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10.03.01 Wie "Schutzengel" zu Kirchenräubern wurden

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 10. März 2001


Wie "Schutzengel" zu Kirchenräubern wurden
Hans-Joachim von Leesen über die wahre Geschichte der Ilmensee-Glocke

Lübeck gibt von deutschen Sol daten geraubte Kirchenglocke zurück." Unter solchen und ähnlichen Überschriften berichteten Zeitungen im Februar, daß eine in der Lübecker Katharinenkirche wieder aufgefundene etwa 60 Zentimeter hohe bronzene Glocke, die aus einer russischen Kirche stammt, der Stadt Staraja Russa südlich vom ehemaligen Leningrad zurückgegeben werde. In der von der Hansestadt Lübeck herausgegebenen "Lübecker Stadtzeitung" las man, die Glocke stamme "aus einer kleinen Holzkirche, der Kirche der heiligen Mina und wurde von Soldaten des deutschen 10. Armeekorps entdeckt und beschlagnahmt, als sie Staraja Russa zerstörten". Die Glocke trug eine Inschrift, aus der hervorging, daß sie 1672 bei dem Lübecker Glockengießer Albert Benningk hergestellt worden sei.

Wie heute in unserer Presse üblich, hatte die Berichterstattung fast überall einen die Deutschen anklagenden Unterton. Die Glocke sei nach Lübeck "verschleppt worden", besagte die Meldung der dpa. In den Lübecker Nachrichten wurde der Vorgang auf eine Stufe gestellt mit den von den Sowjets nach dem Kriege geraubten deutschen Kulturgütern. In den Kieler Nachrichten wurde erläutert, die "geraubte Glocke" sei von "der Hitler-Verwaltung" nach Lübeck gebracht worden. Hier wird der Direktor des Lübecker Museums für Kunst und Kulturgeschichte zitiert, der den Verdacht aussprach, man habe damals "ein schlechtes Gewissen" gehabt und daher die Glocke in Lübeck nicht inventarisiert.

Wie üblich fehlt bei der jetzigen Berichterstattung jeder historische Hintergrund, und die Zusammenhänge mit den Kriegsereignissen werden – sicherlich infolge mangelnder Kenntnisse – ganz und gar ausgeblendet. Immerhin wäre es für das Verständnis wichtig zu wissen, daß von den Sowjets ein permanenter Kampf gegen die Kirche geführt worden ist. Religion galt als "Opium für das Volk". Seit der Oktober-Revolution 1917 war man daher damit beschäftigt, Kirchen auszuplündern, zu zerstören oder anderen Nutzungen zuzuführen. Der russische Dozent für die Geschichte der Militärkunst an der Militärakademie St. Petersburg, Dr. Pawel Nikolaiewitsch Knyschewski, berichtet in seinem Buch "Moskaus Beute", daß von Oktober 1917 bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges über 50 000 Kirchen in der Sowjetunion von den Bolschewisten ganz oder teilweise zerstört wurden. "Ganze Wagenladungen an Abendmahlsgefäßen und Altargegenständen aus Edelmetallen und eine Unmenge theologischer Schriften wurden damals für staatliche Zwecke beschlagnahmt. Etwa eine Viertel Million Glocken wurden eingeschmolzen."

Auch die Ereignisse in den ersten Monaten des Zweiten Weltkrieges sind für die Beurteilung der Geschichte um die gefundene Glocke aus Staraja Russa von Belang. In schweren Kämpfen hatte es die deutsche Heeresgruppe Nord vom 8. Juli bis zum 9. August 1941 nach der Befreiung Litauens und Lettlands geschafft, die Stalin-Linie zu durchbrechen und bis zum Ilmensee vorzustoßen. Vom 15. bis zum 23. August wurde um Staraja Russa, eine sowohl für Sowjets als auch für die Deutschen strategisch wichtige Stadt südlich Lenin-grads, erbittert gekämpft. Nachdem die Stadt endlich eingenommen war, trat kurz darauf die Rote Armee mit der 34. Armee und Teilen der 11. Armee gegen das deutsche 10. Korps an, um Staraja Russa zurückzuerobern. Der Angriff wurde abgeschlagen. Am 19. August erfolgte der deutsche Gegenangriff des LVI. Panzerkorps, das die Sowjets hinter den Lowat zurückwarf. Staraja Russa war zwar nahezu völlig zerstört, befand sich aber in deutscher Hand. Auch ein Versuch der Roten Armee, am 8. Januar 1942 in einer Offensive in Richtung Staraja Russa den wichtigen Ort zurückzugewinnen, schlug fehl.

Der deutsche Kriegsberichter Kurt Mauch schrieb am 3. Dezember 1942 in der "Feldzeitung von der Maas bis an die Memel" über die Ereignisse um die aufgefundene Glocke. Sein Aufsatz sei auszugsweise dokumentiert. Unter der Überschrift "Eine deutsche Glocke klang am Ilmensee" schrieb er:

"Die Stadt südostwärts des Ilmensees, die zu den ältesten Ansiedlungen in der nördlichen Sowjetunion gehört, Staraja Russa, hat schwere Kämpfe gesehen. Im Sommer 1941 wurde sie von der deutschen Infanterie gestürmt. Im Winter war sie das Ziel eines großangelegten sowjetischen Offensivstoßes. Aber sie blieb fest in der Hand unserer Truppen, wenn auch heute nur noch Ruinen übriggeblieben sind. Die Sowjets beschränkten sich darauf, Tag für Tag artilleristische Grüße herüberzuschicken, aber daran war man längst gewöhnt. Wie viele Städte des alten Rußland ist auch diese Stadt eine Stadt der Kirchen. Es gibt große und kleine, massige Bauten mit vielen grünen Zwiebeltürmchen und dem großen, abseits stehenden Glockenturm, aber auch kleine Holzbauten.

In der Bolschewistenzeit arbeiteten von den dreißig Kirchen nur noch zwei, wie die Einwohner berichten. Die übrigen wurden als Garagen, Fabrikstätten und Abstellräume benutzt. Eine dieser kleineren Kirchen der alten Stadt liegt dicht hinter dem Dostojewski-Haus, der Sommerwohnung des russischen Dichters, in der er seine ,Brüder Karamasow‘ geschrieben hat.

Vom Kirchturm kann man bis zu den feindlichen Linien hinübersehen. Auf diesem baufälligen luftigen Turm fand man eine deutsche Glocke, eine schöne alte bronzene Kirchenglocke! Der Kommandeur eines Pionierbataillons hat sie entdeckt, als er den Turm auf seine Baufestigkeit prüfte. Zunächst bemerkte er eine Kirchenglocke, an der nichts Auffälliges war. Plötzlich aber sah er rings um den schön geschwungenen Rand ein Schriftband, das nicht russische, sondern lateinische Buchstaben hat und die Geschichte dieser Glocke kündete: ALBERT BENNINGK ME FECIT LUBECA ANNO 1672."

Der Kriegsberichter erinnert daran, welche unruhigen Zeiten die Glocke gesehen hat, bis die Bolschewisten an die Macht kamen, die Kirchen schlossen und die Glocke schweigen mußte. Dann schreibt er weiter: "Deutsche Soldaten weckten sie nun aus dem langen Schlaf. Der Kommandeur der schlesischen Pioniere, der selbst einmal in der alten Hansestadt Soldat war, holte seine Männer herauf und zeigte ihnen die Glocke ... An einem Sonntagvormittag vollziehen die Pioniere ein ungewohntes Werk. Ein Flaschenzug ist am Turm der alten Kirche angebracht: Die Glocke wird heruntergeholt.

Der Kommandeur der Pioniere hat beschlossen, die Lübecker Glocke an die Stelle ihrer Geburt zurückzusenden. Langsam, vorsichtig, behutsam wird die Krone aus ihrem Gehänge gehoben, langsam schwebt die Glocke vom Turm zur Erde herab. Noch einmal stehen die Pioniere und Grenadiere, Männer der Flak und Artilleristen aus den benachbarten Stellung um die seltsame Beute herum ... Gibt es ein schöneres Sinnbild für die Beständigkeit des Glaubens als dieses erzene Kunstwerk, das die Jahrhunderte überdauerte in einem verworrenen, von Gott verlassenen Land? Nun wird die Glocke an den Ort ihres Ausgangs zurückkehren. Als eine Gabe der Ostfront an die alte Hansestadt Lübeck, die im Hagel britischer Bomber viele ihrer alten Kunstdenkmäler verloren hat. Die alte Glocke vom Ilmensee kann die Wunden, die Spreng- und Brandbomben gerissen haben, nicht vergessen machen. Wohl aber ist sie ein Sinnbild für den deutschen Soldaten, der kein Landsknecht oder blindwütiger Eroberer ist, sondern ein Beschützer alter Kultur ..."

Da auch das heutzutage weitgehend verdrängt wird, sei in Erinnerung gerufen, daß im März 1942 die britische Luftwaffe die historische mittelalterliche Altstadt von Lübeck in Schutt und Asche gelegt hatte, um eine neue Taktik des Bombenkrieges zu erproben. Man hatte in Großbritannien errechnet, daß es am wirkungsvollsten sei, eng bebaute Arbeiterviertel überwiegend mit Brandbomben zu belegen, um so die größtmöglichen Zerstörungen wie auch die größmöglichen Verluste unter der Zivilbevölkerung zu erzielen. Bei dem Angriff wurden unschätzbare Kunstgüter ein Raub der Flammen. Lübeck, das einstige Haupt der Hanse, hatte sechzig Prozent seiner mittelalterlichen Bausubstanz verloren. Zerstört wurden die Marienkirche, die Kirche St. Petri und der Dom, die Kriegsstube des Rathauses und viele prachtvolle mittelalterliche Kaufmannshäuser und Speicher.

Die im fernen Rußland gefundene, in Lübeck gegossene Glocke sollte nach Meinung der Soldaten beim Wiederaufbau der Lübecker Kirchen wenigstens eine der zerstörten Glocken ersetzen. Daher schrieb am 6. Dezember 1942 der Kommandierende General des Generalkommandos X. Armeekorps an den Gauleiter von Schleswig-Holstein, Hinrich Lohse: "Sehr geehrter Herr Gauleiter! In einer Kirche der Stadt Staraja Russa, die 1941 von Truppenteilen des Gen. Kdo. nach schweren Kämpfen erobert wurde, befand sich eine Glocke, die im Jahre 1672 in Lübeck gegossen ist. Ich habe angeordnet, daß diese Glocke wieder dorthin überführt wird, von wo sie ihren Ausgang nahm, um sie vor Zerstörung durch das täglich auf der Stadt liegende Feuer zu schützen ..."

In einem Vermerk, angefertigt in Lübeck am 15. Dezember 1943, liest man: "Oberst Kreusler (Standortältester von Lübeck) hat mitgeteilt, daß das 10. Armeekorps die sog. Ilmensee-Glocke dem Oberbürgermeister der Hansestadt Lübeck zum Geschenk machen werde. Er habe den Auftrag, nach Eintreffen dieser Glocke Überreichung in die Wege zu leiten. In dem Schreiben des Kommandierenden Generals des 10. Armeekorps an den Reichskommissar Lohse ist außerdem noch zum Ausdruck gebracht worden, daß diese Glocke am ehesten später in einen der neu aufgebauten, jetzt zerstörten Lübecker Türme eingefügt würde. Wo soll die Ilmensee-Glocke bis zur endgültigen Verwendung untergebracht werden? Rathaus? "Handschriftlich wurde hinzugefügt: "Keller Heilig-Geist-Hospital".

Am 19. Januar 1943 übergab im Rahmen eines feierlichen Aktes die Wehrmacht die von ihr geborgene Glocke der Hansestadt Lübeck. Neben dem Standortältesten und weiteren Offizieren nahmen Soldaten des Lübecker Grenadier-Ersatz-Regiments 30 und des Pionier-Ausbildungs-Bataillons 30 sowie der Landshauptmann Dr. Schow, Stadträte, der Stadtbaudirektor, Ratsherren usw. teil.

Von einem angeblich "schlechten Gewissen", das heute die Stadt Lübeck in den Vorgang hineingeheimnißt, kann keine Rede sein. Und tatsächlich stellt sich die Frage, was die Soldaten, die im Winter 1942 die Glocke in den Ruinen von Staraja Russa entdeckt hatten, hätten anderes tun sollen, als sie zu bergen? Sie wäre sonst durch die Kriegshandlungen dem sicheren Untergang geweiht gewesen. Fragwürdig hingegen ist es gewesen, die Glocke der Stadt Lübeck zu übergeben mit der Auflage, sie nach dem Kriege in einer der wiederaufgebauten Kirchen zu installieren. Das widersprach in der Tat dem Völkerrecht, und so ist die Rückgabe der Glocke an die Stadt Staraja Russa auch korrekt.

Was stört, ist die in der Berichterstattung in deutschen Zeitungen durchgängige Gehässigkeit, wenn es um die Soldaten der deutschen Wehrmacht geht. Ursache ist das Vorurteil gerade bei jüngeren Zeitungsschreibern gegenüber deutschen Soldaten, die möglicherweise die Großväter eben dieser Jungredakteure sind. Und das ist nicht nur zurückzuführen auf die in den letzten Jahren systematisch betriebene Verhetzung der jungen Deutschen (man denke an die Reemtsma-Ausstellung), sondern auch durch das weitgehende Fehlen von Hintergrundinformationen über die historischen Ereignisse jener Jahrzehnte. Es bleibt, daß die Soldaten der Wehrmacht am Ilmensee eine historische Glocke vor der Vernichtung bewahrt haben.