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14.07.01 Es ist Zeit für eine Wiechert-Renaissance

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 14. Juli 2001


Mögliche Welten gebaut
Es ist Zeit für eine Wiechert-Renaissance
von Dietmar Stutzer

In der Zeit der "kürzeren Leben" wären die 48 Jahre fast "zwei Menschenalter" gewesen, die meine Praktikantenzeit in einem landwirtschaftlichen Betrieb auf der Ostmoräne über dem Starnberger See bei Beuerberg im einstigen Kreis Wolfratshausen zurückliegt. Einen Teil der dürftigen Freizeit verbrachte ich im Künstlerdorf Icking über dem Isartal. Der mit dem Fahrrad zurückgelegte Weg führte von der Moräne auf den Talboden von Isar und Loisach nach Wolfratshausen unmittelbar am Hof Gaggert vorbei. Natürlich wußte ich, daß Ernst Wiechert dort gewohnt hatte, noch genauer, wer er war. Oft meinte ich, das dichte Buschwerk des großen Gartens, das bis zum Straßenrand reichte, sei jenes, unter dem Ernst Wiechert das Manuskript des "Einfachen Lebens" vor der Gestapo versteckt hatte. Vielleicht habe ich wirklich nicht gewußt, daß es das Manuskript des "Totenwald" gewesen ist, vielleicht wollte ich es auch nicht wissen, weil ich schon damals vieles, wenn auch nicht alles, was mich mit der Wiechert-Dichtung verbindet, am "Einfachen Leben" festmachte. (Der Umgang mit "Missa sine nomine" ist ein paar Jahre jünger, stammt von 1954; ihn verdanke ich einer Frau, die als gläubige Katholikin von der Transfiguration der katholischen Liturgie mit Opferung und Wandlung durch den Protestanten Wiechert fasziniert war). Vielleicht haben die Zensoren des NS-Regimes diesen Text nicht vollständig gelesen, denn man kann sich darüber wundern, daß sie nicht wahrgenommen zu haben scheinen, wie der Dichter vor allem mit diesem Werk die eigentlich authentische Erklärung für den Nationalsozialismus und den Kommunismus Stalinscher Prägung geliefert hat, die alle anderen Erklärungen einschließt.

Über die Quellen, aus denen Wiechert geschöpft hat, weiß man wenig oder nichts, aber es kann vermutet werden, daß seine manifest depressive Persönlichkeitsstruktur zu einer in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts wohl einmaligen moralischen Sensibilität geführt hat, die ihn mit der Fähigkeit versehen konnte, den Nationalsozialismus als das zu identifizieren, was er wirklich war: ein Organisations-, Bürokratie- und Projektionssystem, das die Autorität und die Machtmittel des Staates den Vertretern jener dunklen Welt der ländlichen und kleinbürgerlichen Unterschichten überantwortet hat, von denen einer den Grafen Natango Pernein mit der Wagenrunge erschlagen hat.

Das " Einfache Leben" ist ein einheitlicher Kosmos, in dem sich unterschiedliche moralische Eliten begegnen: der Fischer Thomas, der alte General von Platen, der Matrose Bildermann und der Förster Gruber. Aber die Verbindung von Kultur- und Moralelite wird nur von zwei Gestalten symbolisiert: Marianne von Platen und dem Grafen Natango Pernein. Zwar hat Wiechert vom "Einfachen Leben" selbst gesagt: "Es war ein Traumbuch, in dem ich mich mit Flügeln über diese grauenvolle Erde hinaushob. Mit ihm spülte ich mir von der Seele, was sie beschmutzt, befleckt, erniedrigt, entwürdigt und zu Tode gequält hatte. Mit ihm gingen die Schatten und die Toten fort, nicht in das wesenlose Nichts, sondern in ein beglänztes Land der Erinnerung und der Verklärung. Mit ihm baute ich noch einmal eine Welt auf, nachdem die irdische mir zusammengebrochen oder schrecklich entstellt worden war. Nicht eine wirkliche, aber eine mögliche, und jede mögliche Welt ist auch eine wahre Welt."

Hölderlin, Stifter, Eichendorff, Conrad Ferdinand Meyer, selbst Theodor Storm oder Eduard Mörike haben aus verwandten Motiven geschrieben und Beethoven und Schubert komponiert, aber bei Wiechert ist diese Selbstheilung nicht alles. Seine aus der Depressivität kommende moralische Hellsicht hat ihn dazu befähigt, dichterische Bilder für den eigentlichen Urgrund der Geschichtskatastrophen der letzten 350 Jahre zu identifizieren: die Usurpation der staatlichen und öffentlichen Macht durch die Aufsteiger aus Unterschichten, die während ihrer Emanzipation ihre moralischen Bindungen verloren haben. Joachim Fest zitiert in seiner Hitlerbiographie einen Generalstabsoffizier, der bei einer Operationsbesprechung mit Hitler eingewandt hatte, wenn man die Operation wie besprochen ausführe, werde man den größten Teil der eingesetzten Truppen verlieren. Nach seinem Bericht hat Hitler ihn nicht ungehalten, sondern überrascht angesehen und bemerkt: "Aber dazu sind die jungen Leute doch da!"

Das Gegenbild dazu und die Vision der psychischen Apokalypsen, zu denen diese Hybris führt, steht in Wiecherts "Einfachen Leben". Es ist die Frau des Försters Gruber, die über dem Feuertod des Sohnes im Skagerrak wirr geworden ist, im nächtlichen Haus auf und ab geht und das Flaggenlied singt, während draußen warmer Frühlingsregen über die masurischen Wälder fällt, und die mit ihrer brennenden Scheune in einem zweiten Flammentod die Qual ihres Lebens verläßt. Die Wiechertschen Bilder sind von einer Gewalt, die an das Goethesche Bild von den "Unsterblichen" denken läßt, die "mit feurigen Armen zum Himmel emporheben", während der einsame Mann auf dem Scheunenboden findet, was in den Flammen des Abschieds nicht verglüht ist. Vielleicht muß man sich durch Jahrzehnte mit der Symbolsprache von Wiechert beschäftigt haben, um zu identifizieren, was er mit diesen Bildern zeigen wollte, nämlich das endlose Grauen, das "Staatsführer" zurücklassen, die ihre Selbstverwirklichung im Erlebnis der Ausmordung auch der Jugend der eigenen Bevölkerung gesucht haben. Wiechert hat die Bemerkung von Max Weber von 1912 offenbar nicht nur gekannt, sondern vor allem verstanden: "Mir ist oft, als würden wir von Geisteskranken regiert!"

Wie einzigartig die Deutungs- und Erkenntnismacht von Wiechert gewesen ist, ebenso sein moralischer Rigorismus, wird erst bewußt, wenn man das in Wahrheit mörderische und zugleich inhaltsleere Kriegspathos eines Ernst Jünger oder Rudolf Binding als Gegenentwurf nimmt. Dies als Beispiel, daß die Aussage auch nur eines der Werke von Wiechert – wenn auch das "Einfache Leben" im Wiechertschen Werkekanon einsamen Rang hat – noch bei weitem nicht erschöpft ist. Die Bemerkung von Anneliese Merkel in ihrem Gedenkaufsatz in der letzten Ausgabe des "Gemeinsamen Weges", sein Werk gehöre nicht zur Weltliteratur, liegt gründlich daneben. Zwar spricht der Anschein dafür, aber das liegt daran, daß man bisher kaum nach seinen Quellen gefragt hat, zum anderen, daß man deshalb seine kulturanthropologische Bedeutung verkennt. Nicht zu Unrecht wird gelegentlich beklagt, daß Mittelosteuropa nie einen Johan Huizinga und einen "Herbst des Mittelalters" und damit keinen Begründer der mentalitätshistorischen Schule eines Marc Bloch oder Philippe Ariès gekannt hat. Doch 50 Jahre nach dem Tode von Wiechert stellt sich die Frage: Stimmt das überhaupt, war nicht eigentlich er der Huizinga vor allem des baltischen Ostseeraumes.

In "Missa sine nomine" kehrt das Motiv: Natango Pernein – Melker wieder. Der Freiherr Amadeus findet den "Dunklen", den der Litauer Donelaitis in einem Schlageisen gefangen hat. Er ist der Vertreter der dunklen Welt, die alle töten, die Konkurrenten ihres Überlebens und vor allem ihres Aufstieges sein könnten, auch und vor allem Kinder. 50 Jahre nach dem Tode von Wiechert steht man einigermaßen ratlos vor der Frage: Woher kam diese einzigartige Hell- und Weitsicht? Wiechert muß vieles vorausgeahnt haben, aber wie? Auch da nur Forschungslücken.

Doch die größere Dimension von "Missa sine nomine" wurde eigentlich noch gar nicht beachtet: Der Roman ist das bisher einzige Zeugnis für den Transfer von Moral aus den Kulturkreisen Mittelosteuropas, ein Transfer, der die Vertreibung eben auch war. Wiechert verwendet dafür zwei Metaphern: einmal die Gestalten der Hofmeister, Gespannführer und Kutscher auf den Gütern der Liljecronas mit ihrer mythengebundenen archaischen Moral der "Zeit, in der die Götter noch Bernsteinkronen trugen", zum anderen das Paar aus der unterfränkischen Gutsbesitzerin und dem Freiherrn Ägidius. Beide verkörpern für Wiechert den Transfer landwirtschaftlicher, erweitert auch unternehmerischer Kompetenz von Ost nach West, den die Vertreibung auch bedeutet hat.

Eine Mentalitätsgeschichte der Vertreibungen, und zwar aller, ist nicht geschrieben worden, obwohl sie das wichtigste Kapitel dieses wahnbestimmten Großcharakteristikums des 20. Jahrhunderts ist. Sollte sie angepackt werden, dann müßte man bei Wiechert anfangen. Er ist der einzige, der erkannt und ausgesprochen hat, daß bei allen Vertreibungen mehr in Bewegung gesetzt wurde als Menschen, Pferdehufe und Wagenräder und daß die Verluste wie die Gewinne vor allem in den Bewegungen zu suchen sind, die in die Mentalitäten gebracht wurden.

Auch hier stellt sich die Frage: Wie hat Wiechert das erreicht? Schließlich sind die Texte von Wiechert auch oft vor allem Naturphilosophie und Naturmagie. Nach – und bei – Wiechert ist die Natur (genau wie die Bibel) ein Buch, das in einer geheimen Sprache geschrieben ist, die nur durch spirituell reine Menschen entschlüsselt werden kann. Die oberste Ebene des Menschen stellt das höhere Bewußtsein oder der Geist dar, die mittlere Ebene beinhaltet die Vernunft, den Willen und die Phantasie, und die elementarste Ebene wird durch den Instinkt und den Körper repräsentiert. (Im "Einfachen Leben" kämpfen die ersten beiden Ebenen im Fischer Thomas vor der Liebe der Kindfrau Marianne gegen die dritte). Die Naturmagie kann verborgene Kräfte sowohl des elementaren als auch des himmlischen Reiches nutzbar machen. Leibniz findet sich mit seiner sakralen Interpretation der binären Arithmetik in dieser Gefolgschaft ebenso wie Klopstock, Goethe, Hölderlin, Mickiewicz, Eichendorff, Manzoni oder Leopardi und eben auch Wiechert. Auch hier stellt sich die Frage nach dem Wie und einmal mehr die Frage: Welche Quellen hatte Wiechert?

Steht eine Ernst-Wiechert-Renaissance vor der Tür? Sie sollte wenigstens dort stehen, um den Ostpreußen als einen der kompetentesten Deuter des grauenvollen 20. Jahrhunderts sichtbar zu machen.