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23.06.01 Peter Fischer über einen Journalisten,  der sich nicht vom Zeitgeist vereinnahmen ließ

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 23. Juni 2001


Was der Geist der Wahrheit bewirkt
Peter Fischer über einen Journalisten,  der sich nicht vom Zeitgeist vereinnahmen ließ

Sie winken, sie winken!" – die Erregung unter den politischen Gefangenen im Innenhof des Cottbuser Gefängnisses im Jahre 1975 wuchs mit jedem Rundgang. Immer dann, wenn das nördliche Eck erreicht war, kamen die angrenzenden Hochhäuser in den Blick der Marschierenden. Und es gab keinen Zweifel, die Bewohner dieser Häuser winkten von ihren Balkonen herunter und offenbar deutlich zu den Gefangenen herüber. Was noch erstaunlicher war: Sie taten es offen, demonstrativ, scheinbar ohne jeglichen Anflug von Furcht.

Die "alten Hasen", die hier schon mehrere Jahre inhaftiert waren, tuschelten aufgeregt. Solange sie hier waren, gab es keine solchen Reaktionen. Manche hatten Tränen in den Augen, andere winkten zaghaft zurück. Die Wachposten reagierten sofort nervös und ließen abrücken.

Zeichen dieser Art gab es bislang nicht. Was war da nur geschehen? Die Gerüchte unter den Gefangenen überschlugen sich. Am Ende aber mündeten sie allesamt in die eine große Sehnsucht ein: Amnestie! Davon war zwar keine Rede. Doch die Mauern können noch so dick und noch so hoch sein, sie werden immer durchdrungen.

Und richtig, am nächsten Tag gab es Aufklärung: Seit Monaten mußten die politischen Häftlinge arbeiten – für westdeutsche Firmen. Das war billig. Zumeist ging es um Kunststoff, dessen Bearbeitung gesundheitsschädlich war. Warum al- so westdeutschen Arbeitern aufwendige Zuschläge zahlen, wenn es politische Häftlinge in Mitteldeutschland gab, die diese Arbeit zwangsweise erledigen mußten?

Zudem – und dies war ja ein nicht unwesentlicher Teil westdeutscher Politik – es die mitteldeutschen Häftlinge ja offiziell gar nicht gab. Folglich wußten die Vorarbeiter und Meister aus den Firmen, die in den Gefängnissen arbeiten ließen, nichts davon.

Doch, wie gesagt, an jenem Morgen war es anders: Der Meister, sonst ein Muster an Distanz und Unnahbarkeit, grüßte. Dezent, unauffällig, sogar mit Respekt im Unterton.

Wir waren verblüfft. Später trat er an uns mit den Worten heran, er habe sich ja schon immer gewundert, daß hier so viele inhaftierte Ärzte seien. Erst jetzt wisse er, was hier los sei. Da wir von aktuellen Informationen der Außenwelt abgeschnitten waren, fragten wir ihn, woher er denn etwas über uns wisse.

Es sei im Fernsehen gezeigt worden, erläuterte er: "Der Löwenthal mit seinem ZDF-Magazin, Sie wissen doch …" Natürlich wußten wir. Wir waren wie elektrisiert, daß endlich ein offenbar umfangreicher Bericht über die mitteldeutschen Haftanstalten, darunter auch Fotos von den Balkonen der umstehenden Hochhäusern mit Inneneinsichten in das Cottbuser Gefängnis, gesendet worden war.

Wir drückten dem Meister die Hand, klopften ihm dankbar auf den Rücken.

Er erzählte uns, daß er in seinem Betrieb eines Tages in die Parteileitung zu einer "vertraulichen Aussprache" gerufen worden war. Es ginge um die Resozialisierung von Strafgefangenen und ob er dabei behilflich sein wolle. Bedingung sei freilich Verschwiegenheit, mit den Gefangenen sei nur über fachliche Dinge zu sprechen, sonst kein vertraulich privates Wort zu wechseln.

Die umstehenden Gefangenen stellten sich allmählich mitsamt ihren "Strafen" vor. Über 70 Ärzte waren damals in Cottbus. Architekten, Biologen, Facharbeiter, Chemiker, Schauspieler. Sogar ein Professor der Augenheilkunde von der berühmten Berliner Charité war darunter, ein etwa 60jähriger Mann, den ein Student an die Stasi verraten hatte. Die Delikte lauteten "Republikflucht", "staatsfeindliche Gruppenbildung" oder auch "staatsfeindliche Hetze".

In den darauffolgenden Tagen ging es uns besser. Nicht nur, daß dieser Meister uns gelegentlich einen Apfel, eine Zwiebel zusteckte, ein Päckchen Zigaretten liegen ließ. Wir fühlten uns mit der Außenwelt, mit den Deutschen aus dem westlichen Teil unseres Vaterlandes verbunden.

Und dies nur durch einen scheinbar geringen Akt von Solidarität eines unkonventionellen Fernsehjournalisten namens Gerhard Löwenthal. Im übrigen, täuschten wir uns, oder war es nicht doch so: Die sonst ziemlich brutalen Gefängnisschließer schienen, für den Augenblick jedenfalls, umgänglicher zu sein. Man rechnete ab da mit einer "Stunde Null" – so machtvoll kann journalistische Arbeit sein, wenn sie den Geist der Wahrheit in sich trägt.