28.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
20.01.01 Eine interne EU-Studie beleuchtet Zukunftspläne für das nördliche Ostpreußen

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 20. Januar 2001


Europäische Union
Das Königsberg-Puzzle
Eine interne EU-Studie beleuchtet Zukunftspläne für das nördliche Ostpreußen
von Hans B. v. Sothen 

Mehr und mehr beginnt man sich in der EU für das nördliche Ostpreußen zu interessieren. Erschien vor kurzem in London ein Buch mit dem Titel "The EU and Kaliningrad" (Das Ostpreußenblatt berichtete in Folge 2/01), so ist nun ein internes EU-Papier zur Zukunft des Königsberger Gebiets erstellt worden, dessen Inhalt aufhorchen läßt. Die drei Autoren, der Finne Pertti Joenniemi, Direktor für baltisch-nordische Studien am Kopenhagener Friedensforschungs-Institut (COPRI), der unabhängige irische Wirtschaftswissenschaftler Stephen Dewar und der außerordentliche Professor an der San Diego State University in Kalifornien, Lyndelle D. Fairlie, liefern eine bemerkenswerte Analyse über Zustand und Zukunft des Königsberger Gebietes aus der Sicht der EU. Diese Studie ist um so aufschlußreicher, als sie auch eine Innenansicht auf die derzeit laufenden Denkprozesse der EU-Kommission bietet.

Betrachtet durch die EU-Brille, so beginnt das interne Papier, gebe es ein "kleines" und ein "großes" Rußland. Das "kleine Rußland" bestehe unter anderem aus Polen und Litauen, befinde sich "in steigendem Maße innerhalb der Union" und akzeptiere deren Regeln. Zusätzlich gebe es ein "großes Rußland", das zur EU Distanz halte. Durch seine geographische Lage befinde sich das Königsberger Gebiet zwischen beiden Zonen.

Königsberg, so behaupten die Autoren, könne weder völlig integriert noch durch die grundlegenden Systemdifferenzen abgetrennt werden. Die Zukunft des Gebietes, so das Papier, erfordere die Abwendung von der klassischen Realpolitik mit ihrer Vorstellung von nationaler Souveränität, hin zu einem "post-souveränen Weg".

Bereits seit 1991 hätten sich Grenz- und Zugehörigkeitsfragen des Gebiets gestellt. Hätte es damals einem seiner Nachbarländer "zugeschlagen" werden oder zwischen ihnen aufgeteilt oder zu einer eigenen autonomen Zone werden sollen? Oder sollte es eine "stark militarisierte Zone bleiben und damit eine ständige Bedrohung seiner Nachbarn"? Noch eine weitere Möglichkeit sei damals als denkbar angesehen worden, nämlich die, das Gebiet zu einer Freihandelszone zu machen. Letzteres sei schließlich in Angriff genommen worden.

Ganz aus der offiziellen post-nationalen Sicht der EU wird weiter argumentiert. Das Königsberger Gebiet, so wollen es nämlich die drei Wirtschaftswissenschaftler wissen, habe eine "ziemlich zweideutige Geschichte". Es sei, im Gegensatz zum Rest des Landes, "kaum in der russischen Geschichte verankert" und habe in bezug auf die russische Bevölkerung "keine lokalspezifische Geschichte", die "wenigstens teilweise dazu hätte ausgenutzt werden können, um das Vakuum auszufüllen", das sich nach dem Ende der Zeit der "sowjetischen Gewißheiten" gebildet habe. Es gebe eben keine Rückkehr zur alten Geschichte wie im Falle Leningrads zu St. Petersburg. Die nächsten historischen Alternativen – und das stellen die drei Wissenschaftler gleichwertig nebeneinander – wären die alte deutsche Bezeichnung Königsberg, das polnische Królewiec sowie das litauische Karaliaucius gewesen. Das Papier weiß von angeblich Anfang der 90er Jahre ventilierten Plänen, aus dem Königsberger Gebiet wahlweise entweder eine autonome Region innerhalb der Russischen Föderation oder einen vierten baltischen Staat zu konstituieren oder ein deutsch-polnisch-litauisches Kondominium zu errichten. Einige Stimmen hätten sich auch, wie das Wissenschaftlerkollegium wissen will, für eine Annexion des Gebietes mit den unterschiedlichsten historischen Begründungen durch die genannten Nachbarstaaten ausgesprochen. Der Begriff "Klein-Litauen" für das nördliche Ostpreußen sei beispielsweise dazu benutzt worden, um den Anspruch durch Wilna zu untermauern.

Die Autoren des Papiers stellen jedoch fest, daß solche historisch begründeten Ansprüche nach hinten los gehen könnten. Deutschland hätte, so die Autoren, in einem solchen Falle seine Ansprüche auf weitere östliche Territorien stellen können. Rußland dagegen hätte sich möglicherweise veranlaßt sehen können, die Memelfrage erneut zu stellen, da das Memelland während der Sowjetzeit vom Königsberger Gebiet abgetrennt worden sei und Litauen zugeschlagen wurde. Polen schließlich hätte Litauen gegenüber Ansprüche auf die Region um Wilna stellen können, in der eine bedeutende polnische Minderheit lebe. Dieses hätte jedoch den Dialog Polens und Litauens mit der Nato und der EU erheblich beeinträchtigt. Dies sei unter anderem der Grund gewesen, warum territoriale Fragen niemals in den Vordergrund getreten seien. Deutschland, so wird festgestellt, habe daher "wiederholt jegliches Interesse auf einen Anspruch zur Wiedererlangung des Gebietes geleugnet".

Diese Debatten hätten in Rußland eine äußerst symbolische Wirkung gehabt. Sogar Reformen wie die Landreform seien dadurch verzögert worden, weil zeitweise befürchtet worden sei, daß "durch ausländische Käufe das Land irgendwie in die Hände der Ausländer zurückfallen könnte". Vorschläge gleich welcher Art seien daher oft als ein "Schlag gegen das kollektive russische Selbstbewußtsein" empfunden worden. Rußland aus dem Königsberger Gebiet herauszudrängen hieße nach einigen Interpretationen daher, es aus Europa herauszudrängen. Die drei Autoren, Dewar, Fairlie und Joenniemi betonen daher, daß territoriale Berichtigungen als Grundlage für eine Neuordnung zukünftig keine Rolle spielen könnten.

Das inzwischen allseits bekannte zukünftige Hauptproblem der Region wird auch durch das EU-Papier benannt: Während Litauen und Polen in den nächsten Jahren zunehmend in allen Bereichen in die Strukturen der Union eingegliedert werden, bliebe das Königsberger Gebiet möglicherweise als Exklave von dieser Entwicklung nicht nur ausgeschlossen, sondern auch noch durch die Bestimmungen des Schengener Abkommens und des Vertrags von Amsterdam sowohl von seinen Nachbarn wie auch zunehmend vom russischen Mutterland durch die räumliche Trennung abgeschottet. Denn während Polen und Litauen sich zunehmend integrierten, könnte Königsberg, so die Autoren, bestenfalls auf ein Freihandelsabkommen hoffen. Es sei unvermeidlich, daß zusätzliche Barrieren gegenüber denen aufgerichtet würden, die auf Dauer außerhalb der Europäischen Wirtschaftsunion und des Schengener Abkommens blieben. Königsberg würde also dauerhaft ausgeschlossen bleiben. Das Königsberger Gebiet als Teil der Russischen Föderation würde lediglich von den Wohltaten der EU profitieren, die bereits jetzt Rußland zugute kämen, etwa das TACIS-Programm (Technical Assistance to the Commonwealth of Independant States / =Technische Hilfe der EU für die GUS-Staaten). Leistungen aus dem PHARE-Programm (Poland and Hungary, Aid for the Reconstruction of Economies / = Hilfe für den Wiederaufbau der Wirtschaft in Polen und Ungarn) sollten nach russischen Wünschen künftig ebenfalls dem nordwestrussischen Bereich und damit dem Königsberger Gebiet zukommen können.

Als problematisch wird im EU-Papier die militärische Situation des Gebiets angesehen. Das Hauptquartier der Baltischen Flotte in Pillau sei noch immer ein erheblich wichtiger Faktor in der Königsberger Wirtschaft, wiewohl dieser nicht mehr wie ehedem auf die gesamte baltische Region ausstrahle. Nach dem Ende des Kalten Krieges habe Königsberg versucht, sich sowohl als militärisches Zentrum als auch als wirtschaftliche Brücke zu definieren. Dieses scheint den drei Autoren auf die Dauer ein nicht auflösbarer Widerspruch zu sein, denn es gebe schließlich einen klaren Gegensatz zwischen einer Festung und einem Tor. Diese "traditionelle militärische Denkweise" der Russen beruhe angeblich auf ein Erfordernis klarer Grenzen. Ein solches Denken lasse wenig Platz für überlappende Lösungen und enge den Raum für politische und wirtschaftliche Lösungen für Königsberg als "Grenz-Fall" ein.

Dabei halten die EU-Fachleute den militärischen Wert Königsbergs für durchaus zweifelhaft. Die 11. Armee sei bereits seit einiger Zeit aus dem Gebiet in die Region um St. Petersburg abgezogen. Seit der Unterzeichnung der Charta von Paris im Mai 1997 habe Rußland nach Meinung der Experten die Nato-Osterweiterung praktisch anerkannt. Die potentielle Konfliktsituation um Königsberg habe sich in den letzten Jahren erheblich vermindert. Der ausgesprochene Garnisonscharakter Königsbergs sei seither etwas vermindert worden. Die Tendenz, Königsberg an seinem militärstrategischen Wert zu messen, sei auf russischer Seite zwar noch immer vorhanden, nehme jedoch zugunsten von kooperativen politischen Elementen ab. Überdies verlagerten sich die potentiellen Konfliktherde Rußlands immer mehr von der West- an die Südgrenze des Landes.

Die Sicherheitskonflikte des Königsberger Gebietes würden sich zukünftig vermehrt auf nichtmilitärischen Gebieten abspielen. Denn die Region werde weiterhin an der Grenzlinie zwischen Ordnung und Unordnung verbleiben. So sei mit Schwierigkeiten in den Bereichen Organisierte Kriminalität (OK), Drogenhandel, Schmuggel, Illegale Einwanderung und Umweltproblemen zu rechnen.

Die eigentlichen Zukunftsprobleme des Königsberger Gebiets würden, so die Experten, künftig jedoch nicht so sehr auf den Gebieten der militärischen Verteidigung oder der staatlichen Souveränität Rußlands liegen, sondern in steigendem Maße im wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Dabei entwickeln die Wissenschaftler drei verschiedene Szenarien. Im ersten Falle würde sich das Königsberger Gebiet von seinen Nachbarn isolieren. In diesem Falle würde die Region wirtschaftlich zurückfallen. Weitere Unterstützung durch die EU wäre "eine schlechte Investition für den EU-Steuerzahler". Regionale Instabilität und grenzüberschreitende Kriminalität wären die Folgen. Die EU würde eine Art cordon sanitaire um das Königsberger Gebiet herum aufbauen.

Das zweite Szenario hieße Stagnation; alles bliebe in etwa so, wie es zur Zeit ist. Es gäbe weiterhin technische Assistenz durch die EU, die Unterstützungen blieben jedoch eher quantitativer als qualitativer Art. Die EU-Wirtschaftshilfe bliebe enggesteckt und projektgebunden. Langfristige strategische Hilfe käme in diesem Fall nicht in Betracht. Das dritte Szenario schließlich hieße Integration Königsbergs in die EU; eine de facto-Mitgliedschaft also. Nur auf diese Weise erhielte das Königsberger Gebiet die gleiche Unterstützung wie seine Nachbarn. In der Vergangenheit hätte Gouverneur Jurij Matotschkin eher die Integrationsvariante verfolgt, während sein Nachfolger Leonid Gorbenko, der Vorgänger des kürzlich gewählten neuen Gouverneurs, eher einen Isolationskurs gefahren habe.

Die Wissenschaftler raten den drei Hauptakteuren Rußland, Königsberg und der EU dazu, eine dezidiertere Wirtschaftspolitik zu betreiben. Dieses dürfe die russische Souveränität über Königsberg nicht antasten. Die räumliche Abtrennung vom russischen Kerngebiet mache eine ökonomische Entwicklung noch dringlicher. Von traditionellen statischen Vorstellungen von Grenzen und nationaler Souveränitätät habe man sich zu verabschieden. Grenzüberschreitendes und internationales Engagement sei gefragt. Die drei Beteiligten, Rußland, Königsberg und die EU sollten sich künftig die Verantwortung für entsprechende Lösungen teilen.

Vorschläge, die im Detail oft bedenkenswert erscheinen. Die Überlegungen der EU-nahen Kreise zeigen jedoch erneut, wohin die politische Reise zukünftig gehen soll. Es geht um eine weitgehende Ausmerzung nationaler Ansprüche und Befugnisse, seien es russische oder deutsche. Historische Tatsachen werden von ihr weitgehend ausgeblendet oder auf eine geradezu bizarre Weise relativiert. Deutschland und Rußland als Hauptbeteiligte werden beide aus dem möglichen Szenario der selbständigen politischen Lösungsmöglichkeiten ausgeschaltet. Allein über- und zwischennationalen Kräften soll die Lösung der Probleme übertragen werden. Die vorgeschlagene "post-nationale" Schiene, auf der die Probleme angeblich gelöst werden sollen, wird auf Dauer jedoch wohl kaum tragen. Schon allein deshalb nicht, weil sie letztlich die Rechnung ohne den Wirt – also Rußland – macht.