27.04.2024

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22.12.01 Die ostpreußische Familie extra

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. Dezember 2001


Die ostpreußische Familie extra
Leser helfen Lesern
Ruth Geede

Lewe Landslied

und Freunde unserer

Ostpreußischen Familie,

alle Jahre wieder kommt eine „Extra-Familie“ sozusagen als Überraschungspäckchen zum Weihnachtsfest. Denn dann bringen wir die schönsten Geschichten der letzten Wochen. Und nun ist es wieder einmal soweit, und ich packe sie für alle Leserinnen und Leser aus, die sich mitfreuen wollen.

Beginnen wir gleich mit einer wunderschönen Geschichte. Es ist die von einem Wiederfinden von zwei Menschen, die sich zum letzten Mal vor fast 60 Jahren gesehen haben. Und die nie wieder etwas voneinander hörten, weil sie sich gar nicht suchten. Bis das Schicksal die Weichen stellte.

Das Stellwerk war unsere Ostpreußische Familie. An die wandte sich Gertrud Janko-Stromberg, um nach einem ehemaligen Verwundeten zu suchen, den sie 1942 im Inselsee-Lazarett Güstrow gepflegt hatte. Helmut Ehrich stammte vermutlich aus Ostpreußen - daher die Bitte an uns, nach diesem zu suchen. Der Grund: Frau Janko besaß wunderschöne Gedichte, die der Verwundete an der Front und im Lazarett geschrieben hatte, einige waren der damals erst 22jährigen Rote-Kreuz-Schwester gewidmet. Deshalb hatte Frau Janko die Gedichte noch immer bewahrt, wollte sie aber nun, wenn möglich, dem Verfasser zurückgeben. Es meldete sich der Schwager des Gesuchten, der Frau Janko leider mitteilen mußte, daß der aus dem Samland stammende Helmut Ehrich verstorben sei - aber seine Tochter lebte noch in Klingenthal. Und dieser konnte Frau Janko dann die Gedichte ihres verstorbenen Vaters zusenden.

Soweit kennen wir die Geschichte, denn ich habe bereits über diesen Erfolg berichtet - aber sie geht noch weiter! Denn Frau Janko entsann sich, daß 1942 in dem Lazarettzimmer in Güstrow noch ein Verwundeter aus Ostpreußen gelegen hatte, und von diesem kannte sie Namen und Heimatort: Gert Hein, Lehrerssohn aus Lyck. Was war wohl aus ihm geworden? Das klärte sich sehr schnell: Kaum war die Frage veröffentlicht, meldete sich der Kreisvertreter von Lyck, Gerd Bandilla, bei Frau Janko und teilte ihr mit, daß es sich bei dem Gesuchten um Gert Hein aus Aulacken, Kreis Lyck, handele, dessen Vater tatsächlich dort Lehrer gewesen sei und der heute in Dorum lebe.

Was nun geschah, lass’ ich Frau Janko selber berichten: „Sie können sich kaum vorstellen, wie entsetzlich aufgeregt ich war, als ich den Brief von Herrn Bandilla gelesen hatte. Ich ließ mir von der Telefonzentrale die Nummer von Herrn Hein aus Dorum geben und wählte spontan die Nummer. Es meldete sich Herr Hein, und ich fragte ihn, ob er in Güstrow im Inselsee-Lazarett gelegen hätte. Ich war viel zu aufgeregt, als daß ich noch mehr sagen konnte, aber er fragte gleich: ‚Bist du es, Tutti?‘ Nur die drei Verwundeten aus diesem Zimmer nannten mich so, jede vertrauliche Anrede war doch verboten. Es ist fast nicht zu glauben, daß nach 60 Jahren einer sagt: Bist du es, Tutti? Zunächst sprudelte es nur so aus uns heraus - bei mir natürlich aus den Augen -, haben wir uns doch damals sehr viel bedeutet. Er fragte dann, ob ich ihn besuchen würde, und gleich am nächsten Tag setzte ich mich ins Auto, stand einige Stunden später vor seinem Haus und fragte mich: Hast du auch nicht zu spontan gehandelt, was erwartet dich? Es wurden vier wunderschöne Tage, viele Erinnerungen wurden ausgetauscht, sehr gute Gespräche geführt, die mir in meiner augenblicklichen Lebenskrise weiterhelfen werden. Seine ruhige, sehr ausgeglichene Art, dieses Einfühlungsvermögen kann nur ein Künstler haben!“

Hierzu muß gesagt werden, daß Gert Hein ein vor allem durch seine Enkaustik-Bilder bekannter Maler ist. (Enkaustik ist eine über 2000 Jahre alte Technik, bei der in Wachs gebundene Farben im erwärmten, flüssigen Zustand mit dem Spachtel auf einen lasierten Malgrund gestrichen werden.) Die ostpreußische Heimat des Malers findet vielfältigen Ausdruck in seinen Werken. Für Frau Janko, der Gert Hein einige zeigte, waren „In Gottes Hand“ und „Die Flucht“ die eindrucksvollsten. Gerade die Begegnung mit dem Künstler Gert Hein war für Frau Janko-Stromberg ein Erlebnis, von dem sie noch lange zehren wird. „Ich bin dankbar, Gert Hein wiedergefunden zu haben, und hoffe sehr, ihn noch behalten zu dürfen. Der Abschied war etwas schmerzlich, da man in unserem Alter nie weiß, ob man sich wiedersieht!“ beendet Frau Janko-Stromberg ihr langes Dankesschreiben.

Es ist nicht das einzige Wiederfinden nach so langer Zeit, das unsere Ostpreußische Familie bewirkt hat. Für Dora Flak hat sich ein Herzenswunsch erfüllt: Sie fand vertraute Menschen aus ihrer Heimat und bekam dadurch einen Teil ihrer Identität zurück. Denn das Schicksal der in Königsberg Geborenen, die erst seit zwei Jahren in Deutschland lebt, war schwer und lastet noch heute auf der 66jährigen: Vater 1944 gefallen, Mutter und Großmutter in Königsberg verhungert, als Zehnjährige bettelnd durch Litauen irrend, dann endlich Aufnahme in eine arme litauische Familie. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich als Geschirrwäscherin und Köchin - bis zur Rente. Ihr litauischer Mann, den sie 1969 geheiratet hatte, verstarb 1984, die Ehe blieb wohl kinderlos. Deshalb ist sie heute noch sehr allein und hat auch in Deutschland kaum Freunde gefunden. „Jede Zuschrift hilft ihr über die Einsamkeit hinweg“, hatte ich geschrieben.

Und es kamen Zuschriften, bis Anfang Oktober waren es schon 16 Briefe, inzwischen werden es noch mehr geworden sein. Das Stichwort war „Schrötterstraße“, denn dort hatte Dora mit ihren Eltern Willi und Gertrud Flak gewohnt. So kamen die meisten Antworten von ehemaligen Bewohnern und vor allem von Schülerinnen der Hans-Schemm-Schule, in die auch Dora Flak 1941 eingeschult wurde. Ein Foto mit der Schultüte hat sie noch gerettet und es wie einen Talisman gehütet. Vielleicht ist es tatsächlich ein Glücksbringer, denn „wir alle aus der Schrötterstraße, besser gesagt, die ganze Schulgemeinschaft, wollen Dora helfen“, schreibt Edith Lantsch aus Rochlitz. Sie und andere Hilfsbereite hatten sofort an Frau Flak nach Schwerin geschrieben, aber es kam in den ersten Wochen keine Antwort. Etwas enttäuscht wandten sie sich an mich, und ich bat sie, noch ein wenig Geduld zu haben, denn Dora Flak dürfte die deutsche Sprache kaum beherrschen, und das Schreiben würde ihr vermutlich sehr schwerfallen. Und ich hatte recht, wie dann ein Brief an Ingrid Nowakiewitsch bewies. In ihm teilte Frau Flak in unbeholfenen Worten mit, daß es ein großes Unglück für sie sei, daß sie ihre Muttersprache 55 Jahre lang nicht sprechen durfte. Nun bemüht sie sich, Deutsch zu lernen, aber es fällt ihr natürlich nicht leicht. Alle müssen Geduld haben, aber jeder Kontakt mit Menschen aus ihrer Kindheit tut ihr so gut, so fühlt sie sich nicht mehr allein. Vielleicht - so hoffen die ehemaligen Schulgefährten - können sie Dora im nächsten Jahr beim Treffen der Schulgemeinschaft begrüßen. Und sicher wird sie jetzt zum Fest viel Weihnachts- post erhalten und darüber glück-lich sein, daß sie endlich durch unsere Ostpreußische Familie - ja, so kann man schon sagen: heimgefunden hat!

Unsere nächste Geschichte steht als Beispiel für viele ähnliche Suchwünsche, denn sie betrifft die Generation, die jetzt in das Rentenalter gekommen ist und endlich Zeit hat, Fragen der Vergangenheit aufzugreifen und zu verarbeiten. Bisher standen für die Frauen und Männer, die zur Zeit der Vertreibung noch Kinder waren, die Bewältigung der Alltagsprobleme im Vordergrund: Familie, Beruf, Existenzsicherung, Krankheiten, bei Frauen die Doppelbelastung, oft auch durch die Pflege älterer Familienmitglieder. Nun haben sie Zeit, über die Vergangenheit nachzudenken, die bis in die Kindheit und zu den Wurzeln der Familie zurückführt. Und da tauchen dann auf einmal Fragen auf, die bisher nie gestellt wurden und die vielleicht auch niemand beantworten konnte oder wollte. Denn oft schwiegen die Älteren, weil sie selber die schweren Erlebnisse von Vertreibung und Kriegsschrecken nicht verarbeitet hatten und „einfach nichts davon hören wollten“.

Auch Ursula Kunert hatte den Gedanken an eine Verwandtensuche immer irgendwie „im Hinterstübchen gehabt“, wie sie sagt, fand aber erst jetzt den Weg zu uns, um nach Verwandten der mütterlichen Linie zu forschen. Sie wußte kaum etwas von der ostpreußischen Gutsbesitzerfamilie Scheller. Ihr Urgroßvater August Scheller war in Illgossen, Kreis Angerburg, geboren, Großmutter Agnes und ihr Bruder Walter Scheller auf dem Gut Steinbach am Siewener See. Dieser war Bahnspediteur in Mehlsack, hatte geheiratet, von Kindern wußte Frau Kunert nichts. Das einzige, was sie wohl von ihrer Mutter erfahren hatte, war, daß Walter Scheller nach dem Krieg in einem Lager bei Danzig gewesen sei. Von da an hatten sie nichts mehr von dem Onkel ihrer Mutter gehört.

Und nun fragte Frau Kunert bei uns an, ob die Möglichkeit einer Suche nach eventuellen Nachkommen durch unsere Ostpreußische Familie bestände. Natürlich - obgleich ich wenig Hoffnung hatte, denn es stand ja nicht einmal fest, daß es Nachkommen gab. Walter Scheller, * 1895, konnte auf keinen Fall mehr am Leben sein. Und dann geschah doch ein kleines Wunder: Schon kurz nach der Veröffentlichung im Oktober erhielt Frau Kunert zwei wertvolle Hinweise, und sofort ging sie diesen nach. Noch am selben Tag fand sie durch ein Telefongespräch den Sohn von Walter Scheller, der ebenso überrascht und erfreut war wie Frau Kunert. Der 81jährige, der heute in Frankfurt lebt, hatte schon lange versucht, seine Verwandte ausfindig zu machen, was aber auf Schwierigkeiten stieß, da Frau Kunert durch Heirat einen anderen Namen trug. Er konnte ihr mitteilen, daß sein Vater schon kurz nach der Entlassung aus dem Danziger Lager einer schweren Krankheit erlag.

Doch jetzt hat Ursula Kunert jemanden, mit dem sie über Ostpreußen und ihre gemeinsamen Vorfahren reden kann. Da diese Salzburger Abstammung waren, interessiert sie sich sehr für die Einwanderung und Siedlungsgeschichte der Glaubensflüchtlinge. Zeit hat sie endlich dazu in ihrem stillen Refugium am Wald, den sie liebt. Vielleicht ist auch das ein ostpreußisches Erbe.

Und nun kommen wir zu unserm Christkind, so können wir den kleinen Mantas Stankevic nennen, da wir so gerne zum Weihnachtsfest von ihm und seinem Ergehen berichten, weil uns sein Schicksal so ans Herz gewachsen ist. Das heißt: So klein ist er nun auch nicht mehr, wie sein Foto beweist, das ein Kindergesicht mit großen, ernsten Augen zeigt.

Vielleicht wirkt er älter, als er ist, weil der Siebenjährige soviel Schweres durchmachen mußte und wahrscheinlich längst nicht mehr am Leben wäre, wenn deutsche Helfer ihm nicht die not- und aufwendigen Operationen und Behandlungen ermöglicht hätten. Noch einmal kurz seine Geschichte: Unser Landsmann Dr.-Ing. Detlef Arntzen wurde auf einer Reise durch Litauen von der Memelländerin Ursula Jakubeit um alte Gardinen gebeten, damit sie ihren fünfjährigen Urenkel wickeln konnte, denn „bei dem Jungchen läuft immer alles aus dem Bauch!“ Dr. Arntzen und andere Landsleute nahmen sich des Falles an, und es kam eine großartige Hilfsaktion zustande, zu der vor allem der Ostseereport des NDR 3 und viele Spenden - auch aus unserem Leserkreis - beitrugen. Mantas mußte sich in der Universitätsklinik Kiel einer sehr komplizierten Operation unterziehen, die aber zufriedenstellend verlief. Im vergangenen Jahr kam das Kind mit seiner Mutter Rasa wieder nach Kiel zur Nachuntersuchung, die ergab, daß Mantas Gesundheit nicht mehr gefährdet ist. Mantas konnte in seiner Heimat in die Schule gehen und erwies sich als eifriger Schüler.

Soweit hörte sich alles sehr positiv an. Aber dann schrieb vor einigen Monaten Ursula Jakubeit an Dr. Arntzen, daß es Mantas gar nicht so gut ginge. Er hätte Blut im Bauch und Geschwüre, es könnte Krebs sein. Der Junge kam nach Vilnius und wurde dort operiert. Einige Wochen später rief die Urgroßmutter bei Dr. Arntzen an und teilte ihm mit, daß es Mantas besser ginge, er jetzt Tabletten bekäme und wieder die Schule besuchen könne. Das Kind lebt wieder bei seiner Mutter Rasa Stankevic in 5030 Kedainiai, Kestucio 21/1, Litauen. Sie freut sich über jede Post aus Deutschland, noch mehr natürlich die Urgroßmutter Ursula Jakubeit, die so viele schwere Bündel auf ihren alten Schultern tragen muß. Denn sie hilft auch ihrem „Jungchen“, wenn es aufgrund seiner Krankheit, die sich auch in manchen Körperfunktionen zeigt, mit seinen Mitschülern Schwierigkeiten hat.

Eine gute Nachricht aber kann man der Familie in Litauen unter den Weihnachtsbaum legen: Für Mantas ist die Nachuntersuchung in Kiel - in Begleitung von Mutter und Urgroßmutter - im nächsten Frühjahr gesichert. Vielleicht kann er doch einmal ein vollkommen normales Leben führen. Das wünschen wir dem kleinen, tapferen Mantas von Herzen.

Eure

Ruth Geede

Wiedersehen nach 60 Jahren: Gertrud Janko-Stromberg und Gert Hein Foto: privat

Mantas Stankevic: Kleiner Junge - großes Leid Foto: privat