25.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
26.05.01 Ergänzungen zum Lebensgang eines Literaturkritikers aus der polnischsprachigen Zeitung »Samo Zycie«

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 26. Mai 2001


Zeitgeschichte:
Kommissar Marcel
Ergänzungen zum Lebensgang eines Literaturkritikers aus der polnischsprachigen Zeitung »Samo Zycie«
von Krzysztof Karwat

Ich wurde Kommunist aus Dankbarkeit, denn dies erweckte bei mir den Schein, daß jetzt ein gerechter, von Antisemitismus freier polnischer Staat entstehen könnte", schrieb nach Jahren Marcel Reich-Ranicki, der sich in Deutschland einer nahezu offiziellen Wertschätzung als ‚Literaturpapst‘ erfreut.

Sein Buch "Mein Leben" (das jetzt auch in Polen verlegt wurde) ist in Deutschland ein Bestseller und mit einer Auflage von nahezu einer halben Million erschienen, aber es beinhaltet nicht viel von seiner Tätigkeit in Kattowitz und seinem Job in der dortigen Stasi, also im Amt für öffentliche Sicherheit. Es kann aber überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß er ein hoher Funktionär des Unterdrückungsapparates war. Möglicherweise war er gar Stellvertreter seines Chefs, Oberst Jurkowski, der später auch Polen verließ und möglicherweise bis heute im schwedischen Uppsala lebt.

Die Tatsachen über die Vergangenheit Reich-Ranickis wurden erst nach dem Abriß der Berliner Mauer bekannt. Das war damals eine politische Sensation, und die zahlreichen Gegner des berühmten Kritikers meldeten sich, obwohl es nicht gelang, alle Geheimnisse seines Lebenslaufes zu lüften ...

Jedoch bestätigte Reich-Ranicki einige Einzelheiten, die seine politische Biographie anbelangen, aber er war ansonsten der Meinung, daß er sich keine Asche auf sein Haupt zu schütten brauche, zumal er ja keinem ein Leid zugefügt hätte und daß damals viele, darunter auch er, an die friedliche Mission Stalins glaubten. Er hätte besonders gute Gründe dafür gehabt, um so gewesen zu sein. Trotz einiger Attacken blieb seine Position bis heute gefestigt, und sogar sein Streit mit Günter Grass schwächte ihn nicht ...

Ranicki war Ende der 40er Jahre im polnischen Konsulat in Großbritannien tätig, obwohl das nur eine Tarnung für eine nachrichtendienstliche Spionagetätigkeit war. Das war die Zeit, da viele Soldaten der polnischen Heimatarmee nach Polen zurückkehrten und London die Zentrale des polnischen politischen Exils war. Hat die späte Berühmtheit der deutschen Literatur hier eine gewichtige Rolle gespielt?

Zu Beginn der 90er Jahre erzählte mir eine deutsche Korrespondentin, daß sich ein Sturm über dem Kopf Reich-Ranickis zusammenbraue. Sie besuchte mich in der Kattowitzer Redaktion, in der Hoffnung, daß ich da einige "Papierchen" über ihn habe oder ihr Wege zeigen, wie man an solche herankommen könne. Ich erinnere mich daran, daß diese Journalistin geradezu im Flüsterton mit mir sprach, so, als ob sie befürchte, daß ihre Recherchen bekannt werden und sie jemand sogar am Rhein hören könnte.

Nun, die geradezu allmächtige Position dieses Kritikers gebot ihr, Vorsicht walten zu lassen.

Der Verfasser führt dies auf die "delikaten" deutsch-jüdischen Beziehungen zurück. Davon konnte ich mich selbst überzeugen, als er an einem deutsch-polnischen Symposium teilnahm ...

Dann habe er mit Andrzej Szczypiorski gesprochen, der in Deutschland eine enorme Karriere gemacht hat. "Der sei ihm bei Nachfragen in Sachen Reich-Ranicki ausgewichen. Der Autor erinnert daran, daß Szczypiorski auch in Kattowitz lebte, als dort Reich-Ranicki residierte, obwohl sie sich vermutlich persönlich nicht kannten. Der Autor erinnert ferner an die vielen Artikel von Reich-Ranicki im KP-Organ "Trybuna Ludu". "Man sagte schon damals, was er schrieb, sei Pflichtlektüre für Polens Germanisten gewesen."

Unlängst traf ich den 71jährigen Pawel Pogodala, gebürtig aus Oberschlesien, der seit einigen Jahrzehnten in der Bundesrepublik lebt, jedoch ein eifriger Leser all dessen ist, was die zeitgenössische Geschichte Oberschlesiens betrifft.

Pogodala wies den Autor darauf hin, daß jeder in Deutschland den Marcel Reich-Ranicki kenne. "Ich habe aber lange nicht seine Person in Verbindung mit der Person des ‚Kommissar Marcel‘ (,Kommissar‘ war als Begriff in Polen negativ mit dem sowjetischen Kommissar besetzt, Anm. d. Ü.) gebracht. Denn so nannten wir ihn damals. Es dauerte aber lange, bis ich im Fernsehen sein Foto als Jüngling sah – da erblaßte ich sogar. Meine Frau dachte, daß etwas Negatives mit meinem Herzen los sei. Sie müssen wissen, daß ich ein enormes Sehgedächtnis besitze, zumal ich lange Zeit ein international anerkannter Experte war, wenn es um Ausstellungen exotischer Vögel ging. Und ich erkenne und unterscheide auch exakt Menschen."

Seitdem verfolgt Pogodala alles, was zum Thema Reich-Ranicki erscheint. Er versuchte auch irgend etwas zu finden, was jene frühere Epoche betrifft, aber das einzige "Papier" war das Entlassungszeugnis, das der einstige Einwohner von Ruda/OS besitzt, das es aber in sich hat. Auf der Rückseite ist der handschriftliche Vermerk, daß er im Falle eines Widerspruchs sich im UB-Gebäude (UB = Sicherheitsamt) an der Powstanców-Straße in Kattowitz zu melden habe. Außer der Uhrzeit und des Wochentages sind da zwei Kommissar-Namen vermerkt: Ranicki und Marek. ("Auf den zweiten Namen traf ich, als ich in Sachen des Zwangsarbeitslagers in Schwientlochlowitz-Zgoda recherchierte".) Deses Dokument attestierte, daß der künftige Literaturkritiker noch im UB im Jahre 1954 tätig war.

Pogodala hat kein Vertrauen zu dem, was Reich-Ranicki über die polnischen Episoden in seiner Biographie sagt und schreibt. Andererseits nimmt der Kritiker ungern zu politischen Themen Stellung, und wiederholt permanent, daß seine Welt die Welt der Literatur sei. Man solle ihn nur über literarische Themen befragen.

Wir haben zu wenige Angaben darüber, die es erlauben würden, eine grundlegende Revision des polnischen Teils der Biographie durchzuführen. Man weiß nur, daß Reich-Ranicki in Polen in Wloclawek geboren wurde, dann mit seinen Eltern nach Deutschland emigrierte. 1938 wurde er von dort ausgewiesen und wechselte abermals nach Polen. Wie durch ein Wunder entging er dem Tode, doch die Faschisten schonten seine Familie nicht. Er war im Warschauer Ghetto und verdankt sein Leben einem polnischen Arbeiter, der ihn und seine Frau versteckte, so heißt es.

Es scheint aber sicher, daß er als Funktionär des Kattowitzer UB sich nicht nur mit Verlags- und Zensurfragen befaßte. Im Mai 1945, in dem Pogodala sich 12 Tage im Lager Myslowitz befand, hat er Ranicki dort in Uniform gesehen. Danach im Umfeld des Arbeitslagers, das bei der Grube "Walenty-Wawel" in Ruda/OS gebaut wurde. Ranicki sollte damals der Chef der "Arbeiter-Industriewacht" (Industriemiliz) gewesen sein.

"Ich mußte damals dort täglich zur Arbeit gehen, quer durchs Lager und zu verschiedenen Tageszeiten", erinnert sich Pogodala ...

In der Hütte "Pokój" habe ich übrigens den Kommissar Marceli Reich zum ersten Mal gesehen, das war der 17. Februar 1945. An dieses Datum erinnere ich mich deswegen, weil damals Aleksander Zawadzki (General und Woi-wode von Oberschlesien, von Polens antikommunistischer Op- position als "Beria von Oberschlesien" bezeichnet, Anm.d.Ü.), später Staatsratsvorsitzender kam, um bei der ersten Rohstahlschmelze dabei zu sein. Ihm assistierte damals ein Offizier, dessen charakteristische schwarze Locken aus der Mütze herausquollen: Das war Ranicki …"

(Der Autor Krzysztof Karwat ist Journalist des Kattowitzer "Dziennik Zachodni". Die Übersetzung besorgte Magister Joachim Georg Görlich.)

 

Ende Oktober 1958 wurde auf einer Tagung der "Gruppe 47" der später als Literaturkritiker bekanntgewordene Marcel Reich-Ranicki von Günter Grass befragt: "Was sind Sie denn nun eigentlich – ein Pole, ein Deutscher – oder wie?" Reich-Ranicki soll geanwortet haben: "Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude." So sehr diese Antwort für den Augenblick genügen mochte, so wenig gibt sie Aufschluß über den tatschlichen Verlauf des Lebensganges des seit 1993 erheblich ins Zwielicht gerückten Literaten. Nachdem Reich-Ranicki zunächst stufenweise einräumen mußte, daß er nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in fragwürdiger Position als Offizier des kommunistischen polnischen Sicherheitsdienstes im Gewand eines Konsuls in der Warschauer Botschaft in London tätig war, rückte alsbald auch seine Mitgliedschaft in der polnischen Kommunistischen Partei in den Mittelpunkt des Interesses. Nachdem er kurzzeitig aus der Partei wegen "ideologischer Fremdheit" ausgeschlossen worden war – er hatte seinem Schwager, einem Trotzkisten, der in London lebte, eigenmächtig ein Visum erteilt –, buhlte er emsig um erneute Mitgliedschaft. Die wurde ihm jedoch zunächst noch verweigert, da er seine Genossen über seine Tätigkeit im Warschauer Ghetto nicht korrekt informiert hatte. Hatte er zunächst angegeben, nur auf "einem untergeordneten Kanzleiposten" beschäftigt gewesen zu sein, so kam nunmehr seine Tätigkeit als Chefdolmetscher des Ghettos in Warschau zur Sprache. Zudem unterstellten ihm die Genossen, wie der nationalpolnische Schriftsteller Krzysztof Starzynski in seinem im Brandenburgischen Verlagshaus erschienenen Buch "Doppelagent zwischen Diensten, Diplomaten und Dementis" berichtet, er sei angeblich an einem Überfall auf die Kasse des Judenrates beteiligt gewesen. Immerhin waren die Kommunisten nachsichtig, er durfte Hauptmann der Reserve bleiben und als Lektor im Militärverlag arbeiten. Im Februar 1957 wurde sein Flehen erhört, er erhielt sein Parteibuch zurück, doch 1958 tauchte er bereits in Westdeutschland auf, wo alsbald sein Aufstieg als Kritiker begann. Nachfolgend bringen wir einen nur geringfügig gekürzten Beitrag aus der polnischsprachigen Zeitung "Samo Zycie", Nr 9 vom Mai 2001, in der der aus Oberschlesien stammende Pawel Pogodala über seine Erinnerungen an Reich-Ranicki berichtet, die eine nicht unwichtige Ergänzung des immer noch unklaren Lebensweges des weiterhin uneingeschränkt als Kritiker Tätigen darstellen.