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22.09.01 Preußen und Russen (III): Zwischen den Fronten / Ein Gang durch die Geschichte von Nachbarn

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. September 2001


Preußen und Russen (III):
Zwischen den Fronten
Ein Gang durch die Geschichte von Nachbarn
von Walter Rix

Außerdem mußte der Eindruck vermieden werden, daß es sich um eine Volksbewaffnung unter russischer Direktion handelte. Und schließlich durfte man sich nicht in einen direkten Gegensatz zum König begeben, der sich immer noch die Option eines Ausgleichs mit Napoleon offenhalten wollte.

Als russischer Bevollmächtigter hatte Stein auch Theodor von Schön in Gumbinnen aufgesucht, um ihn auf das Vorhaben einzuschwören. Aber die alten Freunde gerieten hart aneinander. Der Gedanke, sich einem russischen Bevollmächtigten unterzuordnen - und sei es auch der engste politische Freund - war mit dem Selbstbewußtsein und dem Stolz von Schön unvereinbar. Die Unabhängigkeit und Ehre der preußischen Verwaltung nach besten Kräften zu wahren, gegen die Russen ebensogut wie gegen die Franzosen, hielt er für seine vornehmste Beamtenpflicht. Man einigte sich schließlich darauf, den Vorgang nach außen hin so darzustellen, als müsse man dem russischen Verbündeten entgegenkommen, während man andererseits in der Lage sei, die formale Selbständigkeit der Verwaltung zu wahren.

Abgesichert wurde die Entscheidung praktisch durch einen Verfahrenstrick: Man überließ dem König theoretisch die letzte Entscheidung. Da sich die Regierung jedoch seit dem 25. Januar 1813 in Breslau befand und der König damit praktisch unerreichbar war, mußte man die Initiative ergreifen. Auf diese Weise wurde aus dem Volksaufstand, den die Provinzialbehörden mit russischer Hilfestellung und ohne Einwilligung des Königs organisierten, ein freiwilliges Erbieten der Stände zur Verstärkung der königlichen Machtmittel. Ein erstaunlicher Sachverhalt hatte sich eingestellt: Beamtentum und Stände Ostpreußens zeigten sich in der Lage, sich von der streng monarchistischen Loyalität freizumachen und das Werk von Tauroggen zu vollenden. Dabei entwickelten sie einen Eifer, der weit über die Provinz ausstrahlte. Das ostpreußische Landwehrgesetz gab den Anstoß zur Schaffung der berühmten Landwehr von 1813 durch Scharnhorst. Die Erhebung der ostpreußischen Landstände war somit die Initialzündung für die nationale Erhebung. Die offensichtliche Tatsache, daß sich die am meisten erschöpfte, auf weite Strecken völlig verwüstete Provinz zum Widerstand aufraffte, war von unabsehbaren politischen Folgen. Sie war gleichzeitig die glänzende Widerlegung der kleinmütigen Ansicht, die Friedrich Wilhelm seit 1806 von der patriotischen Gesinnung seines Volkes hegte.

Als im Frühjahr 1859 Otto von Bismarck nach St. Petersburg reiste, um hier den Posten des preußischen Gesandten zu übernehmen, wähnten ihn seine Gegner auf eine unbedeutende Position am Rande Europas abgeschoben. Sie sollten sich hierin grundsätzlich getäuscht haben. In St. Petersburg vervollkommnete Bismarck seine Fähigkeiten zum politischen Kräftespiel bis zur Meisterschaft. Ganz abgesehen von den persönlichen Verbindungen verschafften ihm die Erfahrungen in der russischen Metropole Einsichten, die für seine zukünftige Politik grundlegend wurden. Bereits ein während der Reise aus Kowno am 25. März 1859 an seine Frau gerichteter Brief enthält eine zwar beiläufige, im Kern jedoch höchst aufschlußreiche Bemerkung: „Russen sehr liebenswürdig, aber schlechte Postpferde ...“ Zugleich konnte er sich Gedanken darüber machen, weshalb das russische Eisenbahnwesen nur bis Pleskau reichte und nicht weiter nach Westen führte.

Zum Lehrmeister Bismarcks wurde der damals bedeutendste russische Staatsmann, Fürst Alexander Gortschakow. Beide kannten sich schon von früher und hatten einander schätzengelernt. Von 1841 bis 1850 war Gortschakow in Stuttgart Gesandter beim württembergischen König gewesen (in dieser Zeit hatte er die Ehe zwischen der russischen Großfürstin Olga mit dem Kronprinzen, dem späteren König Karl, angebahnt). Bis 1854 war er außerdem russischer Bevollmächtigter beim Deutschen Bundestag in Frankfurt gewesen. Zwischen beiden Männern entwickelte sich ein geradezu freundschaftliches Verhältnis, so daß sie in den späteren Jahren gemeinsam europäische Politik machten. Und wenn sie gegeneinander Politik machen mußten, so verloren sie dadurch nicht die Achtung voreinander.

St. Petersburg und Berlin waren durch vielfältige Fäden miteinander verbunden. Nikolaus I. starb am 2. März 1855 eines natürlichen Todes, wohingegen sein Vater und Großvater Opfer einer Palastrevolte geworden waren. Seine Politik hatte er nach dem Grundsatz gestaltet: „Mit meinen Russen werde ich immer fertig, wenn ich ihnen ins Gesicht sehen kann, aber auf den Rücken möchte ich sie mir nicht kommen lassen.“ Es mutet fast wie eine Form von historischer Ironie an, daß er während seiner Regierungszeit permanent unter äußerst schmerzhaften Rückenverspannungen litt. Sein Schwager Friedrich Wilhelm IV. schickte ihm daher regelmäßig zwei Unteroffiziere aus Potsdam, deren Massagekünste die Rückenschmerzen des Zaren zu lindern wußten. Seine Gattin, die Zarin Alexandra, war eine geborene preußische Prinzessin, eine Tochter der Königin Luise.

Alexander II., der älteste Sohn von Nikolaus I., zeichnete Bismarck wiederholt ganz bewußt gegenüber den anderen 39 Vertretern des Deutschen Bundes, die in St. Petersburg akkreditiert waren, aus. Am 5. Mai 1859 schrieb Bismarck an seine Frau: „Seine Majestät sagte mir wiederholt die schmeichelhaftesten Worte über unsere Truppen und Einrichtungen und machte mich auf das aufmerksam, was hier nachgeahmt wurde.“ Preußen als Vorbild hatte dazu geführt, daß sich viele Deutsche in einflußreichen Positionen Rußlands befanden. Man traf sie in hohen militärischen Kommandostellen und in entscheidenden Bereichen der Verwaltung. Sie bauten Bergwerke und Eisenbahnen, erkundeten neu gewonnene Gebiete, sie waren Forscher, Gelehrte und Kaufleute. Sie waren nützlich, konnten aber auch lästig sein, wenn sich die russische Mentalität darauf einstellte, daß das Leben mehr wie im Falle der berühmten Romanfigur Oblomow abzulaufen habe.

Bismarck konstatierte eine wachsende Deutschfeindlichkeit, die sich weniger gegen Deutschland als politisches Ausland, sondern vielmehr gegen die Deutschen in Rußland richtete. Der unter Bismarck in der preußischen Gesandtschaft arbeitende Kurd Schlözer (1822-1894), ein Mitglied einer berühmten Diplomaten- und Gelehrtenfamilie Schlözer, stellte voller Besorgnis fest, daß der zunehmende Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen zu einem unheilvollen Klima führe: Inzwischen führen die (zu Rußland gehörenden) Ostseeprovinzen ein vorläufig noch märchenhaft ruhiges Dasein. Auf sie und auf Finnland sieht der Russe voller Neid. Besonders das Deutschtum reizt ihn, das sich und seine Institutionen zäh erhält und doch zugleich in aller Stille kulturell, geistig und wirtschaftlich fortschreitet. Angesichts des erwachenden slawischen Nationalgefühls kann die bessere Verwaltung der baltischen Provinzen zu einem verhängnisvollen Gut werden.

Als Karl Schlözer junior (1854-1916) 1886 nach St. Petersburg kommt, sind die deutsch-russischen Beziehungen weiter abgekühlt. So schreibt er an seine Mutter: „Die Verhältnisse sind für Fremde nicht mehr so einfach wie zu Eurer Zeit. Die Harmlosigkeit des Verkehrs mit Deutschen hat aufgehört.“

Bismarck wußte beide Seiten Rußlands einzuschätzen und in der politischen Praxis angemessen zu beachten. In den drei Jahren Rußland entwickeln sich die Leitlinien und Grundsätze einer Politik, die er als preußischer Ministerpräsident und deutscher Reichskanzler verfolgen sollte. Dazu zählte auch, wie er in seinen Gedanken und Erinnerungen darlegt, der Grundsatz: „Mit Rußland werden wir nie die Notwendigkeit eines Krieges haben.“ Seine Rolle als ehrlicher Makler während des Berliner Kongresses zeigt sehr deutlich, mit welcher Virtuosität er diesen Grundsatz zu praktizieren wußte. Dazu aber war ein höchst kompliziertes Vertragswerk von Nöten, ein kunstvolles Kräftespiel, dessen Beherrschung in der Zeit nach Bismarck zum Nachteil beider Länder verlorengegangen ist.

Diese sporadischen Anmerkungen sollen den Auftakt zu etwas allgemeineren Überlegungen bilden: Bei Preußen/Deutschland und Rußland handelt es sich um zwei Festlandsmächte, die eine in europäischer Mittellage, die andere als Macht der eurasischen Festlandsmasse. Im Sinne einer generalisierenden Betrachtungsweise erweisen sie sich damit als Nachbarn, die in natürlicher Weise aufeinander bezogen sind. Allein aus diesen Voraussetzungen heraus ergibt sich eine Interessenkonvergenz, die ausgeprägter ist als der Zusammenfall mit Interessen jener Mächte, die jenseits des Atlantik oder am atlantischen Westsaum Europas liegen. Der militärische Konflikt zwischen der europäischen Mittelmacht und dem gewaltigen russischen Bereich muß, wie es Clausewitz bereits formuliert hat, in eine europäische Katastrophe führen. Umgekehrt bedeutet der Interessenausgleich zwischen beiden Mächten Stabilität und Prosperität für Europa.

Der Ideenaustausch mit Westeuropa ist für Deutschland lebensnotwendig. Aber eine Westfixierung der deutschen Optik, wie sie infolge der stalinistischen Verbrechen nach 1945 eingetreten ist, kann langfristig nicht im deutschen Interesse liegen. Preußen hat nicht nur gezeigt, daß es die politische Fähigkeit besaß, mit Rußland umzugehen, sondern es baute auch eine Vielzahl von geistigen Verbindungslinien auf. Die westliche Ablehnung Preußens ist das Korrelat der Ostorientierung dieses Staates. Im weitesten Sinne gibt es auch zwischen Deutschland und Rußland zahlreiche gemeinsame Anknüpfungspunkte. Rußland hat ein europäisches Antlitz mit asiatischen Zügen. Dieses europäische Gesicht hat seine Prägung ganz wesentlich unter deutschem Einfluß erfahren. Die asiatischen Züge mögen uns fremd sein, aber sie könnten dazu beitragen, eine für Europa sinnvolle Asienpolitik zu betrieben. Keinesfalls darf sich Deutschland zukünftig dadurch mißbrauchen lassen, daß es sich im Interesse überseeischer Mächte gegen Rußland in Stellung bringen läßt. Preußen bietet ein historisches Beispiel, daß sich bei allen Problemen, die in der politischen Realität zwangsläufig auftreten, ein fruchtbarer Ausgleich gefunden werden kann.


Foto-Text: Stunden der Entscheidung: In der Mühle von Poscherun unterzeichnen zur Jahreswende von 1812/13 der russische General Diebitsch-Sabalkansky und Preußens General Yorck gegen den Willen seines Königs die Konvention von Tauroggen, die bis in die Gegenwart vielfach als wegweisendes Grundmuster und als Möglichkeit für eine deutsch-russische Annäherung beschworen wird. Doch auch nach dem Zusammenbruch des Bolschewismus fehlen hierfür bislang ermutigende Signale aus Moskau. Foto: Ullstein