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13.10.01 Bußbereitschaft und ihre Folgen: »Ich entschuldige mich«

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 13. Oktober 2001


Bußbereitschaft und ihre Folgen:
»Ich entschuldige mich«
Die internationale Zivilbußpraxis auf dem Prüfstand

Der Philosoph Hermann Lübbe macht in der modernen Gesellschaft eine großräumige Tendenz der Moralisierung des öffentlichen und privaten Lebens aus. Diese Entwicklung hält er für eine epochenspezifische Notwendigkeit. Folgt man ihm, so muß die Gesellschaft eine immer detailliertere öffentliche Moral hervorbringen, die die Pflichten des Menschen gegenüber sich selbst und anderen gegenüber beschreibt, je freier die Menschen werden; sonst drohe die Gefahr, daß ohne diese Regeln der selbstbestimmten Lebensführung die Menschen vor lauter Freiheit keine verläßlichen, berechenbaren Verhaltensweisen mehr an den Tag legen. Auf diese aber ist eine sich ständig weiter ausdifferenzierende Gesellschaft angewiesen.

Den Siegeszug des Zwangs zur öffentlichen Moral im Leben der Menschen als erforderliche Antwort der Gesellschaft auf die wachsenden Freiräume der Bürger in den hochentwickelten Staaten behandelt Lübbe in seinem neuen Essay aber nur am Rande. Dort beschäftigt er sich vorwiegend mit dem öffentlichen Eingestehen historischer Schuld auf dem internationalen Parkett. Er deutet dieses Phänomen als eine Sonderform öffentlicher Moral. Für den emeritierten Professor für Philosophie und Politische Theorie besitzt das neue politische Bußritual bereits eine solche Wirkungsmacht, daß es die Beziehungen auf der Ebene der internationalen Politik zu prägen beginnt.

Für die deutsche Politik ist mittlerweile die Bitte um Entschuldigung und Vergebung für früher begangenes Unrecht zur allgemeinen Handlungsmaxime geworden. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit wird vor dem Vergessen gewarnt; und Opfergruppen beziehungsweise ihre Nachfahren und Anwälte verstehen es, in Form von Überrepräsentation im öffentlichen Diskurs, Wiedergutmachungsleistungen und so weiter Kapital zu schlagen aus dem Vergangenheitsbewältigungseifer einer „Canossa“-Republik, die sich in ihrer Bußfertigkeit von keinem anderen Land der Erde übertreffen lassen möchte.

Es mag daher überraschen, wenn Lübbe auf die Internationalität dieses Phänomens hinweist und dem politischen Bußritual viele positive Seiten abgewinnt. Zur Untermauerung seiner These ruft er einige Beispiele in Erinnerung, in denen sich hohe Staatsrepräsentanten für die Handlungen ihrer Länder in der Vergangenheit entschuldigten. Er verweist unter anderem auf das Eingeständnis Japans, während seiner Kolonialherrschaft dem koreanischen Volk Leiden zugefügt zu haben, und auf eine offizielle Bekundung Rußlands, in der die Vorgänge in Katyn 1940 als Verbrechen bezeichnet werden. Derlei Entschuldigungen könnten als in der Geschichte seit ewigen Zeiten bekannte Selbstbeschuldigungsrituale gedeutet werden, mit denen Staaten, die sich in einer Defensivposition befinden, bei den „Siegern der Geschichte“ um nachsichtige Behandlung oder Hilfs- leistungen bitten.

Aber nach Lübbe besteht das qualitativ Neue in der Zivilbußpraxis darin, daß Staaten nicht profan auf Druck von außen ein schlechtes Gewissen zur Schau stellen und es instrumentell gebrauchen, sondern Nationen unerzwungen ihre Schuld bekennen, die sie dazu treibt, sich zu erniedrigen und die Untaten zu bekunden, um bei den Adressaten der Entschuldigungsbitte reumütig auf die Gnade der Vergebung zu hoffen. Für den Nachweis einer sich unaufhaltsam und global ausbreitenden Zivilbußpraxis ist es daher von großer Bedeutung, ob Lübbe auch belegen kann, daß Entschuldigungsadressen nicht nur von den Verlierernationen des 20. Jahrhunderts an die Nachkommen der Opfer gerichtet wurden. Das fällt ihm schwer.

Bei strenger Auslegung kann er nur wenige Beispiele benennen, in denen Staaten, die unbestreitbar unabhängig von einer „Weltmeinung“ agieren können, zu Akten des Eingeständnisses historischer Schuld schritten. Mehrere von weißen Einwanderern gegründete Staaten drückten inzwischen ihr Bedauern über die Kolonisierungspolitik ihrer Vorfahren aus, die die Kulturen der Urbevölkerungen fast vollständig zerstörte. Und die USA, mithin als derzeit einzige Supermacht der Erde jederzeit in der Lage, eine Interpretation der internationalen Regelwerke nach ihren nationalen Interessen durchzusetzen, entschuldigten sich 1998 durch ihren höchsten Repräsentanten für die Beteiligung der Amerikaner an der Sklaverei vor rund einem Vierteljahrtausend.

Welchen moralischen Druck die „Weltöffentlichkeit“ mittlerweile ausüben kann, zeigt der Umstand, daß US-Präsident George W. Bush sich genötigt sah, Worte des Bedauerns ob des Luftzwischenfalls am Rande des chinesischen Hoheitsgebiets auszusprechen, weil dabei ein chinesischer Pilot sein Leben lassen mußte. Gleichwohl reichen die von Lübbe genannten Beispiele nicht aus, um daraus einen irreversiblen Trend zur vergangenheitspolitischen Entschuldigungspraxis ableiten zu können. Jedoch zeigt die Zusammenschau: Öffentliche Bußbekundungen kommen in der Staatenwelt häufiger vor, als es vielleicht in einem Land wahrgenommen wird, das geradezu eine Inflationierung der Vergebungsbitten erlebt. Dafür ist Lübbe zu danken.

Gewinnbringend ist der Essay auch deshalb, weil er jenseits deutscher Selbstbezogenheit einen internationalen Vergleich der Bußpraxis vornimmt. Das erlaubt es auch, die „destruktiven Wirkungen einer Moralisierung der Vergangenheitspolitik“ aufzuzeigen. „Das öffentlich bekundete schlechte Gewissen evoziert die Geneigtheit, es auszubeuten, und die Bußfertigkeit wird progressiv verlaufenden Tests der Zahlungsbereitschaft unterworfen“ (S. 54).

Die öffentliche Bitte um Vergebung für die von den Vorfahren begangenen Untaten zielt auf die Heilung einer schuldhaft verletzten Beziehung. Schuldeingeständnisse sollen neuen Frieden schaffen. Diese Wirkung kann nicht eintreten, wenn die Nachkommen der Leidensopfer nicht erkennen, daß Leidenserinnerung es vermag, einen wichtigen Beitrag zur Neustiftung einer nationalen oder ethnischen Identität der Opfernachfahren zu leisten. Als Nachfahren von Tätern können Völker aber nicht in gleicher Weise identifiziert werden. Es gibt keine Kollektivschuld. „Rächer freilich halten diesen Unterschied für unbeachtlich und werden eben darüber in der politischen Interaktion von Nationen zu Ultranationalisten“ (S. 78).

Vom Büßer ist Gewissenserforschung, Reue und Wiedergutmachung zu fordern, die aber nur symbolischen Charakter haben kann. Weder kollektive Haftungspflichten noch Schadensersatzansprüche sind rechtlich konstruierbar. Deshalb wertet Lübbe die Reaktion eines afrikanischen Komitees, auf die Entschuldigungsbitte Clintons wegen der Verstrickung seiner Vorfahren in den Sklavenhandel mit der Präsentation einer Schadensersatzforderung in Höhe von 777 Trillionen Dollar zu antworten, als ein Beispiel für die destruktive Wirkung eines Entschuldigungsversuchs. Zudem ist für ihn das Verhalten des Komitees auch ein Beleg für die moralisch-politische Nichtbetroffenheit dieser Afrikaner.

Ob auch in anderen Fällen Bußbitten scheitern müssen, weil die Nachfahren der Opfer sich über die Sündenbekenner erheben wollen und nur an einem ausbeutbaren Beziehungsverhältnis Interesse haben, läßt Lübbe offen. Hier hätte man sich eine deutlichere Stellungnahme gewünscht.

Unmißverständlich zeigt für Lübbe der internationale Vergleich der Zivilbußpraxis hingegen, daß die Deutschen zu einer ausgeprägten Schuldbekenntnisfreudigkeit neigen und schnell bei der Hand sind, andere Nationen wegen angeblicher mangelhafter Bußbereitschaft zu tadeln. Lediglich gegenüber den Nachfahren der Großväter des kommunistischen Terrors stellt er eine große Nachsicht fest. Als Ursachen macht er die Angst vor Relativierung der NS-Verbrechen und die Neigung linker Intellektueller aus, bei der Beurteilung der kommunistischen Verbrechen stets die „emanzipatorischen“ Motive der Täter als schuldmindernd anzuerkennen.

Dabei handelt es sich aber um letzte Rückzugsgefechte. Denn Lübbe prognostiziert als Konsequenz einer zunehmenden internationalen Zivilbußpraxis auf Basis einer entideologisierten Ver- gangenheitsvergegenwärtigung das Ende asymetrischer geschichtsmoralischer Urteile und „die wirksame Errichtung des Verbots …, Untaten im Nachhinein mit Rekurs auf ihre vermeintlich höheren Zwecke zu legitimieren“ (S. 40). Sollte es tatsächlich dazu kommen, wäre die Ausbreitung des neuen politischen Bußrituals zu begrüßen. M. H.

 

Hermann Lübbe: „,Ich entschuldige mich‘. Das neue politische Bußritual“. Siedler Verlag, Berlin, 2001. ISBN 3-88680-716-9. 138 Seiten. Preis: 29,89 DM