29.03.2024

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30.06.01 Die ostpreußische Familie extra

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 30. Juni 2001


Die ostpreußische Familie extra
Leser helfen Lesern
Ruth Geede

Lewe Landslied,

es sind schon Schicksale, die unsere Ostpreußische Familie aufrollt, die einen betroffen machen können. Nicht nur, wenn die Suche nach Vermißten trotz großer Anstrengung vergeblich blieb oder wenn die Klärung des Falles zu spät kommt, nämlich dann, wenn die Betreffenden nicht mehr am Leben weilen. Besonders tragisch aber, wenn – wie es einmal der Fall war – die 96jährige Mutter immer daran geglaubt hat, daß ihr im frühen Kindesalter verlorener Sohn noch lebt, und der dann tatsächlich gefunden wurde – drei Wochen nach ihrem Tod! Das kann man dann auch als Außenstehende nicht so leicht verkraften.

Jetzt aber hat sich etwas ereignet, das mich geradezu erschüttert hat. Ich kann und will die Namen nicht nennen, denn dieses Geschehen betrifft allein die daran Beteiligten, und ich darf deren seelische Belastung nicht noch verstärken. Aber ich möchte es doch schildern, um unseren Leserinnen und Lesern einmal vor Augen zu führen, daß wiederfinden nicht nur Freude und Erlösung von der Ungewißheit bedeuten kann, sondern leider auch Enttäuschung, Verbitterung und Leid.

Da lebt eine Frau, die als Zweijährige mit einem Kindertransport die masurische Heimat verlassen hat und seitdem nach ihrer Mutter suchte, deren Name auf einem Bändchen am Handgelenk vermerkt war. Durch eine Reihe von Zufällen kam es vor einigen Jahren durch eine Ostpreußin, die in dieser masurischen Stadt gewohnt hatte, zu einer Verbindung mit einer Frau, die den gleichen Namen trug. Sie meinte, daß die Mutter der Suchenden noch leben müßte. Wir veröffentlichten den Suchwunsch, und es meldete sich aus dem Ausland eine nahe Verwandte der gesuchten Mutter, die mitteilen konnte, daß diese tatsächlich in Westdeutschland lebt und durch Heirat einen anderen Namen trägt. Die Suchende war überglücklich, aber dann kam das Unglaubliche: Die endlich gefundene Mutter ließ über einen Mittelsmann wissen, daß sie und ihr Mann mit "dieser Angelegenheit" nichts zu tun haben wollten. Ein schwerer Schock für die heute 54jährige, die schon vierfache Großmutter ist und in guten Verhältnissen lebt.

Es ist doch unfaßbar: Da erfährt eine Mutter, daß ihr Kind, das sie im Alter von zwei Jahren aus den Augen verlor, lebt und immer nach ihr gesucht hat, und sie lehnt es ab. Will es nicht wiedersehen, streicht es einfach aus ihrer Vergangenheit. Die Leserin, die mir im März den Wunsch übermittelte und die – nach den ersten positiven Meldungen – meinte, das sei wieder mal ein Glücksfall gewesen, teilte mir nun diese traurige "Lösung" mit. Und meinte, daß man unseren Lesern auch solche negativen Erfahrungen mitteilen sollte. Das habe ich nun getan. Der verlorenen – und wahrscheinlich nie gesuchten – Tochter wünsche ich viel Kraft und Trost in ihrer eigenen Familie, die ihr Halt gibt.

Heute, nachdem ich diese Zeilen geschrieben habe, kann ich sagen, daß es bereits in unserer jahrzehntelangen Familienarbeit ähnliche Fälle gegeben hat. So bekam eine Frau, die ihren leiblichen Vater suchte, Drohbriefe und telefonische Anrufe mit den übelsten Beschimpfungen. Bei anderen ging es bis zur wütenden Mahnung, die Sache doch endlich ruhen zu lassen! Deshalb habe ich bei manchem Suchwunsch kein sehr gutes Gefühl und bemühe mich, auch heikle Probleme so vorsichtig wie möglich anzugehen. Aber ich fühle mich mit der mir gestellten Aufgabe verpflichtet, jedem ernst gemeinten Suchwunsch nachzugehen.

Um eine Namensfrage geht es im nächsten Suchwunsch, allerdings liegt hier der Fall ganz anders, denn Manfred Scincek zweifelt an der Richtigkeit seines Nachnamens. Mit Recht, denn das alte Adreßbuch seiner Geburtsstadt Königsberg weist diesen Namen nicht auf. Da Manfred – der Vorname dürfte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit stimmen – aber andere konkrete wie auch ungenaue Angaben machen kann, kommen wir doch hier vielleicht zu einer Lösung. Übermittelt wurde mir der Wunsch von der Leipziger Journalistin Ines Drahonovsky, die den geborenen Königsberger bei ihren Recherchen kennenlernte. Inzwischen haben wir durch Telefongespräche einige Angaben korrigieren können, vor allem dadurch, daß mir wieder einmal Christa Pfeiler-Iwohn geholfen hat. Sie überprüfte ihre Unterlagen über das Kinderlager Bischofswerda, und konnte dort kein Kind mit dem Namen "Scincek" finden. Dafür aber einen Königsberger Jungen mit dem Namen Manfred Szinonk, der mit dem des Suchenden identisch sein könnte.

Auch sein Geburtsdatum kann nicht stimmen, es ist in der provisorischen Geburtsurkunde als 20. April 1942 angegeben. Manfred kann sich aber noch an Einzelheiten aus seiner Königsberger Kindheit erinnern, so daß er mit Sicherheit älter ist. Manfred glaubt sich noch an das Mehrfamilienhaus auf dem Unterhaberberg zu erinnern, in dem die Familie im linken Erdgeschoß wohnte. Rechts lebte eine Familie Hoffmann mit den Kindern Inge und Arnim. Im Haus gab ein Meiereigeschäft, auf der gegenüberliegenden Straßenseite befanden sich barackenähnliche Gebäude. In der Nähe soll es eine parkähnliche Anlage mit Schlachthof gegeben haben. Das weist aber mehr in Richtung Rosenau. Dort will Manfred in einem großen Saal auf einer Weihnachtsfeier, wohl für die Kinder der Gefallenen, von "Adolf Hitler" Spielzeug geschenkt bekommen haben – er meint wohl damit den Ortsgruppenleiter oder Blockwart. Jedenfalls zeigen diese Erinnerungen, daß das Kind damals bereits vier- oder fünfjährig war. Er weiß auch den Namen seiner Mutter – Herta – und den ihres Lebensgefährten – Erwin. Die Mutter soll auf der Flucht gestorben sein, eine Großmutter an Diphtherie, nachdem sie mit dem Kind nach Königsberg zurückgekehrt war. Unsere Frage nun: Wer kann sich an Manfred Scincek oder Szinok und seine Familie erinnern? Er lebt heute in der Bahnhofstraße 6 in 01904 Neukirch/Sachsen. Zuschriften an diese Adresse oder an Ines Drahonovsky, Funkenburgstraße 4 in 04105 Leipzig. Ein ähnliches Kinderschicksal hat auch Heinz Bartsch, nur sind seine Angaben viel präziser, da er, als er 1947 mit einem Kindertransport nach Deutschland kam, schon zehn Jahre alt. Heinz wurde am 20. Januar 1937 als Sohn des Schneiders Bruno Bartsch und seiner Ehefrau Paula geboren. Die Familie, zu der auch die Töchter Gerda und Traute gehörten, wohnte in Königsberg, Plantage, Baracke 8. 1944 wurde der Vater zur Wehrmacht eingezogen. Kurz vor den Bombenangriffen auf Königsberg erlitt Traute Bartsch einen schweren Verkehrsunfall und blieb nach kurzem Krankenhausaufenthalt geistig und körperlich behindert. Nachdem beim zweiten Bombenangriff die Baracke abgebrannt war, kamen Mutter und Kinder in eine Gemeinschaftsunterkunft, danach wurden sie evakuiert, u. a. nach Sachsen, kamen aber nach Königsberg zurück. Vor dem Russeneinfall wohnten sie in einer Gärtnerei in Rauschen, setzten sich dann nach Königsberg in Fußmarsch, auf dem Traute zusammenbrach und von Deutschen auf deren Pferdewagen mitgenommen wurde. Wie die Mutter ihrem Sohn erzählte, soll seine Schwester dann verstorben sein und von den Leuten, die sie mitgenommen hatten, in deren Garten beerdigt worden sein.

In Königsberg hauste die Familie auf einem Grundstück, in dem drei Häuser in Hufeisenform standen. In der Nähe gab es an einer großen Straßenkreuzung einen Basar. Ein Freund des kleinen Heinz trat dort auf eine Mine und verlor dabei einen Fuß. Im Herbst 1946 starb Paula Bartsch. Heinz und Gerda kamen in ein Krankenhaus, dann in ein katholisches Waisenhaus und schließlich in ein russisches Kinderheim in Tilsit. Von dort wurden die Kinder Ende 1947 nach Deutschland ausgewiesen und kamen in ein Kinderheim in Wittenberg. Nun sucht Heinz Bartsch nach Zeitzeugen, die Auskunft über den Verbleib des Vaters und das Schicksal seiner Schwester Traute geben können, nach Verwandten und Freunden der Familie, nach dem Besitzer der Gärtnerei in Rauschen, nach dem Freund mit dem abgerissenen Fuß und nach anderen Menschen, die ihm auf diesen hier geschilderten Wegen be-gegnet sind. (Heinz Bartsch, Pfännerhöhe 36 A in 06110 Hal-le/Saale).

Gerhard Seidenberg aus Schwägerau, Kreis Insterburg, war beim Aufbruch zur Flucht am 21. Januar 1945 erst 14 Jahre alt. Trotzdem sollte er den Fluchtwagen fahren, aber er kam wegen der mit Flüchtlingstrecks und Militärfahrzeugen verstopften Straßen nicht auf die Einfahrt zu dem elterlichen Grundstück, zumal das Pferd Kolik bekommen hatte. Jedenfalls fuhren seine Mutter mit der vier Monate alten Schwester und dem zehnjährigen Bruder Alfred auf anderen Flüchtlingswagen mit, weil die Front immer näher kam. Gerhard blieb zurück und muß bald in die Hände der Russen gefallen sein. Denn im November 1946 schrieb er eine Karte an seinen inzwischen aus russischer Gefangenschaft entlassenen Vater, die diesen über Umwege auch erreichte. Danach wurde Gerhard von den Russen als Treckerfahrer im Samland eingesetzt, ist aber dann in seine engere Heimat zurückgekehrt, denn als Wohnort gibt er Waldhausen, einen Nachbarort von Schwägerau, an. "Ich bin hier ganz alleine, habe bisher in Gedanken an Euch alle einigermaßgen gelebt. Meldet Euch doch bitte bald ...", schreibt der 15jährige. Die Briefe seiner Eltern haben ihn wohl nie erreicht, denn seit dieser Karte fehlt jede Spur von Gerhard Seidenberg. Alle Suchaktionen blieben bis heute ohne Erfolg, nun ist unsere Familie auch für Alfred Seidenberg die letzte Hoffnung, weil er endlich erfahren möchte, wie das weitere Schicksal seines älteren Bruders verlief. Da damals noch andere Deutsche in den genannten Dörfern lebten, könnten vielleicht diese etwas aussagen. Oder war jemand mit Gerhard Seidenberg, geboren am 24. Mai 1930 in Waldfrieden, in einem russischen Arbeitslager? Für jeden Hinweis wäre der Bruder dankbar. (Alfred Seidenberg, Lotzbeckstraße 14 in 77933 Lahr/Schw.).

Parallelität der Fälle: In dem folgenden gilt die Suche einer Schwester nach ihrem vermißten Bruder, der damals auf der Flucht ebenfalls erst 14 Jahre alt war. Allerdings führt hier die Spur weiter auf westlichen Routen, bis sie sich in Neu-Bentschen verlor. Vergeblich haben die Angehörigen von Horst-Adalbert Krassen, geboren am 26. Januar 1931 in Adlershorst, Kreis Neidenburg, nach ihm gesucht, sogar im Ausland, denn eine vermeintliche Spur wies nach Australien. Nun sind also wir dran! Zuerst muß richtiggestellt werden, daß der Geburtsname des Gesuchten Krajewski lautete, der Vater Gottlieb K. ließ 1933 den Namen ändern. Die Familie ging Ende Januar auf die Flucht mit Ziel Frankfurt/Oder. Mit dabei Stiefmutter Martha (die leibliche Mutter Gottliebe war 1942 verstorben), Horst-Adalbert und die jüngeren Schwestern Christel und Ingeborg. Die fünf älteren Schwestern wollten auf anderen Wegen das Ziel erreichen.

Hinter Kudno im damaligen Warthegau wurden die Frauen von einem Treckwagen mitgenommen, für den Jungen war kein Platz, und deshalb stieg er auf einen der folgenden Wagen um. Irgendwo zwischen Alt- und Neu-Bentschen wurde der Treck getrennt. Eine auf der nächsten Bahnstation abgegebene Suchmeldung erbrachte keinen Erfolg, von dem Jungen keine Spur. Nach Kriegsende wurde die Suche fortgesetzt, die älteren Schwestern wurden gefunden, auch der Vater kehrte zurück, nur Horst-Adalbert blieb spurlos verschwunden. Bis heute. Es müßten doch aber noch Menschen zu finden sein, die im Treck mitfuhren – was geschah mit dem Wagen, der den Jungen mitnahm? – oder die später irgendwie und irgendwo mit Horst-Adalbert Krassen zusammen waren. Alle bisherigen Hinweise erbrachten keine glaubwürdigen Anhaltspunkte. Sollte er ebenfalls spurlos verschwunden sein? Seine Schwestern möchten endlich Gewißheit haben. (Ingeborg Bronheim, Bergkamener Straße 28 in 59174 Kamen.)

"Immer noch wird bei uns von Tante Hilde gesprochen, ihr Schick-sal prägt unsere Familie noch heute!" schreibt Petra Blöß. Und dabei gilt Hildegard Götz seit über einem halben Jahrhundert als vermißt. Genau seit jenem 21. Januar 1945, als sie in Mohrungen auf einen Lkw mit deutschen Soldaten stieg, um vor den Russen zu flüchten. Der soll dann unweit der Stadt den russischen Truppen in die Hände gefallen sein. Hildegard, die in Mohrungen eine Ausbildung absolvierte, und eine weitere Auszubildende wurden von den Russen gezwungen, auf eines ihrer Fahrzeuge umzusteigen. Von da an fehlt jede Spur. Zur Person der Vermißten: Die 1927 geborene Hildegard Götz zog nach der zweiten Heirat der Mutter mit Fritz Kretschmann – der leibliche Vater war im Nariensee ertrunken – mit der Mutter und dem jüngeren Bruder Walter nach Kranthau, Kreis Mohrungen. Sie besuchte die Volksschule in Horn und begann anschließend eine Lehre in Mohrungen, wohnte aber weiter in Kranthau. Mit 17 Jahren verlobte sie sich mit einem zwei Jahre älteren Kranthauer, der aber bald darauf im Winter 1944/45 fiel. Ein Foto, das leider vor einigen Jahren verbrannte, zeigte ein bildhübsches Mädchen mit schulterlangen, mittelblonden Haaren und hellen Augen. Das einzige Bild von Hilde Götz, das die Familie besitzt, ist ein Klassenfoto aus der Kranthauer Chronik, das die damals etwa Elfjährige zeigt. Übrigens fand der Vater von Frau Blöß durch diese von Frau Preuß erstellte Dokumentation seinen Kinderfreund wieder – die beiden hatten jahrzehntelang nur 30 Kilometer voneinander entfernt gelebt! Durch dieses positive Ergebnis ermutigt, hofft Frau Blöß nun endlich etwas über das Schicksal der unvergessenen "Tante Hilde" zu erfahren, vielleicht durch die Familie ihrer damaligen Leidensgenossin aus Mohrungen, die wohl wie Hildegard Götz von den Russen verschleppt wurde. (Petra C. Blöß, Brockstraße 15 in 33397 Rietberg.)

Das sind heute alles Schicksale, die vor mehr als einem halben Jahrhundert ins Leere liefen. Vielleicht läßt sich dieses oder jenes klären. Ich hoffe es jedenfalls.

Eure

Ruth Geede