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12.01.2002 EU-Osterweiterung: Zwischen EUphorie und Frust / Auch faule Kompromisse können es nicht verbergen: Polen ist nicht beitrittsreif

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 12. Januar 2002


EU-Osterweiterung: Zwischen EUphorie und Frust
Auch faule Kompromisse können es nicht verbergen: Polen ist nicht beitrittsreif
von Rudolf Dorner

Wahlkämpfe und anschließende Kassenstürze neuer Regierungen pflegen in der Regel zur Enthüllung unerfreulicher Tatbestände zu führen. Zwar konnte Polen mit stolzgeschwellter Brust auf mehrjährige überdurchschnittliche Wachstumsraten und beachtenswerte Restrukturierungsmaßnahmen verweisen. Ein Erfolg, den sich auch die EU-Kommission als Folge ihrer Beitrittsauflagen im Zuge des Transformationsprozesses zugute schrieb. Doch nun zeigt sich, daß die scheinbar aussichtsreiche Entwicklung weder nachhaltig ist noch aus eigener Kraft bewerkstelligt werden kann.

Man darf sich auch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Wirtschaftsaufschwung in Polen, der von so manchem zum „polnischen Wirtschaftswunder“ hochstilisiert wird, ohne umfangreiche ausländische Investitionen nicht erreicht worden wäre. Investiert wird bekanntlich aber nicht aufgrund von Sympathie, sondern aus purem Profitinteresse.

Viele Polen, insbesondere die Verlierer des Umwandlungsprozesses und diejenigen, die euphorisch großzügige EU-Zuschüsse zur Verbesserung ihres Lebensstandards erwarteten, verfallen zunehmend in Skepsis und Frustration über die vermeintlichen Vorteile einer EU-Mitgliedschaft. Man meint, sich genügend angestrengt zu haben und will nun fürstlich belohnt werden. Der für einen Dauerlauf nötige Atem ist dortzulande aber bekanntlich keine typische Eigenschaft, eher neigt man zum „Genuß sofort“.

Nicht verwunderlich, daß die Polen nach dem Ausbleiben des Massenwohlstandes eine neue Regierung haben wollten, welche die Erwartungen rascher und erfolgreicher zu erfüllen versprach. Der Niedergang des um die Solidarnosc-Wahlaktion (AWS) gruppierten Bündnisses unter Premier Buzek zeichnete sich schon seit längerem ab. Die Buzek-Riege wurde dann auch erwartungsgemäß bei den Neuwahlen am 22. September 2001 durch eine Koalition aus dem prokommunistischen demokratischen Linksbund (SLD), der sozialistischen Arbeiterpartei (UP) und der Bauernpartei (PSL), die zusammen mehr als die Hälfte der Stimmen auf sich vereinen konnten, abgelöst. Interessanterweise erhob sich bei den EU-Mitgliedsländern kein Protestgeschrei.

Die Links-Koalition will nun mittels eines politischen und ökonomischen Sanierungskonzepts die Trendwende herbeiführen. Die Sanierung der öffentlichen Finanzen gilt als vordringlich. Sie soll in geringerem Maße durch Steuererhöhungen als vielmehr durch Einsparungen erreicht werden. Inwieweit es dem neuen Finanzminister Belka, einem Wirtschaftsprofessor, der schon in gleicher Funktion in einer SLD/PSL-Koalition zwischen 1993 und 1997 tätig war, gelingen wird, die Deckungslücke des Staatshaushaltes (deren Höhe je nach Interessenstandpunkt auf zwischen 30 und 90 Milliarden Zloty veranschlagt wird, also rund 8,5 bis 25,5 Milliarden Euro oder 16,5 bis 50 Milliarden Mark) auf ein wirtschaftlich vertretbares Maß zu reduzieren, bleibt fraglich. Denn erstens bedarf die Sanierung und Restrukturierung notleidender Wirtschaftsunternehmen weiterer Stützungsmaßnahmen, und des weiteren müssen im Haushalt unbedingt Mittel für die Kofinanzierung von Programmen im Rahmen der Vorbeitrittshilfen der EU bereitgestellt werden.

Darüber hinaus hat die Bauernpartei PSL in den Koalitionsverhandlungen Unterstützung für ihr Klientel ausbedungen, wie Zuschüsse, höhere staatliche Aufkaufpreise für landwirtschaftliche Produkte, Exportsubventionen und Wegfall der Mehrwertsteuer, die den Haushalt zusätzlich belasten wird. Zweifelhaft ist auch, ob es gelingen wird, die teilweise stark unterschiedlichen Interessen der Koalitionsparteien unter einen Hut zu bringen, um das Sanierungskonzept erfolgswirksam gestalten zu können.

Die Aussichten, die Talfahrt der Wirtschaft zu stoppen und eine Trendwende herbeizuführen, sind düster. Schienen die im Zuge des Transformationsprozesses zur Marktwirtschaft überdurchschnittlichen Wachstumsraten beachtenswert, wobei jedoch die niedrige Ausgangsbasis zu berücksichtigen ist - so wird die Anfälligkeit und die Abhängigkeit der polnischen Wirtschaft von ihren ausländischen Investoren sowie Märkten in West und Ost bei deren ersten Abschwächungstendenzen sofort erkennbar.

Es zeigte sich, daß trotz einiger günstiger Produktionsfaktoren, insbesondere billiger Arbeitskräfte, ein selbsttragender Aufschwung nicht erreichbar war. Nach einer boomenden Kaufwelle zeichnet sich nunmehr - verstärkt durch Geldentwertung - eine Abschwächung der Inlandsnachfrage ab. Nach durchschnittlichen Zuwachsraten von vier bis fünf Prozent in den Vorjahren wird für das Jahr 2001 nur noch mit einer Wachstumsrate von real 1,5 Prozent gerechnet. Angesichts des deutlichen Abklingens der Weltkonjunktur (auch in der EU) wird sich dieser Rückgang in Polen fortsetzen. Inzwischen gehen nämlich nahezu 75 Prozent der polnischen Exporte in die EU-Länder, wenngleich der Export in die USA und nach Rußland in letzter Zeit stärker zugenommen hat. Aber auch dort hat sich das Wachstum spürbar vermindert.

Kommt jedoch der Export als Wachstumsmotor ins Stottern, läßt sich der für den EU-Beitritt erforderliche Aufholprozeß nicht termingemäß realisieren. Zudem wurde nicht nur in den Problembereichen Schwerindustrie und Landwirtschaft das Klassenziel verfehlt.

Gravierende Sorgen bereitet die Arbeitslosigkeit, die sich jetzt auf 17 Prozent erhöht hat. In einigen Regionen liegt sie bei über 30. Alles in allem kann der Beitrittskandidat der EU-Kommission Hiobsbotschaften präsentieren. Doch schon die Andeutung, daß Polen gegenüber den anderen Beitrittskandidaten, speziell Ungarn und der Tschechei, in Rückstand geraten sei und daher die Aufnahmeprüfung nicht bestanden habe, wird mit Entrüstung zurückgewiesen.

Der am 13. November 2001 veröffentlichte „Bericht über die Fortschritte Polens auf dem Weg zum Beitritt“ umfaßt 137 Seiten. Wer nun angesichts der neuerlichen ein- schneidenden Veränderungen in Politik und Wirtschaft Polens und der diesbezüglich gestellten Fragen substantielle Offenbarungen der EU-Kommission über die Beitrittsreife Polens erwartet hatte, sieht sich mit einem in Form und Inhalt typischen Bürokraten-Traktat bedient. Welche konkreten Informationen bieten zum Beispiel Gemeinplätze im Kapitel „Schlußfolgerungen“ wie „Polen ist eine funktionierende Marktwirtschaft. Sofern die derzeitigen Reformanstrengungen unter kohärenten politischen Rahmenbedingungen fortgesetzt und intensiviert werden, dürfte Polen in der Lage sein, dem Wettbewerb und den Marktkräften in der Union in absehbarer Zeit standzuhalten“?

Eine Vielzahl von Empfehlungen zur Umsetzung von EU-Vorschriften sowie Ermahnungen etwa zur Bekämpfung von Korruption und Mißverwendung von EG-Mitteln werden erteilt, ohne daß Konsequenzen für den Beitritt aufgezeigt werden. Zwar sind nichtmaterielle Fortschritte schwer meßbar, doch läßt die Schlußfolgerung der EU mit ihren vagen Formulierungen für den aufmerksamen Leser nur die Schlußfolgerung zu, daß Polen sich bei seinen Hausaufgaben zwar bemüht, aber das Klasseziel in fast allen Fächern bei weitem nicht erreicht hat und mit großer Wahrscheinlichkeit bis zum geplanten Beitrittstermin 2004 auch nicht erreichen wird.

Bis Ende 2002 sollen die Verhandlungen mit der ersten Beitrittsgruppe von zehn Ländern abgeschlossen sein. Wie sich herausstellt, konnten in den Verhandlungen mit Polen erst 16 der 31 Kapitel abgeschlossen werden, mit Ungarn 22 und der Tschechei 21. Auf diesen Rückstand angesprochen, antwortete Staatspräsident Kwasniewski selbstbewußt: „Wir Polen verhandeln in einigen Bereichen länger. Das ist eine Frage von Strategie und Taktik, nicht von Unvermögen.“

Nun ließe sich beliebig lange weiterverhandeln, wäre da nicht der Zugzwang für beide Seiten. Zwar fordert die EU-Kommission die Einhaltung der von ihr bestimmten Kriterien, doch versuchen die Polen mit Eifer und Hartnäckigkeit, eine ganze Reihe von Ausnahmeregelungen durchzusetzen. Auf diesem Gebiet ist Polen unbestritten Tabellenführer der EU-Kandidaten. Dazu Kwasniewski beschönigend: „Beim Beitritt in die EU geht es nicht um Gewinner und Verlierer, sondern um Kompromisse.“ Ein solcher Standpunkt mag als pragmatisch gelten, doch stellt die von Polen gewünschte Vorzugsbehandlung sowohl nach Zahl als auch nach Umfang eine nicht vertretbare Durchbrechung der Gleichbehandlung der Kandidaten als auch der EG-Grundsätze dar.

Die Aufrichtigkeit geböte beiden Seiten das Bekenntnis, daß Polen noch nicht beitrittsreif ist. Eine derartige Erklärung ist aber mit Sicherheit nicht zu erwarten. Wie im Fall des Beitritts der „Südländer“ Spanien, Portugal, Griechenland und der Tolerierung anderer Regelwidrigkeiten ist anzunehmen, daß die EU wiederum faule Kompromisse eingehen wird. Im Grunde geht es in der Gemeinschaft nur um Geld - oder besser gesagt, um mehr Geld, und da sind die Deutschen als mit Abstand größter Netto-Beitragszahler gefordert. Was kümmern die Iberer schon die von Polen noch nicht erreichten EU-Standards bei den Reformen des Rechts-, Steuer- und Gesundheitswesens sowie die politischen Kriterien wie Umwelt- und Minderheitenschutz, Bildung und Ausbildung. Sie, die anderen Netto-Empfänger, sind lediglich an der Erhaltung ihres Besitzstandes, nämlich der Aufrechterhaltung der ihnen zufließenden Subsidien interessiert.

Nach verbreiteter Meinung liege es vor allem im Interesse der Deutschen, die von den Ost-Staaten benötigten Agrarzuschüsse, Struktur- und Regionalfonds zu finanzieren, da sie angeblich am meisten von der Erweiterung der EG profitieren würden. Daß Deutschland und der Nettozahler Österreich den Hauptstrom des in Wartestellung befindlichen Arbeitslosenheeres Osteuropas zu verkraften hätten, wird mit dem Einwand zu entkräften versucht, daß die deutsche Industrie ja weitere Zuwanderung befürworte. Auch Präsident Kwasniewski betrachtet die von Polen geforderte sofortige Freizügigkeit des Arbeitsmarktes unter diesem Aspekt, indem er in einem „Spiegel“-Interview darauf hinweist. „Die halbe Million Polen, die (bereits) in Deutschland arbeiten, stützt doch dort die Ökonomie.“

Die Anzeichen deuten deshalb darauf hin, daß die EU-Kommission ihre Verhandlungen mit dem Beitrittskandidaten Polen plangerecht und in der üblichen Terminologie „erfolgreich“, aber ohne Rücksicht auf Verluste abschließen wird. Bedenken über die Finanzierbarkeit des durch einen zu frühen Beitritt notwendigen Mittelbedarfs für die weiterhin notwendigen Restrukturierungsmaßnahmen in Industrie und Landwirtschaft sowie des Ausbaus der unterentwickelten Infrastruktur werden von der EU-Kommission unter Hinweis auf den bereits bis zum Jahr 2006 beschlossenen Haushalt der Gemeinschaft abgewehrt.

Zu beachten ist dabei: Die Amtsdauer der derzeitigen Kommission endet im Jahr 2005. Nur notorische Lästerer könnten ihr den Standpunkt unterstellen: Nach mir die Sintflut.

Noch hält der Export die polnische Wirtschaft halbwegs über Wasser: Die ehemalige Stahlfabrik Beuchelt in Grünberg (Niederschlesien). Hier läßt die Deutsche Bahn 200 Güterwaggons fertigen. Foto: dpa