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10.03.01 Henry von Heiseler: Botschafter des Ewigen

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 10. März 2001


Henry von Heiseler:
Botschafter des Ewigen
Ein Petersburger Dichter zwischen Deutschland und Rußland

Vor rund hundert Jahren, 1901 oder 1902, traf der "Dichterpriester" Stefan George in München auf einen heute völlig unbekannten "Jünger" aus St. Petersburg: Henry von Heiseler. Beide verband neben einem tiefen Gottglauben die Ablehnung der zeitgenössischen Literaturströmung des Naturalismus. Darüber hinaus empörten sie sich allgemein über den als materialistisch empfundenen Zeitgeist der Jahrhundertwende.

Doch während der "Meister" George, dem neben Friedrich Gundolf oder Karl Wolfskehl auch Schüler wie die Brüder Stauffenberg folgten, ohne die politischen Wirkungen seines ästhetischen Radikalismus kaum denkbar ist, hielt sich Heiseler von aller Politik ausdrücklich fern. Und dies, obwohl das Zeitgeschehen seine Biographie kräftig durcheinanderwirbelte. So notierte er, daß er es "nicht fertig bringe, fast alles Politische, Soziale und was damit zusammenhängt, wichtig genug zu nehmen".

Selbst hat es der 1875 geborene Sproß einer seit Generationen an der Newa ansässigen protestantischen deutschen Familie verdient, wichtig genommen zu werden und nicht als Fußnote in der Literaturgeschichte zu verschwinden. Als Übersetzer und Vermittler zwischen der russischen und deutschen Kultur war sein Tun durchaus von Bedeutung.

Die eigenen Werke allerdings fanden nur wenige Leser. Selbst Sohn Bernt (1907-69) war mit seiner dramatischen Hohenstaufen-Trilogie, dem Roman "Versöhnung" oder seinen zahlreichen Essays zu Kunst und Literatur (Kleist, Schiller etc.) deutlich populärer als der Vater.

Verwurzelt in der um 1900 etwa 50 000 Personen zählenden deutschen Bevölkerungsgruppe St. Petersburgs und großgeworden mit der Muttersprache, genoß Henry von Heiseler das Aufwachsen in einem Milieu, in dem die russische und deutsche Kultur eng miteinander verbunden waren. Außerdem gaben ihm Elternhaus, Schule und Universität gleichsam mühelos eine reiche, den Blick erweiternde Allgemeinbildung auf den Weg.

Zwischen dem Zarenreich einerseits und Deutschland und den sonstigen europäischen Staaten im Westen andererseits schien es bis zum Ersten Weltkrieg in den Augen von Heiselers keine nennenswerten geistigen Barrieren zu geben. Seine Entscheidung, nach dem Erwerb des Offizierspatents im Alter von 23 Jahren ins Deutsche Reich überzusiedeln, geschah bruchlos und brachte ihm 1903 die ersten Veröffentlichungsmöglichkeiten in Georges "Blättern für die Kunst" ein.

Regelmäßige Reisen zu seinen Eltern und Geschwistern in die nordwestrussische Heimatstadt ließen die Verbindung zum dortigen Kulturgeschehen nie abreißen. Ein im neuen Domizil in Brannenburg im oberbayerischen Inntal entstandenes Gedicht beschreibt treffend den damaligen Standort des Dichters zwischen Deutschland und Rußland: "Dann bringt der Wind mit weitgeschweiften Flügeln/Die Klänge aller Fernen an dein Ohr/Und trägt zu jenen deutschen Buchenhügeln/den vollen Ton von Moskaus Glockenchor."

Von Heiselers Dramenstoffe sind fast alle der russischen Geschichte entlehnt. Dies trifft schon für seinen Erstling "Peter und Alexéj" zu, der 1913 in Leipzig und München mit Erfolg auf die Bühne kam. Thema ist der elementare Konflikt zwischen dem westlich ausgerichteten Zaren Peter d. Gr. und dessen noch dem alten, vorpetrinischen Rußland verbundenem Sohn.

Erst der Krieg und dessen Folgen brachten die "heile Dichterwelt" zum Einsturz. Am 2. August 1914 hielt sich Henry von Heiseler gerade in St. Petersburg auf, um am Begräbnis seines Vaters teilzunehmen. Als russischer Staatsbürger wurde er in die Armee eingezogen, mußte aber nie an der Front auf seine deutschen Landsleute schießen.

Der starke christliche Glaube ließ ihn über den Tod der Mutter und Brüder hinwegkommen, doch das Kriegserleben und vor allem die erzwungene Teilnahme an den Revolutionskämpfen auf seiten der "Roten" veränderten seine Identität grundlegend.

Spätestens nachdem die Bolschewiki viel von dem zerstört hatten, was ihm an Rußland liebgewesen  war, verschob sich sein Selbstverständnis hin zum deutschen Erbteil.

Henry von Heiseler wandte sich nun entschieden gegen jedweden "ästhetischen Internationalismus" und kommentierte diesen mit den Worten: "Das ist so, als wollte ein Pferd oder Löwe sein Pferd- oder Löwentum ausschalten, um danach erst der Tierwelt anzugehören. Ich weiß, daß ich nur dann ganz Mensch sein kann, wenn ich vorher ganz Deutscher, Russe, Malaie oder Chinese bin. Dies allein hat Realität, jenes andere ist nur ein künstliches Hirngespinst."

Gesundheitlich schwer angeschlagen, kam der Dichter im Herbst 1922 nach einer halsbrecherischen Flucht vor den Sowjetkommunisten zurück ins Inntal und verstarb dort frühzeitig am 25. November 1928. Geblieben sind vor allem die vielen Übersetzungen Puschkins, Dostojewskis, Turgenjews, Lesskóws, Alexej Tolstois, Dymows, Iwánows, Sologúbs, aber auch des Engländers Swinburne und nicht zuletzt des Gesamtwerks des Iren William Butler Yeats.

Bescheiden nehmen sich demgegenüber die vergleichsweise wenigen Eigenproduktionen aus. Sie bestehen vor allem aus den Dramen

"Peter und Alexéj" (1912) und "Die magische Laterne" (1919), den Erzählungen "Der Begleiter" und "Grischa" (beide 1916), der Tragödie "Die Kinder Godunófs" (1923), seinem Hauptwerk, dem anmutigen Lyrikbändchen "Die drei Engel" (1926), den Gedichten "Die Legenden der Seele" (1933) sowie einem im Juni 1928 verfaßten Aufsatz über Stefan George anläßlich dessen 60. Geburtstags.

Die wohl persönlichste Dichtung des St. Petersburgers ist die Tragödie "Wawas Ende" (1926). Im Mittelpunkt der Handlung steht ein zarischer Offizier, der im Urlaub von roten Soldaten verhaftet wird, schuldlos im Gefängnis landet und dem Henker zum Opfer fällt.

Bis zum Tod war der Bewunderer Puschkins, Dostojewskis, Hölderlins, Kleists, Yeats‘ und natürlich Georges seiner künstlerischen Maxime treu geblieben, daß "der schöpferische Geist kein Neuerer ist, sondern ein Wiedererwecker".

In den tagebuchartigen "Marginalien" schrieb von Heiseler: "Es gab eine Zeit, da sich die Leute für ‚moderne Dichter‘ hielten, wenn sie Telegraphendrähte und Eisenbahnen, Fabriken und Maschinen in Reime brachten. Jetzt sagen sie (...) Trommelfeuer, Laufgraben, Hyäne des Kapitals, rote Fahne usw. und glauben dadurch zu Tyrtäen des Schlachtfeldes und des Sozialismus zu werden. (...) Es ist derselbe altbekannte, amusische, utilitaristische, rationelle Geist, der das Äußere, Platt-Vernünftige, Zufällige, Tägliche höher schätzt als das Innerliche, Weise, Notwendige, Ewige ."

Letzteres versuchte Henry von Heiseler zu gestalten, und zwar so, wie sein Sohn dies charakterisierte: "Etwas Schillerisches ist in seiner Art, auf die großen Kontraste, den einfachen Schwung der Linie auszugehen. Er kam mit dieser, man wird sagen dürfen: naiven dramatischen Anlage in eine Zeit, die überall in der Kunst nur die gebrochene Linie, das Problem, die Nervenprobe noch wollte und begriff, und wurde daher nicht verstanden (...)."