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16.06.01 Gedenken an den Dirigenten Hermann Scherchen

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 16. Juni 2001


Musik fühlen und erleben
Gedenken an den Dirigenten Hermann Scherchen

Der Rundfunk steckte damals noch in den Kinderschuhen. Orchester spielten noch "live", Hörspiele wurden direkt vor dem Mikrofon "aufgeführt". Da kam ein Mann nach Königsberg, der mit seinen Ideen zunächst viel Staub aufwirbelte: Hermann Scherchen. "Er förderte mehrere Generationen der komponierenden Avantgarde, er forderte von allen, mit denen er zu tun hatte, Klarheit über das, was sie tun, und er forschte in allen Bereichen der Musik. Er war jedem akustischen Erleben auf der Spur und wirkte jeder gemütlichen Behäbigkeit mit seiner unbequemen Unerbittlichkeit entgegen." Mit diesen Worten umriß Giselher Klebe in einem Katalog der Berliner Akademie der Künste 1986 Schaffen und Charakter Scherchens, der als Dirigent und Lehrer Meilensteine setzte.

Geboren am 21. Juni 1891, vor nunmehr 110 Jahren, als Sohn eines Gastwirts in Berlin, erhielt er im zarten Alter von sieben Jahren ersten Violinunterricht. Während der Schulzeit beschäftigte er sich autodidaktisch mit der Musik, eine Kunst, über die er Jahrzehnte später schreibt, sie sei "zu fühlen, auch gegen unseren Willen! Die Rhythmen, Melodien, ihre Klänge packen uns, ohne daß wir es wollen". Hermann Scherchen ließ sich mitreißen von den Klängen und er verstand es auch, andere mitzureißen mit seinem Enthusiasmus. Ernst Litscher, der mit Scherchen in Zürich arbeitete, erinnerte sich: "Äußerste Disziplin für und in der Arbeit – äußerste persönliche Freiheit. Das war Hermann Scherchen. Nie war es mit ihm während der Arbeit langweilig – aber er verlangte nach dem ganzen Menschen und seinem äußersten Einsatz."

Es war im Jahr 1912, da Scherchen zum ersten Mal öffentlich dirigierte – Arnold Schönbergs "Pierrot lunaire". Auch später sollte er sich vor allem der Neuen Musik zuwenden, vernachlässigte aber nie die alten Meister, sondern legte besonderen Wert darauf, auch solche Stücke aufzuführen, die andere zu vergessen schienen.

Nach Königsberg kam Hermann Scherchen 1928; man hatte ihn zum Leiter der städtischen Sinfoniekonzerte und musikalischen Oberleiter am Ostmarken-Rundfunk (ORAG) berufen. Ein Jahr später schon wurde er zum Generalmusikdirektor in Königsberg ernannt. "Für den deutschen Rundfunk gewinnt dieses Ereignis erhöhte Bedeutung, weil hier zum ersten Male ein wirklich bedeutender Dirigent die musikalische Leitung eines deutschen Sendebetriebes übernimmt", so der Komponist Kurt Weill ("Dreigroschenoper") über die Berufung Scherchens. "Von einem Mann wie Scherchen können wir mit Bestimmtheit erwarten, daß er der musikalischen Programmbildung im Rundfunk, die sich in letzter Zeit zu einer gefährlichen Schematisierung ausgewachsen hatte, ein völlig neues Gesicht gibt und daß er besonders die Einordnung der gesamten wertvollen modernen Musik in die Sendeprogramme nach neuen Gesichtspunkten regelt." Bedeutsam sei auch, so Weill, daß mit Scherchen zum ersten Mal die Stellung eines städtischen Generalmusikdirektors mit der des musikalischen Leiters einer Sendegesellschaft verbunden wurde.

Es waren vier fruchtbare Jahre, die der Berliner in der Stadt am Pregel verbrachte. Er richtete einen Dirigierkurs ein, führte das 60. Tonkünstlerfest des ADMV durch, schrieb ein "Lehrbuch des Dirigierens" und wurde zum Ehrendoktor der Philosophischen Fakultät der Albertina ernannt.

Vor allem aber im Rundfunk setzte er wesentliche Neuerungen durch, die heute als selbstverständlich anmuten. So veranlaßte er, daß ausgebildete Sprecher die Manuskripte fachkundiger Autoren verlasen, und bezog die Zuhörer mit in das Geschehen ein. "Der Radiohörer soll vor allem Freude durch die Sendungen haben", erläuterte Hermann Scherchen seine Vorstellungen von modernem Rundfunk. "Ist das der Fall, so wird sich beim Hören von selbst sofort jene Ergriffenheit einstellen, die trotz der räumlichen Trennung von sendenden Künstlern und aufnehmenden Hörern eine enge Verbundenheit zwischen beiden herstellt. Ist diese innere Ergriffenheit aber erreicht, so wird sich je nach der Art des einzelnen Hörers das für ihn wichtigste von selbst ergeben: Belehrung, Steigerung des eigenen Lebensgefühls und Bildung der Persönlichkeit ... Das musikalische Vortragswesen der Orag wird in diesem Winter versuchsweise auf eine neue Darstellungsform gebracht. Es ist beabsichtigt, weniger wissenschaftlich betonte, rein belehrende oder unterrichtende Vorträge abzuhalten, als den Hörern eine Darstellung des Vortragsstoffes zu geben, wie er unmittelbar im Leben wahrgenommen werden kann. Ferner soll versucht werden, die Radiohörer nicht nur zuhörend, sondern auch denkend an der Entwick- lung der Vorträge und der diesen zu Grunde liegenden Stoffe teilnehmen zu lassen."

Hermann Scherchen, der am 12. Juni 1966 in Florenz starb, gilt nicht zuletzt auch als ein Vorkämpfer der Neuen Musik in Ostpreußen, ließ er doch auf den sonntäglichen Morgenfeiern, die zuvor nur geistlicher Musik vorbehalten waren, auch zeitgenössische Komponisten wie Heinz Tiessen oder Hans Jürgen von der Wense ihre Werken persönlich im Vortragsraum der Orag aufführen. Zu den markantesten Uraufführungen gehörten Bartóks "Rhapsodie Nr. 1 für Violine und Orchester" am 1. November 1929 und die Konzertarie "Der Wein" von Alban Berg, gesungen von Ruzena Herlinger am 5. Juni 1930. Silke Osman