge haben würde.

Görings unbekümmerter Auftritt nach seiner Gefangennahme verführt immer wieder zu der Vermutung, daß er die Konsequenzen der "bedingungslosen Kapitulation" der Siegermächte falsch beurteilte. Lebte er durch seine vorherige Isolation in einem politischen Wolkenkuckucksheim?

Maser: Er ging zunächst davon aus, daß die Alliierten das geltende Völkerrecht und die europäischen Rechtsvorgaben zur Grundlage ihres seit 1941 geplanten und vorbereiteten Kriegsverbrecherprozesses machen würden, was jedoch nicht der Fall war. Die an ihn in Mondorf, wo er sich bis zur Verlegung nach Nürnberg befand, gestellten 555 Fragen ließen durchaus hoffen, daß die Angeklagten trotz der im August 1944 in London von den Alliierten festgelegten Richtlinien für die Prozeßführung und der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Streitkräfte im Mai 1945 mit wesentlich anderen Strafen rechnen könnten. In Nürnberg war Göring sehr bald überzeugt, daß es anders kommen würde. Seine von amerikanischen Korrespondenten und Prozeßbeobachtern als "very very clever" dokumentierten Auftritte brachten den US-Ankläger Robert H. Jackson schier zur Verzweiflung und bewogen den US-General und OSS-Chef William Donovan, der anfänglich ebenfalls zur amerikanischen Anklagebehörde zählte, schon im November 1945 dazu, Nürnberg einfach zu verlassen und nach Amerika zurückzukehren, weil er nach den ersten und für ihn und die gesamte Anklagebehörde nicht gerade schmeichelhaften Konfrontationen mit Göring überzeugt war, daß eine Auseinandersetzung mit ihm ein großes Risiko in sich bergen würde.

Was bewog die Sieger in Nürnberg, den schon durch eine Giftkapsel zu Tode gekommenen Hermann Göring nochmals an den Galgen zu knüpfen?

Maser: Das ist eine Legende. Sie ließen Göring nach dessen Selbstmord lediglich für Fotoaufnahmen einen abgeschnittenen Henkerstrick um den Hals legen.