28.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
13.01.01 Der Gipfel von Nizza im Spiegel der französischen Presse

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 13. Januar 2001


Paris:
"Eine erfolgreiche Gelegenheit"
Der Gipfel von Nizza im Spiegel der französischen Presse
– "Les Echos" befürchtet, daß auch nach Nizza keine Kraft gegenüber den USA entwickelt wurde
(Pierre Campguilhem)

Nach Ansicht des sozialistischen Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses der Pariser Nationalversammlung bezeuge das Abkommen, das zwischen den EU-Mitgliedern erreicht wurde, "eine fortwährende Erosion des europäischen Geistes und einen Anstieg der nationalen Egoismen." Insgesamt wird diese Meinung von den meisten Blättern der französischen Hauptstadt geteilt, die sehr kritisch, aber trotzdem zurückhaltend die Ergebnisse des Nizzaer Gipfels kommentieren.

Für die regierungsfreundliche "Le Monde" kann die Bilanz des Gipfels als mittelmäßig gewertet werden, denn obgleich die Union in integrationsreichen Gebieten wie der Währung, der Verteidigung und dem Aktiengesellschaftsrecht weiter fortschreite, fehle es weiter an Institutionen, die diese Komplexe vertiefen und erweitern würden. Knapp resümiert die christlich-demokratische Tageszeitung "La Croix" den allgemeinen Eindruck mit dem folgenden Titel ihres Leitartikels "Mehr wagen".

Der staatliche Auslandsrundfunksender "Radio France International", der als die Meinung der Regierung vertretend gelten kann, bemerkte kurz nach Ende der Verhandlungen, daß "Europa" wieder einmal zu keiner tatsächlichen Macht geworden sei. Die führende Wirtschaftstageszeitung "Les Echos" schloß den dem Gipfel gewidmete Kommentar mit der Bemerkung, daß die in Nizza erreichten Fortschritte einfach wirtschaftlicher Natur gewesen seien und daß die Union lange "ein nicht identifiziertes politisches Tier" bleiben sollte. Auf ihrer Titelseite schrieb die Wirtschaftszeitung "Der Nizzaer Gipfel enttäuscht, der Euro sinkt." Und "Les Echos" fürchtet, die Europäische Union werde auch nach Nizza kein zusätzliches Gewicht gegenüber der Weltmacht USA besitzen.

Der kritische Charakter der Kommentare der Pariser Presse bestimmt sich freilich durch den Beginn der Elysée-Wahlkampagne. Alle Zeitungen unterstrichen, die "Kohabitation" zwischen Chirac und Jospin an der Riviera habe gut funktioniert. Die Presse argwöhnt allerdings mit einigem Recht, daß die gegenseitigen parteipolitisch begründeten Angriffe bald wieder neu aufkommen werden.

Und die erklärten oder eben auch noch nicht erklärten Anwärter auf den Präsidentenstuhl, der 2002 zu erklimmen sein wird, äußern sich sehr negativ über das erreichte Abkommen – vom Liberalen Alain Madelin bis hin zum Linkssozialisten Jean-Pierre Chevènement. Ob die europäische Angelegenheit eine Rolle in der Kampagne zur Wahl des Staatsoberhaupts noch spielen wird, bleibt dahingestellt. Auf jeden Fall fordern die Euroskeptiker mit Charles Pasqua als ihrem maßgeblichen Führer erneut eine die europäische Politik Frankreichs betreffende Volksentscheidung. Nach dem Erachten dieses Altgaullisten und RPR-Abtrünnigen fehlte beim Nizzaer Gipfel "jeglicher politischer Einsatz".

Die Kommentare und Stellungnahmen der Unterhändler des Nizzaer Übereinkommens wurden besonders karg mit Ausnahme des französischen Außenministers Hubert Védrine, der unmittelbar nach dem Gipfel dem Privatfernsehsender TF 1 die Fragen eines Spitzenjournalisten beantwortete. Laut dem Chef des Quai d’Orsay fungiert die EU nach der Regel des Konsenses. Die französische EU-Präsidentschaft hätte während des zweiten Semesters 360 Stunden von Verhandlungen mit ihren EU-Partnern geführt und in Nizza das Erreichbare auch erreicht. Das ist natürlich auch der Tenor der Äußerungen Jacques Chiracs vor dem Straßburger Europaparlament und derjenigen Lionel Jospins vor der Pariser Nationalversammlung. Nach Meinung des Staatspräsidenten handelte es sich darum, die Hindernisse zu vermeiden, die alles kaputt gemacht hätten. Für Lionel Jospin wurde Nizza "eine erfolgreiche Gelegenheit."

Nach dem fünftägigen Marathon von Nizza herrscht insgesamt bei den französischen Meinungsträgern eine gewisse Genugtuung, daß immerhin die EU-Osterweiterung stattfinden kann. Alles in allem schätzt "Le Monde", die den Nizzaer Gipfel als "einen kleinen Gipfel" tituliert, es handele sich nunmehr darum, eine neue Debatte über die Formen der Institutionen und den Weg zu einem zweikreisigen Europa zu eröffnen und von der Frage der zukünftigen Föderation zu sprechen.