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05.05.01 Toleranz – Preußens »Markenzeichen«

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 05. Mai 2001


Toleranz – Preußens »Markenzeichen«
Wolfgang Thüne, Stellvertretender Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen,  wurde bei seinem Israelbesuch von Johannes Gerster, Vertreter der Adenauer-Stiftung, und Max Danziger, Vereinigung der Ost- und Westpreußen und Danziger in Israel, betreut und auch vom deutschen Botschafter Dreßler empfangen. In Tel Aviv hielt Thüne eine Grundsatzrede, aus der wir die wesentlichen Passagen dokumentieren.

Auf den früheren Herkunftsort und derzeitigen Wohnsitz bezogen sind wir alles Ehemalige. Doch es gibt ein unsichtbares geistiges Band, das uns über alle Grenzen verbindet, die preußische Gesinnung, die über Jahrhunderte ganze Generationen geformt und geprägt hat. An die-se alle Preußen verbindende Ge-sinnung hat insbesondere der jüdische Religions- und Geistesge-schichtler Hans-Joachim Schoeps erinnert. Bereits in den sechziger Jahren, die von der Frankfurter Schule wie der Kulturrevolution geprägt waren, richtete Schoeps einen Appell für eine neue preußische Gesinnung an die deutsche Jugend. Charakteristisch für die damalige revolutionäre Situation war ein Höchstmaß an Intoleranz. In Anlehnung an Schoeps habe ich den Begriff Toleranz zum zentralen Punkt meiner Rede ausgewählt.

Was heißt Toleranz? Toleranz heißt laut Bertelsmann Lexikon Duldsamkeit, Duldung besonders bei weltanschaulichen Gegensätzen. Erläuternd dazu heißt es: In Europa wurde die konfessionelle Toleranz (Gewissensfreiheit) erst durch die Französische Revolution durchgesetzt. Diese war im Jahre 1789!

Als Preußen müssen wir feststellen, daß diese Bewertung nicht stimmt. Hierfür gibt es zahllose, historisch beleg- und nachweisba-re Fakten. Sie alle kennen die Geschichte der Christianisierung der Prussen wie die Entstehung des Ordensstaates. Von Toleranz war in dieser Periode nichts zu spüren. Sie entwickelte sich erst allmählich in der Phase des Niedergangs des Ordensstaates; sie war ein Gebot der Not. Diese Notsituation begann mit der Niederlage in der Schlacht von Tannenberg am 15. Juli 1410 gegen ein übermächtiges litauisch-polnisches Heer. Nach erneuten Auseinandersetzungen wurde beim Zweiten Thorner Frieden 1466 der einst so mächtige Ordensstaat geteilt. Die westlichen Gebiete – Kulmerland, Pomerellen, Marienburg, Elbing, Bistum Erland – wurden autonome Gebiete der polnischen Krone. Dem Orden verblieb nur das noch wenig entwickelte Rest-Preußen mit Königsberg als Hauptstadt.

Da deutsche Einwanderer bei dieser brisanten geopolitischen Situation ausblieben, öffnete der Orden Zuwanderern aus Maso-wien und aus Litauen das Land. Sie kamen teils als politische Flüchtlinge, teils einfach um der Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten willen. Es gab weite Landstriche, die es noch zu besiedeln und zu kultivieren galt. Alle Ansinnen, Asylanten und Flüchtlinge auszuliefern, hat schon damals der Orden strikt abgelehnt. So beginnt die Geschichte einer unvergleichlichen und zur Staatsräson erhobenen Toleranz. Nach Preußen kamen vorwiegend Menschen, welche die Freiheit der Unfreiheit in ihrer Heimat vorzogen und sich in die Ordnung des Staates einfügten. Wenn Rest-Preußen, das spätere Ostpreußen, in der Folge vorübergehend viersprachig wurde – deutsch, prußisch, polnisch-masurisch, litauisch –, so hat es doch nie nationale Gegensätze oder Unruhen gegeben. Alle Bewohner des Preußenlandes wurden schließlich zu Preußen, ohne Rücksicht auf Haussprache, Herkunft und religiöse Gesinnung.

Über den Ordensstaat gab der Historiker Fritz Gause folgendes Urteil ab: Das Ordensland Preu-ßen war einer der seltsamsten und großartigsten Staaten, die Menschengeist jemals hervorgebracht hat, zugleich kirchlich und weltlich, ritterlich und bürgerlich, deutsch und europäisch. Er war seiner Zeit verhaftet und hat Werke geschaffen, die die Jahrhunderte überdauert haben; er war in vielen Dingen ein Typus und doch mit keinem anderen Staat vergleichbar, ein Gebilde eigener Art … erwachsen aus der Gesinnung, die seinen Gründern aus ihrer Weltanschauung zum selbstverständlichen Gehalt ihres Lebens geworden war.

In Preußen gab es weder eine Sprachen- noch eine Konfessions-politik. Im Gegenteil, Preußen nahm in einer Zeit, in der es noch kein Unrecht war, Menschen um ihres Glaubens willen aus ihrer Heimat zu vertreiben, jeden Reli-gionsflüchtling auf. Einst militanter Ordensstaat, wurde Preußen zunehmend ein Land der Toleranz für alle, die eine neue Heimat in Freiheit suchten. Mit den niederländischen Calvinisten, aber insbesondere mit den Hugenotten nahm die Exulantenbewegung ihren Anfang: mit französischen Schweizern, Nassauern und Pfälzern setzte sie sich fort. In der Ansiedlung von etwa 15 000 evangelischen Salzburgern im Jahre 1732 fand sie ihren Höhepunkt. In der Zeit von 1722 bis 1726 konnten 13 neue Städte im späteren Ostpreußen angelegt werden.

Eine Mischung von religiöser Toleranz und wirtschaftlichem Vorteil führte im Jahre 1671 auch zur Wiederzulassung von Juden in Brandenburg. Diese waren von dort fast genau ein Jahrhundert zuvor vertrieben worden, als auch die Reformation einen geradezu fanatischen Charakter hatte. Im Laufe des 17. Jahrhunderts bildeten sich die preußischen Eigenarten heraus, die man als das kalvinistische Streben, die puritanische Sparsamkeit und die tolerante Rechtschaffenheit kennt. Nach Hans-Joachim Schoeps erfordert dies alles die besondere Hingabe an eine prägende Staatsidee.

Diese Idee materialisierte sich am 18. Januar 1701, als sich Kurfürst Friedrich III. als Friedrich I. in Königsberg zum König in Preußen krönte. Die Königswürde bezog sich nur auf den Teil Preußens, der außerhalb des Reichsgebietes lag. Am Tage vorher, am 17. Januar 1701, wurde der Orden des Schwarzen Adler gestiftet mit dem Wahlspruch suum cuique. Dieser bedeutet auch: Gerechtig-keit für jedermann. 1696 war die Akademie der Künste und 1700 die Akademie der Wissenschaften gegründet worden. Fast alle Zweige des gesellschaftlichen Lebens wurden von Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I. neu geregelt. Man bemühte sich, jedem das Seine zu geben! In ihrer Gesamtheit begründeten die Reformen den preußischen Lebensstil der Sauberkeit, Sparsamkeit und Rechtschaffenheit, der Treu und Redlichkeit. Friedrich Wil-helms Stärke war nicht der Ge-danke, sondern die Tat. Er war im wahrsten Sinne des Wortes ein Baumeister des Staates. Er war aber nicht nur Pragmatiker und Praktiker, sondern auch sehr um die Hebung des Bildungsstandes bemüht. Weit 100 Jahre vor allen anderen europäischen Ländern wurde 1717 in Preußen die allge-meine Schulpflicht eingeführt.

Juden hatte der Deutsche Orden nicht zugelassen. Die seit dem 16. Jahrhundert zu registrierende Einwanderung von Juden ins östliche Mitteleuropa erreichte auch das königliche Preußen. Hier hob man 1671 die Zuzugssperre auf. In Westpreußen lebten 1772 exakt 2601 Juden. Das war etwas mehr als ein Prozent der Bevölkerung. Auch dies ist ein Beweis für die ausgesprochen preußische Toleranz, die sich weit früher als in allen anderen Ländern Europas durchsetzte und zum Prinzip erhoben wurde. Sie löste bereits 1613 auf konfessioneller Ebene das Prinzip "cuius regio, eius religio" ab.

Es ist Folge dieser Geistesent-wicklung, daß Preußen maßgeblich die Aufklärung beförderte und in dem Königsberger Imma-nuel Kant den wohl größten Auf-klärungsphilosophen des Abendlandes aufzuweisen hat. Kant schrieb im Jahre 1795 die Schrift "Zum ewigen Frieden". Geistiger Wegbereiter war König Friedrich II. (1740–1786), der, kaum auf dem Thron, getreu seinen Aufklärungsidealen die Glaubens- und Gewissensfreiheit seiner Untertanen bekräftigte. Vorher hatte er am 5. Februar 1794 das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten verkündet und die Fundamente für einen Rechtsstaat gelegt. Nach der weitgehenden Durchsetzung der religiösen Toleranz und der Zementierung des Rechtsstaatsgedankens in Zentraleuropa sah Kant eine andere Gefahr heraufziehen, die Gefahr der nationalen Intoleranzen. Diese wollte er mit dem Prinzip eines allgemein gültigen Völkerrechts rechtzeitig bändigen.

Reformfähigkeit und Reformwilligkeit bewies Preußen auch nach seiner verheerenden Niederlage gegen Napoleon im Jahre 1807. Unter den großen Reformgesetzen waren nicht nur die Bauernbefreiung, die Einführung der Berufs- und Gewerbefreiheit, die Städteordnung, sondern auch die Judenemanzipation. Ich möchte nur zwei hervorra- gende Vertreter des Königsberger Judentums erwähnen: Dr. Johannes Jacoby (1805–1877), Arzt und liberaler Politiker, sowie Eduard von Simson (1810–1899), Professor der Rechtswissenschaft an der Königsberger Albertina und liberaler Politiker. Von Simson war Präsident der Frankfurter Nationalversammlung und des Norddeutschen Reichstags. Die Provinz Ostpreußen war in den Jahren vor 1848 ein Vortrupp und Hort des Liberalismus. Wir Ostpreußen können stolz sein, solche Männer in unserer Ahnengalerie zu wissen.

Der Soziologe Max Weber rühmte an Preußen die innerweltliche Askese. Er sprach von einer Schicksalsstunde des Hauses Brandenburg, als es 1613 die reformierte calvinistische Konfession annahm und damit 176 Jahre vor der Französischen Revolution im Jahre 1789 das Toleranzprinzip anerkannte. Als preußische Besonderheiten führt Max Weber auf:

– die protestantisch-bürgerliche Arbeitsmoral,

– das nüchterne Nützlichkeitsdenken,

– den rationalen Organisationsgeist,

– die berechnende Wirtschaftslenkung,

– den praktischen Reformgeist.

Kehren wir nochmals zu Hans-Joachim Schöps zurück. Er machte sich in den sechziger Jahren ernsthafte Sorgen um die Jugend. Den Wortführern der Außerparlamentarischen Opposition kreidete er an, daß sie als pseudomarxistische Sektierer linke Faschisten sind und das Werk der Reaktion betreiben. Schoeps wirbt für die preußische Idee: Sie habe nichts Rauschhaftes an sich, denn über dem Preußentum lache nicht die Sonne des Südens, sondern es sei stets in die rauhe Luft der Pflichterfüllung eingetaucht gewesen. Über den preußischen Menschen steht der dauernde Zwang zur Leistung als harte sittliche Bewährungsprobe. Staatsdienst in Preußen war immer auch ein Stück Selbstverleugnung, aber das gehörte zur Idee und wurde als sittliche Leistung angesehen. Schoeps hat uns 1963 in seiner Schrift "Konservative Erneuerung" sein Vermächtnis hinterlassen, doch die Kulturrevolution rollte darüber hinweg.

Hans-Joachim Schoeps ging es insbesondere um die Bildung der Jugend. Sein Erziehungs- und Menschenbild umreißt er wie folgt: Nicht der Mensch titanischer Hybris, aber auch nicht der durch Nivellierung und Vermassung degradierte Mensch, sondern der wirkliche, der wesentliche Mensch, der für seine Handlungen und Schöpfungen auch die volle Verantwortung übernimmt. Mit dem Talmudtraktat Sprüche der Väter IV,3 möchte ich in Ahnlehnung an Schoeps schließen:

Denke nicht gering, von keinem Ding, denn jedes Ding hat seine Stunde, und jeder Mensch hat eine Zukunft.