18.04.2024

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16.12.00 Volkskundliches im Johannes-Künzig-Institut in Freiburg

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 16. Dezember 2000


Ostdeutsche Schatzsuche:
Schimmelreiter und Geldäpfel
Volkskundliches im Johannes-Künzig-Institut in Freiburg
von Martin Schmidt

Wer Mitte Dezember noch immer keine Weihnachtsstimmung verspürt, ist selbst schuld. Er sollte sich nicht mit dem Konsumrausch in den Geschäftsstraßen herausreden.

Schließlich gibt es viele Möglichkeiten adventlichen Erlebens: ausgedehnte Lektüre bei Kerzenschein, entweder in der Bibel oder in einem Buch, das man längst lesen wollte, Bastelarbeiten, ein Gedankenspaziergang auf einem stillen Waldweg oder ein Weihnachtsmarktbummel mit der Familie oder Freunden.

Anregend ist auch die Beschäftigung mit alten Weihnachtsbräuchen aus der Gegend, in der man zu Hause ist oder an der das Herz hängt, weil man in ihr geboren wurde und aufgewachsen ist. Dabei läßt sich manch Vergessenes ausgraben, was es verdient hätte, neu aufgegriffen zu werden.

In der Regel bieten Bibliotheken oder Buchhandlungen die nötigen Informationen. Und für alle, die ganz genau wissen wollen, was es mit dem "Geldapfel" unter schlesischen Weihnachtsbäumen auf sich hat, was der "Schimmelreiter" in Ostpreußen oder Pommern anstellte, warum vor 1945 in Krippenlandschaften im mährischen Altvatergebirge neben dem Wiener Stephansdom das Washingtoner Weiße Haus auftauchte oder wie es zu dem lateinisch-deutschen "Lichtersingen" in Siebenbürgen kam, sei eine Reise nach Freiburg empfohlen.

Im Villenviertel Wiehre gibt es dort eine mit ost- und auslandsdeutschen Themen befaßte Einrichtung, die zu Unrecht relativ wenigen Leuten bekannt ist: das "Johannes Künzig-Institut für ostdeutsche Volkskunde". Das, was die in unmittelbarer Nachbarschaft zum "Deutschen Volksliedarchiv" zu findende Jugendstilvilla für die Wissenschaft, aber auch für eine breitere Schicht von Interessenten bereit hält, sind wahre Schätze der

Überlieferung deutscher Kultur aus dem Osten.

Als Ergebnis eines jahrzehntelangen Sammelns des kulturellen Erbes der deutschen Heimatvertriebenen konnten eine gigantische Menge von 1225 Tonbändern, mehr als 5000 ältere Dias aus allen Siedlungsgebieten sowie einige bedeutende Nachlässe zusammengetragen werden. Natürlich gibt es auch eine umfangreiche Fachbibliothek.

Unter den über 1200 archivierten Periodica lassen sich kleinste Heimatblätter finden – vom "Fraustädter Ländchen", über den "Löwenberger Heimatgruss" bis zum "Memeler Dampfboot".

Die Nachlässe sind bis heute nur ansatzweise fachlich aufgearbeitet und schon gar nicht für die Öffentlichkeit in angemessener Form zusammengefaßt. Dies gilt insbesondere für das erst 1998 ans Institut gelangte Sagen-Archiv des bekannten schlesischen Volkskundlers Will-Erich Peuckert mit rund einer Million Belegen sowie für das 1985 übernommene Archiv des 1902 in Brünn geborenen und in der deutschen Sprachinsel Bielitz aufgewachsenen Alfred Karasek.

Letzteres besteht zum Großteil aus Protokollen und Direktnotierungen aus den Bereichen Volkserzählung, Volksschauspiel und Krippenforschung. Da weihnachtliche Erzählungen und Bräuche über Generationen hinweg die Phantasie der Menschen stark beschäftigt haben und gut in Erinnerung geblieben sind, können "Schatzsucher" in Freiburg nicht zuletzt in diesem Bereich fündig werden.

Der Name Alfred Karasek weist auf Traditionen der Volkskunde in Deutschland zurück, denen das Institut auch über seinen Gründer und Namenspatron Johannes Künzig aufs engste verbunden ist. Leute wie Karasek, Walter Kuhn und Josef Lanz, die in den 1920er Jahren zusammen einer Bielitzer Wandervogelgruppe angehörten, empfanden ein ausgeprägtes grenzübergreifendes Gemeinschaftsgefühl mit den Landsleuten im Osten.

Diese Solidarität war der Antrieb für ausgedehnte Fahrten und Feldforschungen, von deren Früchten die Forschung bis heute zehrt. So stammen von Lanz und Karasek zum Beispiel die einzigartigen Sammlungen zum deutschen Volksschauspiel in den auslandsdeutschen Siedlungen Böhmens und Mährens, Galiziens, der Bukowina, der Batschka, des Banats, Syrmiens und Sloweniens. Und der Siedlungshistoriker Walter Kuhn gehörte in den 20er Jahren zu den ersten Protagonisten der sogenannten "Sprachinselvolkskunde".

Der 1897 in Pülfringen im badischen Frankenland geborene Johannes Künzig richtete sein Augenmerk zuerst auf die eigene Heimat. Parallel zu seiner Dissertation über die "Geschichte des Volksliedinteresses in Baden seit der Romantik" und der Gründung des Badischen Volksliedarchivs im Jahre 1923 begann Künzig als Schüler des Volksliedsammlers John Meier mit Aufzeichnungen von im Badischen gesungenen Liedern, die er ab Ende des Jahrzehnts auch akustisch mit dem Edisonograph auf Wachswalzen für die Nachwelt zu erhalten trachtete.

Ebenfalls 1923 erschien sein erstes Buch unter dem Titel "Badische Sagen", denen 1930 in der Sammlung des Diederichs Verlags die "Schwarzwaldsagen" folgten. Zu Beginn der 30er Jahre entdeckte Künzig schließlich sein volkskundliches Interesse für die aus Baden und dem gesamten oberrheinischen Raum im 18. Jahrhundert gen Südosten ausgewanderten Deutschen. Zwischen 1930 und 1945 unternahm er ganz auf sich gestellt Feldforschungsreisen in das Banat und nach Siebenbürgen, wobei ihn die Erkenntnis vorantrieb, in so manchem Kolonistendorf mit überwiegend oberdeutscher Siedlerherkunft Erzählungen, Lieder und Bräuche entdecken zu können, die in den "Mutterlandschaften" vergessen waren.

Etliche Bücher bildeten den Ertrag dieser volkskundlichen Pioniertaten. Später folgten weitere Fahrten in die Slowakei und die Ukraine.

Nachdem Johannes Künzig zwischen 1937 und 1942 als Professor für Volkskunde an der Hochschule für Lehrerbildung in Karlsruhe und von 1942 bis zum zerstörerischen Bombenangriff am 27. November 1944 als Leiter des neu eingerichteten Instituts für Volkskunde an der Universität Freiburg tätig gewesen war, engagierte er sich in der direkten Nachkriegszeit bei der Caritas für die hilfsbedürftigen deutschen Ost-Flüchtlinge.

Im Jahre 1950 rief Künzig dann nach seiner Pensionierung eine private Forschungsstelle für die Volkskunde der Heimatvertriebe-nen ins Leben, die die Keimzelle des heutigen Instituts bildet. Ein Jahr später veröffentlichte er in der Vertriebenenpresse einen Aufruf zur Sammlung volkskundlicher Überlieferung. Das Echo bestand in regelrechten Materiallawinen. So sandte der Oberlandesrat Dr. Otto Wenzelides aus dem schlesischen Troppau im Laufe von Monaten 178 Schulhefte mit handgeschriebenen Aufzeichnungen ein.

Ferner wurden in allen Teilen der Bundesrepublik und Österreichs Volkslieder und Erzählungen der Vertriebenen in ihren Mundarten auf Tonband aufgezeichnet. Diese Arbeit war vorrangig, da ältere Zeitzeugen nicht mehr lange zu leben hatten und die Erinnerung an den Alltag in der Heimat mit den Jahren schwächer wurde. Das 1958 erschienene Ton-Bild-Buch "Ehe sie verklingen ... Alte deutsche Volksweisen vom Böhmerwald bis zur Wolga" mit vier Schallplatten sowie dokumentierenden bzw. erläuternden Texten schrieb Volkskundegeschichte. Über 50 Platten mit Titeln wie "Gottscheer Volkslieder" oder "Balladen aus ostdeutscher Überlieferung" folgten.

Seit 1965 wird Künzigs Institut mit Mitteln des Landes Baden-Württemberg finanziert, und seit 1983 trägt es nach dem Tod des Gründers dessen Namen. Der jetzige Leiter, Prof. Werner Mezger, bilanzierte die Leistungen seiner Vorgänger auf einer Tagung im Oktober 1998 mit den Worten: Dieser Bereich sei "so konsequent und systematisch erschlossen wie kein anderes Gebiet der Volkskunde".

Allerdings werden die "Volkskunde der Heimatvertriebenen" und die "Sprachinselvolkskunde" heute oft als unzeitgemäß abgestempelt. Das gilt teilweise sogar für die traditionelle Volkskunde insgesamt, sprich die Erforschung von Volksliedern, Märchen und Sagen, Bräuchen aller Art, Wohn- und Handwerkskultur, die seit den 1970er Jahren immer mehr an den Rand des Faches gedrängt wurden.

Dafür rücken in der an manchen Universitäten als "Europäische Ethnologie", "Empirische Kulturwissenschaft" oder "Kulturanthropologie" bezeichneten Disziplin Themen ins Blickfeld, die man früher der Soziologie zugeordnet hätte: Frauen-, Arbeiter- und Stadtteilforschung, Freizeitverhalten usw.

Bedauerlich ist auch, daß seit Mitte der 80er Jahre eine begriffliche "Entsorgung" der "ostdeutschen Volkskunde" stattfindet. Die "Kommission für ostdeutsche Volkskunde" heißt inzwischen "Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde", obwohl es weder um hessische oder mecklenburgische, noch um russische oder ukrainische Volkskunde geht.

Die Hauptsache ist offenbar, daß der Begriff "ostdeutsch" im alten Sinne verschwindet. Bislang hat sich das Johannes-Künzig-Institut dieser Sprachregelung erfreulicherweise noch nicht angepaßt.

Kontakt: Johannes-Künzig-Institut für ostdeutsche Volkskunde, Silberbachstr. 19, 79100 Freiburg, Tel.: 0761/70443-0, Fax: 70443-16