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09.06.01 Hans-Peter Uhl zur Zwangsarbeiter-Problematik

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 09. Juni 2001


»Nicht aufrechnen, aber erinnern!«
Hans-Peter Uhl zur Zwangsarbeiter-Problematik

Der Weg für die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter ist nun frei. Nachdem die Sammelklagen in den USA abgewiesen wurden und die Frage der Rechtssicherheit im Bundestag – mit der Feststellung ausreichender Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen am 30. Mai 2001 – geklärt wurde, kommt das Stiftungsgesetz in Gestalt von Auszahlungen zur Anwendung.

Zu Recht trägt die Stiftung den Titel "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft", denn ohne Erinnerung und Übernahme der Verantwortung für das Geschehene kann es keine gedeihliche Zukunft geben, kein friedliches Miteinander unter Nachbarn. Wir beweisen durch sie erneut unsere Verantwortung vor der historischen Wahrheit. Der deutsche Staat und die deutsche Wirtschaft wollen mit dieser Stiftung die bereits geleisteten Wiedergutmachungszahlungen noch einmal ergänzen, um dadurch ein Zeichen der Versöhnung zu setzen. Das Wachhalten der Erinnerung an das vergangene Leid darf aber auch nicht dazu führen, daß das Erinnern zur alleinigen Verpflichtung der Deutschen wird. Die richtige Erinnerung darf nicht bei unserer schonungslosen Aufdeckung von Verbrechen durch die Nazi-Herrschaft stehenbleiben:

– Der Verbrechen der Deutschen wird gedacht.

– Aber die Verbrechen an Deutschen werden ausgeblendet.

Ohne jede Aufrechnungsabsicht muß festgestellt werden: Das Unrecht des Naziregimes hat letztlich auch das Unrecht an vielen Deutschen ausgelöst. Aber ein Unrecht kann das andere Unrecht niemals rechtfertigen. Es kann kein Aufrechnen geben. Weder für uns noch für andere. Erinnern kann nicht teilbar sein!

Es darf zu keiner ewigen Stigmatisierung der Deutschen kommen. Sonst bedeutete das: Deutsche dürfen ihre Verbrechen nicht aufrechnen. Wohl aber dürfen Verbrechen, die an Deutschen begangen wurden, mit dem NS-Unrecht aufgewogen werden.

Der jüdische Deutsche Hans-Georg Adler, der während des Zweiten Weltkriegs in Theresienstadt inhaftiert war, schilderte die Verhältnisse im ehemaligen KZ im Jahre 1946, also nach Kriegsende, so: "Bestimmt gab es unter ihnen welche, die sich in den Besatzungsjahren manches haben zuschulden kommen lassen, aber die Mehrzahl, darunter viele Kinder und Halbwüchsige, wurden bloß eingesperrt, weil sie Deutsche waren. Nur weil sie Deutsche waren? Der Satz klingt erschreckend bekannt; man hatte bloß das Wort Juden mit Deutsche vertauscht. Die Menschen wurden elend ernährt, mißhandelt, und es ist ihnen um nichts besser ergangen, als man es von deutschen Konzentrationslagern her gewohnt war."

Wir müssen auch an das Folgende erinnern: In einem von 1255 polnischen Arbeits- und Deportationslagern kamen beispielsweise von 8064 Insassen 6488 ums Leben. Darunter waren auch 628 Kinder, die wirklich nichts für Hitlers Herrschaft konnten. Viele der Zwangsarbeiter ließ man verhungern, prügelte man zu Tode oder erschoß sie. Wer nicht arbeiten konnte, wurde ermordet.

Wir müssen auch daran erinnern: In der Tschechoslowakei gab es 2061 Arbeits-, Straf- und Internierungslager, in Jugoslawien 1562. In Jugoslawien wurde zwischen Arbeitslagern und Lagern für Arbeitsunfähige unterschieden. In diesen letzteren Lagern wurden die Menschen systematisch vernichtet. Im größten jugoslawischen Vernichtungslager, Rudolfsgnad, sind von 33 000 deutschen Insassen 9503 umgebracht worden, darunter 491 Kinder unter 14 Jahren.

Wir müssen auch erinnern an die 700 000 deutschen Zivilisten darunter viele Frauen und Kinder, die nach 1945 zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert wurden. Hunderttausende von deutschen Kriegsgefangenen mußten sich völkerrechtswidrig in Sibirien bis Mitte der 50er Jahre zu Tode schuften.

Weit über zwei Millionen Deutsche sind nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch Vertreibung, Internierung und Zwangsarbeit zu Tode gekommen.

Alles dies geschah übrigens in demselben Zeitraum, als in den Nürnberger Prozessen gegen Nazi-Größen Todesurteile wegen Deportation, Zwangsarbeit und Vernichtung ausgesprochen wurden.

Verantwortung beginnt mit der Wahrhaftigkeit, und sie endet mit ihr. Ob Christ, ob Jude oder Atheist, ob Pole, Russe oder Deutscher: Was man ihnen in den Arbeitslagern des Zweiten Weltkriegs und danach antat, waren Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Der englische Berichterstatter Bashford schrieb bereits im Sommer 1945 an das englische Außenamt: "Die Konzentrationslager sind nicht aufgehoben, sondern von den neuen Besitzern übernommen worden. (...) In Swientochlowice [Oberschlesien] müssen Gefangene, die nicht verhungern oder zu Tode geprügelt werden, Nacht für Nacht bis zum Hals im kalten Wasser stehen, bis sie sterben. In Breslau gibt es Keller, aus denen Tag und Nacht die Schreie der Opfer dringen."

In einem Bericht an den amerikanischen Senat vom 28. August 1945 heißt es: "Man hätte erwarten dürfen, daß nach der Entdek-kung der Scheußlichkeiten, die sich in den Konzentrationslagern der Nazis ereigneten, niemals wieder derartiges geschehen würde; das aber scheint leider nicht so zu sein."

Der Philosoph Bertrand Russell schrieb am 19. Oktober 1945 an die Londoner "Times": "In Osteuropa ... hat [man] ganz offensichtlich die Absicht, viele Millionen Deutsche auszulöschen, nicht durch Gas, sondern dadurch, daß man ihnen ihr Zuhause und ihre Nahrung nimmt und sie einem langen schmerzhaften Hungertod ausliefert."

So wie das Erinnern unteilbar und Leid nicht teilbar ist, so ist auch die Verantwortung für Verbrechen nicht teilbar. Willy Brandt kniete in Auschwitz. Roman Herzog bat im Warschauer Ghetto um Vergebung. Deutsche haben sich zu Recht für deutsche Untaten immer wieder entschuldigt und um Vergebung gebeten. Wir vermissen aber, daß auch die Gegner von einst sich ihrer Verantwortung stellen. Eine wahre Aussöhnung kann es aber nicht geben, wenn das Leid des einen anerkannt und das des anderen geleugnet wird.

Wer sich nicht erinnert und damit die eigene Verantwortung leugnet, der sät die Blumen des Bösen: Auf dieser Saat der Selbstgerechtigkeit blüht keine Zukunft und gedeiht keine gute Nachbarschaft in Europa.

In unserer Fraktionserklärung zur Abstimmung im Juli des vergangenen Jahres forderten wir diejenigen Staaten auf, "die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Deutsche verschleppt und unter unmenschlichen Bedingungen zur Arbeit gezwungen haben, den noch lebenden deutschen Opfern eine der deutschen Regelung zur Zwangsarbeiterfrage entsprechende Entschädigung in Form einer humanitären Geste zu gewähren".

Wer dies verweigert, mit der Begründung, daß das deutsche Leid auf das Konto der Nazis gehe, vergißt zweierlei: Zum einen war der Zweite Weltkrieg zu Ende. Zum anderen wurden diese Verbrechen an zumeist unschuldigen Zivilisten begangen. Wir wollen nur, daß die Prinzipien der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit für alle Menschen, d. h. auch für Deutsche, gelten.

Die Geschichte kennt keinen Schlußstrich: Verantwortung für die Zukunft bedeutet deshalb, daß wir die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus fortführen werden. Wohl aber muß es für die Menschen in diesem Lande die Gewißheit geben, daß die materiellen Wiedergutmachungsleistungen irgendwann ein Ende nehmen. Denn über 70 Prozent aller heute lebenden Deutschen sind nach 1945 geboren.

Erinnerung, Verantwortung, Zukunft – dieser Titel der Stiftung ist Ausdruck des deutschen Bemühens um Versöhnung und materiellen Ausgleich für das von deutscher Seite verursachte Leid. Über ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs muß es aber auch für Deutsche eine historische Gerechtigkeit geben. Wir fordern nicht mehr und nicht weniger als diese Gerechtigkeit.

Wir Deutsche werden das Leid, das unsere Vorväter anderen angetan haben, nicht vergessen. Nur mit Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit schaffen wir Vertrauen.

Nur mit Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit schaffen wir eine wahre Versöhnung zwischen den Völkern im zusammenwachsenden Europa!