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05.01.02 »Das empfundene Vakuum fülle ich literarisch auf«

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 05. Januar 2002


»Das empfundene Vakuum fülle ich literarisch auf«

Die Hauptfiguren in den Büchern von Hans-Ulrich Treichel („Von Leib und Seele“,1992, „Der Verlorene“,1998) sind durchweg komplexbeladene Personen, die alles falsch machen, übers Ohr gehauen werden und dauernd in peinliche Situationen geraten. Sie werden von den Furien ihrer manischen Selbstzweifel getrieben, und da sie nicht die Kraft aufbringen, aus ihren Einsichten entsprechende Konsequenzen zu ziehen, macht ihre Grübelei sie nicht klüger, sondern nur lebensuntüchtig und zu verkrachten Existenzen: Zu intelligent und sensibel, um sich in das entfremdete Erwerbsleben zu stürzen, zu unbeholfen, um als Überflieger jene exklusive Stellung, von der sie träumen, auch nur annähernd zu erreichen.

Ihre Verunsicherung hat einen verborgenen Grund: Die Figuren stammen aus Elternhäusern, die durch Krieg, Flucht und Vertreibung traumatisiert sind. In „Der Verlorene“ (1998) war der Bruder des Erzählers auf der Flucht aus Ostpreußen abhanden gekommen, als die Mutter von den Russen vergewaltigt wurde. Die Eltern leben deshalb in einem Gefühl von Schuld und Scham und sind somit unfähig, ihrem zweiten Sohn den nötigen Vorrat an Geborgenheit und Selbstsicherheit mit auf den Weg zu geben.

In seinen „Frankfurter Vorlesungen“ hat Treichel dargestellt, daß er weitgehend autobiographische Erfahrungen verarbeitet hat. Die erste Vorlesung ist „Lektionen der Leere“ überschrieben. Über die Grunderfahrung der Leere heißt es: „Die Eltern, die ich kennengelernt hatte, waren Eltern ohne Vergangenheit. Und das hieß für mich zuallererst: Eltern ohne Eltern. Wenn die Eltern keinen Imperfekt haben, haben die Kinder keinen Plusquamperfekt. Beides aber braucht man, um erzählen zu können. Es gab nichts, weder Personen noch Orte, worauf ich über meine Eltern hinaus zurückblicken konnte. Ich hatte keine Vorvergangenheit. (...)“ Der erlebte Schrecken hat auch die Erinnerung der Eltern blockiert und sie verstummen lassen. Ein Trauma, das sich auf den Sohn teilweise übertragen hat. Treichel: „Der Mensch ist ein Vertriebener, der aus dem Osten kommt. Oder, genauer: Der Mensch ist ein Vertriebener, der aus dem Osten kommt und Angst vor dem Russen hat. Das ist in aller Kürze mein Menschenbild. Ich habe es mit den Jahren natürlich modifiziert, aber im Grund erweist es sich als äußerst resistent gegen jede Lebenserfahrung und jedes Dazulernen.“

Für Treichel hat die Literatur auch eine therapeutische Funktion. Er bekennt sich dazu, „sein Lebensproblem schreibend zu bewältigen“ und das schmerzhaft empfundene Vakuum literarisch aufzufüllen. „Die Erfindung des Autobiographischen entlastet vom Authentizitätsdruck. Schreibend stelle ich fest, daß ich nicht der sein muß, der ich bin.“ Es ist kein Zufall, daß viele der größten deutschen Nachkriegsautoren aus Vertreibungsgebieten stammen. Hans-Ulrich Treichel wurde 1952 in Versmold/Westfalen als Sohn vertriebener Ostpreußen geboren. Seine Frankfurter Vorlesungen zeigen, daß Flucht und Vertreibung weiter auf der literarischen Tagesordnung stehen werden. Thorsten Hinz

Hans-Ulrich Treichel, Der Entwurf des Autors. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Tb., 113 S., 2000, 8,13 E