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06.01.01 Bewegende Ergebnisse grenzüberschreitender Erinnerungskultur

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 06. Januar 2001


Vertreibungsgeschichten:
Ostpolen und Ostdeutsche
Bewegende Ergebnisse grenzüberschreitender Erinnerungskultur 
Von Martin Schmidt

Der Borussia-Verlag in Allenstein veröffentlichte im letzten Jahr ein sehr lesenswertes Buch unter dem Titel "Vertreibung aus dem Osten". Es vereint die 43 interessantesten biographischen Erzählungen eines grenzüberschreitenden Wettbewerbs der Jahre 1996/97. Kindliche und jugendliche Zeitzeugen waren aufgerufen, eine breitere Öffentlichkeit teilhaben zu lassen an ihren Erfahrungen zum Thema "Vertreibung im Zweiten Weltkrieg und danach – Polen und Deutsche erinnern sich".

Initiatoren des Wettbewerbs waren die Deutsch-Lektorin Renate Stößinger und der Volkswirtschafts- und Journalistikstudent Christoph Raab, die ihren Wunsch, der "drohenden Amputation unseres historischen Gedächtnisses" entgegenzuwirken, dank der Hilfe des "Vereins der Freunde Polens" (Karlsruhe) sowie des aus der Solidarnosc hervorgegangenen Zentrums "Karta" (Warschau) umsetzen konnten.

Dieses Zentrum fühlt sich der Aufgabe verpflichtet, die verdrängte und verfälschte Geschichte des einstigen Ostpolens zu dokumentieren. Seit 1994 werden regelmäßig Wettbewerbe an polnischen Schulen durchgeführt, und es gibt eine eigene Zeitschrift "Karta", in der auch die Ausschreibung des Wettbewerbs erschienen ist, aus dem schließlich das in Deutschland durch den Fibre Verlag (Martinistr. 37, 49080 Osnabrück, Tel.: 0541/431838) vertriebene Buch (520 Seiten, DM 48,-) hervorging.

Aus diesem Buch stammt die im Folgenden auszugsweise und leicht gestrafft wiedergegebene Erzählung der Ostpolin Helena Herman über ihre Deportation aus dem Wilnaer Gebiet nach Kasachstan.

Ich war vier Jahre alt, als mit Gewehrkolben an die Eingangstür meines Elternhauses gehämmert wurde. Es war im Morgengrauen des 13. April 1940. Innerhalb von fünfzehn Minuten mußten wir unser Haus verlassen. Wir wurden nach Kasachstan deportiert.

Ich bin im Wilnaer Gebiet, im Kreis Poslawsk geboren. Wir wohnten vierzehn Kilometer vom Narocz-See entfernt. Ich wußte genau, wie mein Elternhaus aussah. Es stand auf einem Hügel, war aus Holz auf steinernen Grundmauern errichtet. Eine schöne Lindenallee führte zum Haus. Haupteinnahmequelle des Gutes war der Wald, wo sogar Eichen wuchsen.

Vor dem Haus erstreckte sich ein wunderschöner, gepflegter Blumengarten, der ganze Stolz meiner Mutter. Durch das Gut floß die Uzlanka. Dort fing man im Morgengrauen Fische und badete an heißen Tagen.

Ich war das einzige Kind, und als ich geboren wurde, legte mein Vater einen neuen Obstgarten an und pflanzte 100 Bäume. Mein Elternhaus wurde von einer sechsköpfigen Familie bewohnt, die aus Papa, Mama, Tante Ludmilla, Onkel Arkadiusz, Großmutter, die zum Zeitpunkt der Deportation 73 Jahre alt war, und mir bestand. Meine Eltern waren in jenen Jahren bestimmt glücklich. Verwandte und Bekannte kamen zu Besuch. Im Sommer fuhren wir mit dem Pritschenwagen in der Gegend herum, im Winter mit dem Schlitten.

Nach dem Einmarsch der Sowjets wurde mein Vater verhaftet. Es zeigte sich, daß der Kommissar, der ihn verhörte, ein Studienkollege meines Onkels Aleksander war. Er ließ meinen Vater nach dem Verhör frei und teilte ihm sogar mit, wem er seine Verhaftung verdankte. Es stellte sich heraus, daß er im Beisein eines Bekannten unvorsichtigerweise gesagt hatte, daß die deutschen Aufklärungsflugzeuge viel wendiger als die russischen seien.

Der Kommissar empfahl auch, aus unserem Haus und dieser Gegend wegzuziehen. Das war eine erste Warnung. Aber die Leute aus den umliegenden Dörfern waren uns freundlich gesonnen. Mein Vater unterstützte Bedürftige, er gab ihnen Arbeit. Er fühlte sich sicher. Scheinbar war alles wie immer, bis zu diesem fatalen 13. April.

Wir wurden an den Ort unserer Verbannung nach Nordkasachstan ins Gebiet Petropawlowsk gebracht. Die Bewohner dort wurden belehrt, daß wir "feindliche Elemente" seien und der Kontakt mit uns den Verdacht der Behörden wecke. Das Dorf, in dem wir sechs Jahre verbringen sollten, hieß Stanowoje. Es bestand nur aus ein paar Holzhäusern, der Rest waren Erdhäuschen, sogenannte "Isbuschki".

Die Wände und die Decke einer "Isbuschka" waren aus Gras. Darauf kam eine Schicht mit Kot vermischter Erde, die mit Kalk geweißelt wurde. Schon bald wurden wir Mitbesitzer einer solchen "Isbuschka". Wir konnten sie gegen Sachen, die wir aus unserem Haus mitgebracht hatten, eintauschen.

Am Anfang wurden Polen für keine Arbeit genommen, und später wurden sie als "Feinde des Volkes" für den Straßenbau ins Nirgendwo eingesetzt. Es war eine sehr schwere und sinnlose Arbeit. Es ging nur darum, die "polnischen Herren" zu demütigen.

Als der Krieg mit den Deutschen noch nicht ausgebrochen war, durfte man mit Polen in Kontakt stehen, die in von den Sowjets besetzten Gebieten lebten. So erfuhren wir, daß sofort nach unserer Abreise unser gesamter Besitz von den neuen Machthabern konfisziert worden war.

Nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges fanden die Polen in den Kolchosen Arbeit. Es begannen die nächsten Transporte mit "Volksfeinden" einzutreffen. In unserer Siedlung gab es kaum "echte" Kasachen. Die meisten waren Nachkommen von Zwangsarbeitern und Verbannten; außer Polen gab es dort Russen, Ukrainer, Tataren und Deutsche von der Krim sowie Tschetschenen.

Als den Polen vorgeschlagen wurde, Sowjetbürger zu werden, hatten meine Eltern wie viele andere den Mut, dies abzulehnen. Sie wurden verhaftet. Als Mama nach zwei Monaten zurück war, lag die ganze Last, für eine Familie sorgen zu müssen, wieder auf ihren Schultern. Ich sehe noch, wie sie nachts, über eine Petroleumfunzel gebeugt, für die Dorfbewohner Schals strickte.

Ich erinnere mich auch daran, daß ich zuerst keine Schuhe hatte. Als die ersten leichten Fröste kamen, ließ ich barfuß zur Schule, aber als es richtig fror, trug mich meine Mutter auf dem Rücken zur Schule, hin und zurück. Erst nach einigen Wochen konnte sie genug verdienen und kaufte mir Filzstiefel.

Die Polen zählten zu den politischen Häftlingen, und diesen wurde nur einmal im Jahr erlaubt, einen Brief zu schreiben. Der Inhalt war vorgegeben. So bekamen wir erst nach langem Warten von meinem Vater einen kurzen, offiziellen Brief. Der nächste Brief bestand nur aus einem Satz. Man konnte erkennen, daß er unter großem Kraftaufwand geschrieben wurde. Es war ein Abschiedsbrief. Ohne Datum und Adresse des Absenders. Erst im Februar 1994 erhielten wir eine offizielle Benachrichtigung über seinen Tod am 12.10.43. Mein Vater starb im Alter von 37 Jahren. Meine Mutter hat nie wieder geheiratet.

Endlich war der Krieg zu Ende. Es kam der glückliche Tag unserer Ausreise nach Polen. Durch einen seltsamen Zufall fuhren wir am 13. April von Stanowoje los. Wir kamen nach Stettin, wo man uns ein Einfamilienhaus zuteilte. Bei ihrer Ankunft fand meine Mutter dort eine Deutsche mit ihren Kindern vor. Sie teilte das mitgebrachte Essen – die Frau und die Kinder aßen also eine magere Suppe aus Stachelbeeren und verließen ihr Haus.

Meine Mutter erinnerte sich noch allzu gut daran, wie sie sechs Jahre zuvor mit ihrer Familie den Besitz ganzer Generationen verloren hatte. Aus dem Unglück anderer Nutzen zu ziehen, war für sie eine unwürdige Handlungsweise.