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09.06.01 Südliches Ostpreußen: Eine Region gerät zusehends ins Abseits

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 09. Juni 2001


Südliches Ostpreußen:
Eine Region gerät zusehends ins Abseits
Die Überwindung der Strukturschwäche ist nicht zum Nulltarif zu haben
von Brigitte Jäger-Dabek

Der Boom scheint Allenstein aus allen Nähten platzen zu lassen, Siedlungen, die einst am Stadtrand lagen, werden fast erdrückt von den Hoch-häusern, die ringsum wie Pilze aus dem Boden wachsen. Die Innenstadt wird immer schnieker, immer mehr schicke Läden für die neuen Reichen werden eröffnet.

Also geht es dem südlichen Ostpreußen doch gut? Weit gefehlt, der Aufschwung ist nie über Allenstein hinausgekommen, Stadt und Land driften immer weiter auseinander, und je weiter man sich von Allenstein entfernt oder sich der polnisch-russischen Grenze zum Königsberger Gebiet nähert, desto trüber wird die Lage. Werden in der gesamten Wojewodschaft noch 75 Prozent des gesamtpolnischen Lebensstandards erreicht, sind es dort noch gerade 50 Prozent.

Daß deutsche Zeitungen sich mit der Misere des südlichen Ostpreußen befassen, ist man dort gewohnt, wenn jetzt aber auch noch Journalisten aus dritten Staaten das "Armenhaus" des Landes entdecken, dann erregt das Aufsehen in Allenstein, besonders wenn es sich dabei unter anderem um so renommierte Blätter wie die "Neue Zürcher Zeitung" handelt.

Man braucht nur einmal durch die Wojewodschaft zu fahren, schon wird es augenfällig, verträumte Naturlandschaft hin, Idylle her, wenn man genauer hinsieht, bemerkt man den zu-nehmenden Verfall der Dörfer, kann die immer größeren brachliegenden Flächen nicht mehr übersehen. Der Unterschied zur Hochglanzstadt Allenstein wächst proportional zur Entfernung von ihr.

Einigen Dörfern geht es sichtbar besser, dort, wo ein Ort malerisch an einem See gelegen ist, kaufen sich immer mehr Reiche ein, vor allem Warschauer. Der Ausver-kauf der Dörfer hat längst begonnen, lange bevor EU-Ausländer, vor denen man sich doch so fürchtet, die Filetstücke erwerben konnten.

Dabei kann es ziemlich egal sein, ob sich Polen oder etwa Deutsche dort ein Ferienhaus bauen. Zwar kommt dadurch etwas Geld ins Dorf, für einen Aufschwung kann das aber nicht rei-chen, dazu müßten diese Dörfer entweder touristisch erschlossen werden, oder es bedürfte anderer, nachhaltiger Entwicklung mit arbeitsmarktwirksamen Investitionen.

Genau das aber liegt nicht im Interesse der Neubürger dieser Dörfer. Die meisten alten Dorfbewohner greifen hoffnungsvoll nach diesem Strohhalm, wie zum Beispiel in Groß Buchwalde, einem 300-Seelen-Dorf im Kreis Allenstein, wo sich viel Prominenz angesiedelt hat. Von einigen polnischen Fernsehgrößen und Schauspielern über Nationalbankpräsident und Ex-Vize- premier Leszek Balcerowicz, Finanzminister Bauc bis hin zu Ludgarda Buzek, der Frau des amtierenden polnischen Premierministers, reicht die Liste der prominenten Neubürger.

Zumindest wo sich solche Prominenz im Ort einkauft, fällt schon einmal eine publikums-wirksam überreichte Spende für die alte Dorfgemeinschaft ab. Einen Effekt auf den ländlichen Arbeitsmarkt hingegen hat all das nicht. Insgesamt wird die Lage auf dem Arbeitsmarkt immer dramatischer, am schlimmsten ist die Situation in den Kreisen an der Grenze zum Königsberger Gebiet. Den Vogel schießt der Kreis Bartenstein mit 33,4 Prozent ab, dicht gefolgt von Treuburg – Goldap mit 32,2 Prozent und Braunsberg mit 32,1 Prozent, dabei gibt es durchaus Orte mit mehr als 50 Prozent Arbeitslosen (alle Zahlen: Statistisches Hauptamt GUS, Warschau). Mehr als 80 Prozent der Arbeitslosen haben seit mehr als einem Jahr keine Arbeit mehr und bekommen daher nur noch Sozialhilfe.

Grund für diese katastrophale Lage ist die Strukturschwäche der Region. Der Prozentsatz der kollektivierten Fläche war hier besonders groß, fast alle 40 000 Arbeitsplätze auf den Staatsgütern PGR fielen ersatzlos weg. Nirgends in Polen ist die Zahl der in der Landwirtschaft tätigen Menschen höher, die Höfe mit durchschnittlich knapp sieben Hektar nirgends so klein, die Produkti-onskosten nirgends so hoch – überleben unmöglich. Die übrigen Beschäftigten arbeiten fast aus-schließlich in lebensmittelverarbeitenden Betrieben und in der Möbelproduktion, Industrie gibt es nicht.

Das einzige, was die Allenstei-ner Wojewodschaftsregierung da-gegen tun kann, ist, Programme zu entwickeln. Bezahlt werden müßten die allerdings auf Kreis-ebene, denn die Wojewodschaft hat kaum eigenes Geld. Schuld daran ist die halbherzige Gebiets-reform, die zwar neue Verwaltungsstrukturen schuf, den neuen Wojewodschaften aber nicht das Recht auf eigene Steuereinnahmen ermöglichte, wie unsere Bundesländer sie haben. Die Woje-wodschaft hängt damit völlig am Tropf einer Regierung, die der Region die kalte Schulter zeigt.

Tourismus könnte ein Ausweg sein. Zwar konnte das Sinken der Touristenzahlen verlangsamt werden, aber der Stand der Jahre 1997 bis 1998, als man sich schon am Beginn eines großen Booms sah, konnten bei weitem nicht wieder erreicht werden.

Von Touristikern der Region wird dafür gern dem Wetter die Schuld gegeben, aber das ist nichts als Schönrederei. Die Urlaubsindustrie ist weltweit immer noch die Zuwachsbranche par excellence, und selbst Länder wie die Niederlande (5,3 Prozent) und Irland (7,4 Prozent) konnten laut Welttourismusorganisation kräftige Zuwachsraten erzielen, obwohl sie bekanntlich nicht am Mittelmeer liegen.

Nach Polen hingegen kam allein eine Viertelmillion deutscher Touristen weniger, die nach Angaben des polnischen Magazins "Wprost" rasant steigende Preise, unsichere Straßen, Schmutz und Autodiebstähle fürchten. Weil ähnliches auch auf Touristen aus Skandinavien und den Benelux-Ländern zutrifft, ist es nicht verwunderlich, daß die Einnahmen der Reisebranche im vergangenen Jahr um 22 Prozent fielen.

Man buhlt nach wie vor mit Hochglanzbroschüren um die Gunst ausländischer Touristen, aber sind sie einmal im Land, interessiert sich niemand mehr für sie. Von rund viertausend Touristikbüros organisieren gerade mal hundert Programme für ausländische Reisende. Hierin sieht auch Wojewodschaftsmarschall Andrzej Rynski das große hausgemachte Problem.

Unter den Reisenden im südlichen Ostpreußen stellen längst die Russen die größte Gruppe, gefolgt von den Deutschen. Was die Russen aus dem Königsberger Gebiet betrifft, gebe es im ganzen grenznahen Gebiet kaum touristische Infrastruktur, die Gegend sei ein weißer Fleck auf der Touristikkarte, erklärte Rynski der polnischen Zeitung "Gazeta Wyborcza". Den Wandel bei den deutschen Touristen habe die Region glatt verschlafen. Nicht mehr die "Heimwehtouristen" stellten die Mehrheit, sondern der deutsche Durchschnittstourist sei ein Vierzigjähriger und wolle unterhalten werden, aber kein Mensch kümmere sich um ihn, liest Rynski seinen Landsleuten die Leviten.

Es stellt sich die Frage, was den Menschen vor allem in den Grenzregionen derzeit als Erwerbsquelle bleibt, wenn nicht einmal die Tourismusbranche Arbeitsplätze verspricht. Die Ant-wort ist einfach: die Schattenwirtschaft. In einem wirtschaftlich völlig daniederliegenden Gebiet ist der freie Grenzverkehr mit dem Königsberger Gebiet der einzige Ausweg und ein Überdruckventil zur Vermeidung sozialer Spannungen. Das wiegt auch für die polnische Regie- rung schwerer als der Steuerausfall.

Selbst Andrzej Rynski gibt der Schweizer Zeitung "Der Bund" gegenüber zu, daß der Schmuggel von Wodka, Zigaretten und Brennstoffen für viele Menschen der Grenzkreise die einzige Ver-dienstmöglichkeit sei. Er bestätigt, daß Zehntausende auf beiden Seiten der Grenze überwiegend davon leben, oft mehrmals täglich Waren über die Grenze zu schaffen, um am Verkauf zu verdienen. Für diese "Ameisen" genannten illegalen Kleinhändler ist die offene Grenze von existentieller Bedeutung.

Aber nicht nur die Händler selbst, fast alle Bewohner der grenznahen Gebiete profitieren von dieser Schattenwirtschaft, stellte die "Gazeta Wyborcza" nach einer Recherchereise durch die Region fest. Kaum ein Bauer, dessen Trecker nicht mit russi-schem Diesel fährt, kaum jemand, der etwas anderes als russischen Wodka trinkt oder keine russi-schen Zigaretten raucht.

Sogar polnische Ladeninhaber sind zufrieden mit der russischen Kundschaft, die so manchen ge-rade verdienten Zloty am Ort wieder ausgibt für Waren, die drüben unbezahlbar sind. Jeder hat seinen Russen, der die bestellte Ware ins Haus liefert, resümiert die "Gazeta Wyborcza". Längst wird auf diese Art mehr umgesetzt als auf den sichtbaren Russenmärkten.

An den Grenzübergängen in Ostpreußen herrscht längst ein gesetzloser Zustand mit men-schenunwürdigen Praktiken, er-träglich nur für diejenigen, die Bekanntschaft an den richtigen Stellen haben, oder genug Geld für die erpreßten Zwangsgelder. Die Lage scheint außer Kontrolle, wie will man den russischen Beamten diese Einnahmequelle entziehen? Wie oft will man auf polnischer Seite in Beisleiden die gesamte Zoll-Belegschaft austauschen?

Eine Kehrseite der allseits tolerierten Schattenwirtschaft ist der schleichende Werteverfall, den das Leben im rechtsfreien Raum mit sich bringt. Ein Unrechtsbewußtsein ist jedenfalls sowohl bei den schmuggelnden "Ameisen" als auch bei den kassierenden Beamten restlos abhanden gekommen in diesem Sumpf von Korruption.

Nun soll ja sowieso bald alles ein Ende haben, im Herbst will Polen die Visumpflicht für russi-sche Bürger einführen und beginnen, die Grenze dichtzumachen. Was soll dann aus der Grenzregion werden? Nackte Existenz-angst macht sich breit vor einem neuen Eisernen Vorhang quer durch Ostpreußen. Es bleibt mehr als fraglich, wie man sich das vorstellt, wie man vor allen Dingen die Grüne Grenze schließen will. Die EU kümmerte sich kürzlich unter großem Rauschen im Medienwald um die Lage in Königsberg, um die Menschen auf der polnischen Seite der Grenze hat sich offenkundig noch niemand große Gedanken gemacht.

Spätestens zum Beitritt Polens soll die abgeschottete EU-Außengrenze endgültig durchgesetzt werden – aber vielleicht ist Schengen in diesem Umfeld ja doch eine Illusion. Alles was bleibt, ist die Hoffnung auf mehr als die jährlichen zehn Millionen Euro Brüsseler Strukturhilfe und ein Begreifen in Warschau, daß man diese Region nicht einfach sich selbst überlassen kann, denn Aufschwung zum Nulltarif gibt es auch in Ostpreußen nicht.