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13.10.01 »Wettbewerb der Erinnerungen« in Guben

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 13. Oktober 2001


»Wettbewerb der Erinnerungen« in Guben:
Trauer um verlorene Mitte
Deutsch-polnische Geschichts- und Zukunftsperspektiven an der Neiße
von Martin Schmidt

Für Frankfurt, Guben und Görlitz schließt die Aussicht auf einen EU-Beitritt Polens große Hoffnungen ein und ist zugleich mit vielen Vorbehalten, ja Ängsten verbunden. Vor allem die Perspektive auf ein Zusammenwachsen mit den durch den Grenzverlauf abgetrennten Stadtteilen jenseits von Oder und Neiße lockt. Ganz besonders in Guben.

Diese in den letzten Kriegsmonaten zum Kampfplatz gewordene und zu 85 Prozent zerstörte Stadt ist durch die Teilung in ihren Grundfesten erschüttert worden. Liegt bei Frankfurt und Görlitz das historische wie wirtschaftliche Herz westlich der Oder-Neiße-Linie, so ging der diesseits der Lausitzer Neiße gelegenen Gubener Vorstadt das alte Zentrum verloren, während dem östlichen Kern (polnisch: Gubin) fast die gesamte gewerbliche Basis abhanden kam.

Aufschlußreich hinsichtlich des Bewußtseins von Deutschen und Polen, die heute in der Doppelstadt leben, sind die Ergebnisse eines von polnischen Soziologen der Universität Posen entworfenen, im Dezember 1999 ausgeschriebenen Wettbewerbs „Guben/Gubin - Leben an und mit der Grenze“.

Die am 2. Februar dieses Jahres in einer gemeinsamen Stadtverordnetenversammlung mit Preisen geehrten vier deutschen und drei polnischen Beiträge sowie weitere 15 eingegangene Texte sind im zweisprachigen „Deutsch-Polnischen Informationsbulletin Trans-odra“ dokumentiert. Herausgegeben wurde die Broschüre im Juli von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Brandenburg.

Bei den deutschen Autoren finden sich Rückblicke auf die Zeit der ersten Öffnung der Ostgrenze zwischen 1972 und 1980 und die damaligen offiziellen Propaganda-Begegnungen an der sogenannten „Friedensgrenze“. Auch der Zustrom von polnischen Arbeiterinnen in die Textilfabriken der „Wilhelm-Pieck-Stadt Guben“ (dieser zweifelhafte Ehrentitel wurde der Stadt 1961 zur Erinnerung an den dort geborenen ersten Präsidenten der DDR verliehen), die sichtlich bessere Versorgung der DDR gegenüber der Volksrepublik Polen und schließlich die Entwicklung nach der Wiedervereinigung 1990 kommen zur Sprache.

Die Ausführungen sind ebenso wie die der polnischen Teilnehmer von unterschiedlicher Güte, aber meist lesenswert. Der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit stehen alle Autoren aufgeschlossen gegenüber, was sie, wie es im Vorwort heißt, vermutlich von der Mehrzahl der jeweiligen Bevölkerung unterscheidet.

Einen besonders großen Stellenwert hat die Erinnerung an die Vertreibung aus dem Ostteil Gubens am 20. Juni 1945, desgleichen die Sehnsucht nach dem verlorengegangenen historischen Zentrum.

Typisch für die Zeitzeugenberichte über den Verlust der ostdeutschen Heimat sind die völlige Überraschung über den Ausweisungsbefehl und oft auch das lange Herumirren auf der anderen Seite der Demarkationslinie, wo man verzweifelt nach einer neuen Unterkunft suchte. Gemeinsam war anfangs die Überzeugung, die Vertreibung von Haus und Hof würde eine vorläufige sein. Erst allmählich setzte sich die bittere Erkenntnis von der Endgültigkeit des Heimatverlustes durch.

Überzeugend in ihrer Authentizität und schlichten Menschlichkeit sind die „Erinnerungen an unsere Vertreibung 1945“ des mit dem 1. Preis bedachten Autors Horst Göhler. Als dieser sein vier Kilometer östlich der Neiße gelegenes Heimatdorf Haaso 1974 wiedersah, wurde er von den Bewohnern seines Hauses - einer aus den ostpolnischen Gebieten der heutigen Westukraine stammenden Familie - aufs herzlichste begrüßt.

Der Mann hatte im Krieg als Zwangsarbeiter bei deutschen Bauern gearbeitet, deren Sprache gelernt und angesichts einer guten Behandlung ein positives Deutschenbild entwickelt. Die Freundschaft beider Familien hält bis heute an.

Man ist sich, so Göhler, darin „einig, daß wir, als die ehemaligen Besitzer, und sie, als die jetzigen, im Ergebnis dieses wahnwitzigen Krieges alle nur Verlierer waren“.

Literarische Qualitäten zeichnen den Text Klaus Pochers aus, der von der Jury einen 2. Preis zugesprochen bekam. Sein großes Thema neben der Freundschaft zu einer jungen Polin ist die Wiederbegegnung mit der Schützeninsel in der polnischen Hälfte des Grenzflusses. Dort hatte sich das nach dem Krieg niedergebrannte Stadttheater befunden. Heute ist es ein hochsymbolisches Niemandsland, oder, um mit Pocher zu sprechen, ein Ort, wo man die „schwere Luft bedeutungsvoller Vergangenheit“ atmet. Für die deutschen Gubener steht die Insel als einstiges Kulturzentrum stellvertretend für die zerstörte Bausubstanz insgesamt - von der Hauptkirche über das Postamt, Schulen, Kaufhäuser und Banken bis hin zu zahlreichen schmucken Villen.

Zugleich ist mit der Insel die Hoffnung verbunden, daß sich die Geschichte im Fluß befindet und jetzt die Chance für einen grenzübergreifenden Neubeginn bereithält.

Aus dem entvölkerten Hauptteil Gubens waren in den ersten Nachkriegsjahren Unmengen an Ziegelsteinen für den Wiederaufbau Warschaus abgeschleppt worden. Der Kanadier Charles Wassermann notierte noch 1957 in seinem erschütternden Reisetagebuch „Unter polnischer Verwaltung“ über die Stadt in der Niederlausitz: „Der schwerbeschädigte Turm und das ausgebrannte Schiff der spätgotischen Stadtkirche ragen als düstere Wahrzeichen aus einem riesigen Trümmerhaufen. Der östliche Teil der Stadt (...) ist besonders trostlos. Hier mögen Villen gestanden haben. Heute wachsen dort nur Haselnußbüsche.“

Über fünf Jahrzehnte nach Kriegsende denkt man in der westlichen Vorstadt mehr denn je über die „verlorene Mitte“ nach und darüber, wie an die alten Strukturen der einst so wohlhabenden Hut- und Tuchmacherstadt angeknüpft werden kann.

Bestehende Pläne für ein neues Stadtzentrum auf einer Industriebrache sind Behelfslösungen und zeugen davon, daß an eine schnelle und weitgehende Integration mit dem polnischen Ostteil keiner der Gubener Kommunalpolitiker so recht glauben kann.

Auf polnischer Seite, wo man bis heute in der Theaterinsel nicht das verlorene Herz Gubens sieht, sondern vielmehr, wie die Redaktion im Vorwort herausstelt, einen am Rand gelegenen „Bestandteil der Grenze - auch der Abgrenzung - zum Nachbarland“. Entsprechend bewegt die im einstigen Ostpolen oder im Posener Raum verwurzelten polnischen Teilnehmer des „Wettbewerbs der Erinnerungen“ vor allem die schwierige Identitätsfindung in der fremden Stadt.

Der polnische Soziologe J. H. Turner spricht von der „Krise der früheren und künftigen Identitäten“. Lange glaubte man, in einem Provisorum zu leben; man saß, wie es Tadeusz Firlej in seinem Bericht ausdrückte, „auf gepackten Koffern“, weil man nicht wirklich glaubte, „daß die Deutschen nicht in diese Gebiete zurückkommen würden“. Inzwischen seien, so glaubt der Soziologe Stanislaw Lisiecki, „Zeichen der sozialen und kulturellen Adaptation des vorgefundenen Raumes“ vorzufinden.

Aller polnischen Reserviertheit zum Trotz hat sich die zerrissene Stadt als Teil der „Euregio Spree-Neiße-Bober“ 1996 zum Modellvorhaben „Euro-Stadt Guben/Gubin“ erklärt und als solches auf der Expo in Hannover vorgestellt.

Man will durch den Bau zweier Brücken den noch verwehrten Zugang zur Schützeninsel wieder ermöglichen. Dem im letzten Jahr angelaufenen Projekt zufolge soll auf der Insel ein Park als kulturelle Begegnungsstätte entstehen.

Andere gemeinsame Vorhaben konnten - nicht zuletzt dank umfangreicher EU-Hilfen - bereits umgesetzt werden, etwa das im Mai 1998 eingeweihte Klärwerk und die deutsch-polnische „Europaschule ‚Marie & Pierre Curie‘“. Über eine vereinheitlichte Raum-, Investitions- und Verkehrsplanung wurde wiederholt verhandelt. Nicht zuletzt steht der Wiederaufbau der Altstadt mit vereinten Kräften zur Diskussion.

Schon jetzt sind beide Kommunen „vereint“ durch die Problematik hoher Arbeitslosenraten von über 20 Prozent und einer fortgesetzten Abwanderung jüngerer Leute, die im Westteil noch bedrückendere Ausmaße als im Osten angenommen hat.

Zählte Guben 1939 fast 46 000 Einwohner, so sind es heute in dem von Plattenbauten geprägten Westteil gut 25 000 (1990: 33 000) und östlich der Neiße noch weniger. Die durch die DDR fortgeführte Textil- und Hutproduktion konnte nach der Wende nur eingeschränkt erhalten werden, dennoch ist die Wirtschaftslage besser als am anderen Ufer, wo Handel und Kleingewerbe das Bild bestimmen.

Die Lohnunterschiede sind groß, und im Westteil gibt es begründete Furcht vor einer „zu schnellen“ EU-Osterweiterung und möglichen Folgen eines Massenzuzugs polnischer Arbeitskräfte für den ohnehin gebeutelten Arbeitsmarkt. Darüber hinaus prägen Themen wie Diebstahl, Schmuggel oder Prostitution die Wahrnehmung.

Man muß in Guben im Zuge der EU-Erweiterung an das Band der gewaltsam unterbrochenen Kommunalgeschichte anzuknüpfen versuchen. Eine gesunde Portion Skepsis eingeschlossen. Letztere legt auch der Wettbewerbsautor Wolfgang Schern nahe, wenn er über die grenzüberschreitenden Begegnungen schreibt: „Verstand und Gefühl füreinander werden nur für den Moment angesprochen, wenig ständige Kontakte bleiben, die Masse aber ist nicht erreichbar. Sogar die Öffnung der Grenze garantiert daher nicht, eine Gemeinschaft aus den beiden Teilen der geteilten Stadt zu schaffen.“

Bezug: Deutsch-Polnische Gesellschaft Brandenburg, Friedhofsgasse 2, 14473 Potsdam, Tel.: 0331-2804583, Fax: 2804584